Читать книгу Genesis III - Alfred Broi - Страница 6
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Melia konnte nicht schlafen.
Obwohl sie körperlich ziemlich erschöpft war und es in der großen Höhle, in die sich die Menschen nach der Flucht von Adi Banthu zurückgezogen hatten, sehr still war, fand sie nicht die nötige Ruhe, um in den Schlaf zu sinken.
Die Gründe hierfür waren auf der einen Seite natürlich sehr einfach, denn das Erlebte in den letzten beiden Tagen war sicherlich für jeden Menschen eine absolut schreckliche Erfahrung, die der Verstand zu diesem Zeitpunkt gerade einmal im Ansatz begreifen, sicher aber noch lange nicht ernsthaft verarbeiten konnte.
Bei Melia kam noch hinzu, dass sie sich an eine Zeit oder besser ein Leben vor dem Angriff der Fremden nicht mehr erinnern konnte. Es gab nur einige wenige Szenen, die wie Flashlights in ihr Gehirn zuckten und ihr Dinge und auch Menschen zeigten, die sie nicht - oder besser - nicht mehr kannte. Dann folgte eine kurze Phase mit Erlebnissen, die wie durch einen milchigen Schleier zu sehen waren und Ara Bandiks Straßen in Schutt und Asche zeigten und mit dem Blick von einem Schiff auf das unfassbare Schlachtfeld einer einstmals prachtvollen Stadt endeten.
Erste richtige, klare Erinnerungen hatte sie dann erst wieder, als sie auf dem Schiff mitten auf dem galpagischen Meer erwachte.
Seither versuchte sie das, was um sie herum geschah, zu verstehen und sich nicht davon überrollen zu lassen und gleichzeitig, sich an mehr aus ihrer Vergangenheit zu erinnern, was ihr aber ausnahmslos schon nach wenigen Momenten irrsinnige Kopfschmerzen verursachte.
Ein Mann hatte ihr dabei sehr geholfen, nicht völlig hilf- und haltlos durch die Gegend zu laufen. Sein Name war Nimas. Er war einige Jahre jünger als Melia. Als Mitglied einer Rettungstruppe hatte er sie und andere in den Straßen nahe dem Stadion in Ara Bandiks aufgelesen und zum Hafen gebracht. Da er gesehen hatte, wie schlecht es ihr ging, hatte er letztlich beschlossen, sie auf ihrer Reise zu begleiten.
Und er hatte sich wirklich rührend um sie bemüht, sie aufgebaut, sie versorgt und sie beschützt.
Ohne ihn, da war sich Melia sicher, wäre sie jetzt nicht mehr am Leben und sie war ihm unendlich dankbar für alles, was er für sie getan hatte.
Dass er jetzt tief schlafend dicht neben ihr lag und seinen rechten Arm über ihre Hüfte gelegt hatte, hatte jedoch noch einen anderen Grund und es war auch dieser, der Melias Gedanken nicht zur Ruhe kommen ließ und ihr den notwendigen Schlaf verweigerte.
Denn sie hatte vor wenigen Stunden erst mit Nimas Geschlechtsverkehr gehabt.
Es war, als sie ebenfalls nicht recht schlafen konnte und deshalb die Einsamkeit in der kleinen Grotte im hinteren Teil der Höhle gesucht hatte. Dort, wo der unterirdische See war. Da sie glaubte, vollkommen allein zu sein, weil alle anderen schliefen, hatte sie ihre Kleider abgelegt und war schwimmen gegangen.
Nach ein paar Momenten, in denen sie ihren Kopf tatsächlich von allen schlimmen und quälenden Gedanken befreien konnte und sich nur auf die Stille um sie herum und die kalte Reinheit des Wassers konzentrierte, musste sie feststellen, dass Nimas ihr offensichtlich gefolgt war.
Und nicht nur das: Als sie ihn erkannte, hatte auch er sich bereits entkleidet und stand am Ufer nackt vor ihr. Mit einem breiten Grinsen und einem Funkeln in den Augen machte er sich über ihren sichtlichen Schock lustig und blieb eine ganze Zeit, wo er war, sodass Melia seinen muskulösen, gut trainierten und wirklich attraktiven Körper deutlich sehen konnte.
Dann erst ging er ebenfalls ins Wasser, schwamm zu ihr und machte von der ersten Sekunde an keinen Hehl daraus, dass er nicht nur zur Abkühlung hierhergekommen war.
Anfangs war sich Melia absolut nicht sicher, ob sie seinem direkten, aber dennoch höflichen und niemals fordernden Werben nachgeben sollte und so verbrachten sie einige Zeit im See, wo sie sich locker unterhielten und Nimas einige Späße mit ihr trieb, die in erster Linie darauf ausgelegt waren, Körperkontakt zu ihr zu erlangen.
Melia ließ ihn gewähren, obwohl etwas in ihr sagte, sie sollte es nicht tun. Doch eine andere Stimme dort war lauter und die sagte ihr, dass sie Nimas wirklich sehr viel zu verdanken hatte und sie ihn deshalb nicht von sich weisen durfte.
Außerdem – und da war sie wirklich ehrlich – fühlte sich sein Körper gut an und auch seine Hände auf ihrem Körper empfand sie als nicht unangenehm.
Also kam es, wie es kommen musste. Sie verließen den See und suchten sich ein verborgenes Plätzchen hinter einem großen Felsbrocken im hinteren Teil der Grotte. Nimas verlor wirklich keine Zeit und begann sofort, ihren Körper zu streicheln und mit seinen Lippen zu liebkosen. An den entscheidenden Stellen nahm er seine Zunge zur Hilfe.
Melias Zweifel waren zwar noch immer da, doch erkannte sie sehr schnell, dass Nimas seine Sache sehr gut machte und ihre Erregung stieg.
Schließlich schob er seinen Unterleib zwischen ihre Beine und drang in sie ein. Eine ganze Zeit lang nahm er sie in dieser Position, bevor er sie zu sich zog, sich selbst hinsetzte und sie sich schließlich auf ihm zu bewegen begann.
Das gefiel Nimas offensichtlich ganz besonders, denn sein Stöhnen wurde deutlich lauter, bis er schließlich nach einiger Zeit einen ziemlich wuchtigen Orgasmus hatte.
Mit einem zufriedenen Grinsen schob er Melia wieder von sich und sie legten sich nebeneinander, um sich auszuruhen.
Später schien es ihr, als würde Nimas noch ein zweites Mal Sex haben wollen, doch sie reagierte frühzeitig und sagte, ihr wäre kalt, was auch stimmte, und sie wollte nach Chalek sehen.
Nimas willigte widerstrebend ein und sie kehrten zurück in die große Höhle.
Den ganzen Tag über hatte Melia dann genug Arbeit zu erledigen und wenig Gelegenheit, sich über das Erlebte Gedanken zu machen.
Doch jetzt, als alles langsam wieder ruhiger wurde, kamen ihre Eindrücke zurück.
Noch immer wusste sie nicht, ob sie das Richtige getan hatte, als sie Nimas Werben nachgegeben hatte. Aber es wäre gelogen, wenn sie sagen würde, dass der Sex mit ihm schlecht gewesen wäre, denn das war er nicht. Nimas war ein wirklich sehr guter Liebhaber gewesen, wusste was und wo er Dinge bei einer Frau tun musste, um sie zu erregen, was ihm letztlich ja auch gelungen war, wenn er Melia am Ende auch nicht zu einem eigenen Höhepunkt hatte bringen können.
Dennoch war es guter Sex gewesen, auch wenn sie sich an vergleichbare Erlebnisse ja leider nicht mehr erinnern konnte. Innerlich aber empfand sie es so.
Für Nimas jedenfalls war es guter Sex gewesen. Das hatte sie gehört, gespürt und er hatte es ihr letztlich auch bestätigt. Und auch kein Geheimnis daraus gemacht, dass er hoffte, nein, eigentlich schon eher davon ausging, dass es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde.
Auch das machte Melia jetzt zu schaffen, denn die gleiche Stimme, die ihr sagte, dass sie guten Sex gehabt hatte, sagte ihr auch, dass ein Geschlechtsakt etwas mit Liebe zu tun haben sollte.
Doch Liebe oder auch nur tiefere Gefühle hegte sie für Nimas nicht. Da waren Dankbarkeit, Sympathie und Freundschaft. Aber mehr…?
Sofort schalt sich Melia eine Närrin.
Was zum Teufel erwartete sie denn jetzt in diesen Tagen des Krieges? Es war einfach nicht die Zeit für Liebe. Überall starben unzählige Menschen durch schreckliche Henker und sie erwartete Gefühle zu empfinden, die sie wie ein warmer Sommerwind streichelten und ihr Herz gefangen nahmen?
Das war doch wohl dumm und außerdem sehr töricht.
Nimas hatte ihr das Leben gerettet. Ja, nichts Geringeres als genau das hatte er getan. Ohne ihn wäre sie längst schon tot, ein weiteres namenloses Opfer dieses schrecklichen Krieges.
Er hatte sie gerettet, beschützt und in Sicherheit gebracht. Dabei niemals an sich gedacht. Und er hatte offen und ehrlich gezeigt, dass er sie anziehend und attraktiv fand. Um sie geworben, direkt, aber ohne wirklich aufdringlich zu werden oder gar zu fordernd.
Und sie hatte ihm nachgegeben, freiwillig – und erregt.
Nein, Nimas hatte nichts falsch gemacht, ganz im Gegenteil.
Und der Grund, warum sie jetzt glaubte, keine tieferen Gefühle für ihn zu empfinden, war mit Sicherheit in den Geschehnissen des Krieges und ihrer eigenen Amnesie begründet.
Nein, sie sollte und würde bei ihm bleiben, denn hier fühlte sie sich sicher und beschützt. Die Liebe zu ihm war bestimmt schon da, nur lag sie noch in ihrem Inneren verborgen und musste sich erst langsam ihren Weg nach außen bahnen.
Sie musste halt einfach nur geduldig sein.
Melia fühlte sich jetzt, wo sie über dieses Thema nachgedacht hatte, etwas besser, doch an Schlaf war dennoch nicht zu denken.
Ganz im Gegensatz zu Nimas, der mit einem entspannten Gesichtsausdruck tief und ruhig atmete.
Melia lächelte ihn freudlos an, dann wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung, um nach Chalek zu schauen.
Der Junge, der ihr von dessen Vater am gestrigen Tage anvertraut worden war, hatte sein Lager direkt neben ihr. Doch sein Platz war leer!
Melia ließ ihren Blick schweifen, aber erst, als sie zum großen Feuer in der Mitte der Höhle sah, konnte sie die kleine, schmächtige Gestalt des Jungen mit seinen wirren, lockigen, hellbraunen Haaren erkennen.
Er saß auf einem der Holzstämme, die als Sitzbänke genutzt wurden und rund um die Feuerstelle platziert waren und schien mit irgendetwas beschäftigt zu sein, was Melia aus ihrer Position heraus nicht erkennen konnte.
Doch schon der Anblick des Kleinen brachte ihr ein ehrliches Lächeln auf die Lippen und sie beschloss, zu ihm zu gehen.
Langsam schob sie Nimas Arm von ihrem Bauch, was ihr ein tiefes Brummen einbrachte, weshalb sie für eine Sekunde innehielt, bevor sie sah, dass keine weitere Reaktion erfolgte. Dann erhob sie sich leise und ging in die Mitte der Höhle.
Chalek schien sie nicht zu bemerken, denn er drehte sich nicht zu ihr, als sie näherkam. Ganz offensichtlich war er in sein Tun vertieft.
Als Melia sich bis auf einen Meter herangekommen hatte, konnte sie auch endlich erkennen, was der Junge tat. In seinen Händen hatte er zwei flache, weiße Steine, etwa in der Größe seines Handtellers. Vor ihm auf dem Boden lag noch ein weiteres Dutzend davon. Auf der einen Seite hatte Chalek etwas mit einem schwarzen Stift aufgemalt. Gerade schob er ihn zurück in die Schutzkappe, die er zwischen den Zähnen festhielt und legte ihn sichtlich zufrieden beiseite.
Dann legte er die beiden Steine zu den anderen, kniete sich vor den Holzstamm und begann mit leisen Geräuschen zu spielen. Deutlich waren Schussgeräusche, Schreie und Explosionen zu hören.
Melia war sofort wieder fasziniert von dem Kleinen. Da sie ihn nicht stören wollte, setzte sie sich lautlos auf den Baumstamm und schaute ihm beim Spielen zu. Dabei erkannte sie, dass er tatsächlich auf die Steine Figuren und Bilder gemalt hatte, die sogar ziemlich gut aussahen. Da gab es Soldaten, Flugzeuge, Panzer, aber natürlich auch feindliche Jäger und zwei Exemplare der Bodentruppen.
Melia musste lächeln.
Und als ob Chalek genau das bemerkt hätte, drehte er sich unvermittelt zu ihr, schaute sie mit großen, freundlichen Augen an und hielt in seinem Spiel inne.
„Hallo Chalek!“ sagte sie leise. Der Kleine konnte auf ihren Lippen ihre Worte erkennen.
„Hallo Barie!“ gab er langsam in Zeichensprache zurück und Melia schaute aufmerksam hin. Sie hatte bereits viel über die Gebärdensprache von dem Kleinen gelernt. Sie gab sich stets allergrößte Mühe, ihm zu folgen und wenn er, so wie jetzt, langsam agierte, konnte sie ihn schon sehr gut verstehen. Sofort danach erhob er sich und umarmte sie herzlich. Dabei drückte er sie fest und mit erstaunlicher Kraft. Melia erwiderte seine Geste gern. Als er sich zurückbeugte, schaute er sie nochmals für eine Sekunde mit großen Augen an, dann gab er ihr einen feuchten Schmatzer auf die rechte Wange. Hiernach hatte er ein breites, fröhliches Grinsen auf den Lippen, das Melia einfach erwidern musste. Das Strahlen in den Augen des Jungen erwärmte ihr Herz jedes Mal innerhalb weniger Momente total und ließ sie ihre Probleme einfach vergessen.
„Störe ich?“ fragte Melia.
Chalek schüttelte vehement den Kopf.
„Was machst du da?“
Chalek drehte sich kurz zu seinen Steinen um, dann gab er zu verstehen. „Spielen!“
Melia nickte. „Und was?“
„Das, was ich gesehen habe!“
Melias Lächeln wurde ein wenig traurig. Natürlich musste auch der Junge das Erlebte verarbeiten und ein Spiel war dabei die beste Lösung. Also hatte er den Krieg auf seine Steine gemalt und agierte mit den Figuren so, wie es die Realität ihm gezeigt hatte. Sehr effektiv, aber doch auch sehr traurig.
„Darf ich mal sehen?“ fragte sie und deutete auf die Steine.
Chalek nickte sofort, beugte sich zu ihnen und gab ihr schließlich einen davon in ihre Hand.
Sofort sah sie, dass der Kleine ein echtes Talent hatte, was das Malen anging, denn schon auf den ersten Blick konnte sie erkennen, dass die Figur, die er da gezeichnet hatte, weit mehr war, als ein unförmiges Etwas aus ein paar wenigen Strichen. Ein beeindrucktes „Hey...!“ entfuhr ihr dann auch, aber es klang gerade so, als wenn man einem kleinen Kind auf überlegene Erwachsenenart schmeicheln wollte. Dann aber, als sie einen zweiten Blick auf das Bild warf, zuckte plötzlich ihr Kopf ein paar Zentimeter nach hinten und ihre Augen weiteten sich. „Wow!“ entfuhr es ihr beinahe schon perplex, denn jetzt erkannte sie, wie gut Chalek die Bestie der Bodentruppen wirklich getroffen hatte. Fast hätte sie damit gerechnet, das Vieh würde aus dem Stein herausspringen, derart genau und vor allem plastisch hatte er es gezeichnet. „Das sieht ja richtig toll aus, hör mal!“ Melia atmete einmal tief durch. „Hast du das wirklich ganz allein gemalt?“ fragte sie höflich.
Chalek nickte strahlend.
„Dann bist du ein echtes Talent, Chalek!“ Melia betrachtete noch einmal das Bild und nickte dann bestätigend. „Das Bild sieht täuschend echt aus!“
Chalek strahlte bis über beide Ohren, doch plötzlich verlor er sein Lächeln, er wirbelte auf den Absätzen herum, fischte in einer schnellen, flüssigen Bewegung mit der einen Hand einen weiteren Stein von einem kleinen Haufen, den Melia bisher noch gar nicht gesehen hatte und mit der Anderen den schwarzen Stift.
Sogleich setzte er sich auf den Baumstamm, etwa eine Armlänge von Melia entfernt, steckte den Stift in den Mund, zog ihn mit einem kurzen Ruck aus der Kappe und begann dann auf dem weißen Stein etwas zu malen, wobei er immer wieder zu Melia schaute. Sein Gesicht wirkte dabei äußerst professionell und fast nicht mehr, wie das eines Jungen von neun Jahren.
„Was machst du?“ fragte Melia, da sie sich nicht wirklich sicher war.
Chalek antwortete nicht. Er zog nur verschwörerisch die Augenbrauen hoch und grinste dabei.
„Malst du etwa mich?“
Chaleks Augen leuchteten und er konnte sich ein Nicken nicht verkneifen.
„Oh!“ Melia war gespielt überrascht und versteifte sich in ihrem Sitz. „Moment...!“ Sie drehte sich im Profil zu Chalek und reckte ihren Kopf nach vorn und oben. „Als Modell sitzt man doch etwa so, oder?“ Sie lächelte kurz, doch von Chalek kam keine Reaktion. Melia schielte in seine Richtung und sah, dass er angestrengt malte. „Geht das so? Sitze ich so richtig?“ Wieder erhielt sie keine Antwort. In den Augenwinkeln sah sie, dass Chalek sich nach vorn beugte. Sie wandte ihren Kopf in seine Richtung und musste erkennen, dass er offensichtlich bereits fertig war, denn er hielt ihr den Stein vor die Nase.
Etwas überrascht nahm sie ihn entgegen und betrachtete ihn. Und innerhalb eines Augenblicks war sie – ja – vollkommen sprachlos. Ein leiser, erstickter Schrei entfuhr ihr. Das Bild, das der Junge innerhalb von vielleicht zwei Minuten gemalt hatte, zeigte eindeutig ihr Gesicht und zwar in einer derartig verblüffenden Genauigkeit und Plastizität, dass ihr absolut die Spucke wegblieb. Und als wäre das noch nicht genug, hatte er in die rechte obere Ecke auch noch eine strahlende Sonne gemalt. Melia musste lächeln und war tief berührt. Die Sonne war ein Abbild ihres Namens Barie, den er ihr gegeben hatte, da sie sich an ihren richtigen Namen nicht mehr erinnern konnte. „Oh Chalek...!“ Sie schaute den Jungen lächelnd an und als sich auch auf seinem Gesicht ein wundervolles, zufriedenes Strahlen zeigte, kamen ihr beinahe die Tränen. „...das ist wirklich wundervoll geworden!“
„Barie!“ gab er ihr zu verstehen und deutete auf die Sonne.
„Ja...!“ Melia nickte tief berührt. „...die Sonne, ich weiß!“
„Du bist Barie!“
Melia wollte etwas erwidern, doch sie lächelte nur und freute sich etwas verschämt über dieses Kompliment. „Danke!“
„Ich hab dich lieb!“ gab der Junge zu verstehen und nickte.
„Oh, ich dich auch!“ Melia beugte sich nach vorn und umarmte Chalek fest und lange.
Als sie sich wieder trennten, schauten sie sich noch einige Momente direkt an, wobei Melia wieder lächeln musste.
„Du siehst sehr müde aus!“ gab der Junge unvermittelt zu verstehen.
„Ich kann aber nicht schlafen! Leider!“
„Dein Herz findet keine Ruhe!“
Melia war sofort wieder überrascht. „Was?“ Sie versuchte dabei zu lächeln, doch es wirkte gequält und unecht. „Wie kommst du darauf?“
„Ich sehe es in deinen Augen!“ antwortete Chalek mit ernster Miene. „Es ist wegen ihm!“ Er streckte seinen rechten Arm aus und deutete an ihr vorbei in Richtung Nimas, der noch immer schlief.
Melia folgte seinem Arm. „Aber das…!“ Sie drehte sich zurück zu dem Jungen und atmete einmal tief durch. „Das ist wahr!“ erwiderte sie matt.
„Du suchst ihn in deinem Herzen!“
Melia nickte.
„Aber da ist er nicht!“
„Woher weißt du das?“ Melia war schon wieder erstaunt.
„Weil...!“ Chalek stoppte ab, drehte sich um, nahm einen neuerlichen, weißen Stein von dem kleinen Haufen, zückte seinen Stift und begann emsig zu malen.
Melia schaute ihm fasziniert zu, wie schnell und doch absolut kontrolliert seine Hand über den Stein huschte. Dennoch wusste sie nicht recht, was er tat und daher war ihr Lächeln eher sehr unsicher.
Zwei Minuten später war der Junge fertig und er reichte ihr den Stein. „...er dort ist!“ vollendete Chalek seinen Satz.
Melia nahm ihn vorsichtig, wie, als wäre es etwas, von dem sie nicht wusste, ob es gut oder schlecht war und betrachtete das Bild, das Chalek darauf gemalt hatte.
Und wieder, doch dieses Mal noch viel überraschter, stieß Melia einen Schrei aus, der lauter war, als sie es beabsichtigt hatte, denn auf dem Stein konnte sie das Bildnis eines Mannes erkennen. Ein Mann mit feinen, aber markanten Gesichtszügen, kurzen Haaren und einer auffälligen, sofort anziehenden Augenpartie. Ein sehr attraktiver Mann – den Melia eigentlich nur zu gut kannte! Es war Mavis...doch ihre Erinnerungen an ihn, blieben ihr nach wie vor verschlossen.
Es war das Gesicht des Mannes, den sie schon einige Male in ihren Träumen gesehen hatte. Immer nur für Sekundenbruchteile, immer nur leicht verzerrt oder durch einen Schleier. Und doch gab es keinen Zweifel: Die Person auf dem Stein war genau dieser Mann!
„Wer...ist das?“ fragte Melia unsicher.
„Ich weiß nicht!“ erwiderte Chalek.
„Aber...?“ Melia zog die Augenbrauen zusammen. „Woher kennst du ihn dann?“
Chalek schaute sie einen Moment stumm an, dann lächelte er kurz, holte seinen Stift wieder hervor und hob ihn an. Langsam führte er ihn auf Melia zu, die ihn gespannt verfolgte. Sanft tippte er ihn oberhalb ihrer linken Brust auf ihren Körper, verharrte dort einen Moment und zog ihn dann langsam wieder zu sich.
Einen Wimpernschlag später erstarrte Melia erschrocken, denn was sie sah, konnte sie kaum glauben. An der Spitze des Stiftes schien eine silbrig schimmernde, halb durchsichtige Flüssigkeit zu kleben, die wie ein zu großer Regentropfen an ihm haftete, aber deutlich zähflüssiger war. Bevor Melia etwas sagen konnte, wechselte Chalek den Stift von seiner rechten in die linke Hand, griff nach der Kelle in einem bei ihnen stehenden Wassereimer und schüttete ihren Inhalt sanft in eine kleine Vertiefung im felsigen Boden, sodass eine dauerhafte Pfütze in der Größe eines Tellers entstand.
Dann legte er die Kelle beiseite, führte den Stift über die Pfütze und ließ den Tropfen daran langsam dort hineinfließen. Das Wasser nahm die Flüssigkeit scheinbar vollständig auf und begann schließlich selbst silbrig zu schimmern. Dann kräuselte sich die Wasseroberfläche kurz, als hätte sie eine Erschütterung in Bewegung versetzt und als sie sich wieder beruhigte, war deutlich Mavis Gesicht auf ihr zu erkennen. Halb durchsichtig, aber dennoch klar und sehr real.
„Daher!“ gab Chalek als Antwort auf ihre Frage vor wenigen Momenten zu verstehen und schaute sie mit großen Augen und einem fröhlichen Lächeln an.
„Aber...!“ Melia riss ihre Hände vor den Mund, weil sie spürte, dass sich ein erneuter Aufschrei in ihrer Kehle formte. „Ich...!“ Sie war den Tränen nahe. Sie kannte diesen Mann. Er musste aus ihrer Vergangenheit stammen. Und er musste ihr etwas bedeutet haben, denn sie spürte, wie sich ihr Herzschlag erhöhte. Beinahe hilflos schaute sie zu Chalek, doch der lächelte nur. Nein, der Junge wusste nicht, wer dieser Mann war. Es schien wohl wirklich so, dass er sein Gesicht direkt aus ihrem Herzen gezogen und es in der Pfütze sichtbar gemacht hatte.
Melia war unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Wie nur war Chalek in der Lage, etwas Derartiges zu tun? Es kam ihr ja fast vor wie wundersame Zauberei. Nein, das war eindeutig Zauberei. Aber noch viel wichtiger war: Wer war dieser Mann?
Sie spürte eine Unruhe in sich aufkommen, diese Frage verlangte jetzt sofort nach einer Antwort und die Gewissheit, dass Chalek sie ihr nicht geben konnte, machte sie noch nervöser.
„Barie?“ Nimas rief ihren Namen klar und deutlich und er kam bereits auf sie zu.
Chalek bemerkte ihn als erster und sein Lächeln verschwand sofort.
Das wiederum erkannte Melia und als Nimas sie ein zweites Mal rief, kam sie zurück in die Wirklichkeit. Ihr Körper spannte sich an, ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.
Nimas! schoss es ihr in den Kopf und deutliche Nervosität zeigte sich an ihr.
Sie wollte nicht, dass er sah, was sie gerade sah und wollte es Chalek sagen, doch der Junge hatte schon blitzschnell reagiert. Während er mit dem Stift in seiner rechten Hand auf die Wasseroberfläche tippte und Mavis Bild sich wieder in einen silbrigen Tropfen verwandelte, den er mit dem Stift in die Höhe zog, nahm er ihr mit der linken Hand den Stein aus der Hand.
Melia ließ ihn gewähren und schaute ihn dankbar an.
„Barie!“ Nimas war jetzt bis auf drei Meter herangekommen.
Melia atmete kurz tief durch, dann setzte sie ein Lächeln auf, drehte sich zu ihm, während sie sich erhob und ging auf ihn zu. Dass Chalek den silbrigen Tropfen von der Spitzte des Stiftes auf den Stein fallen ließ, wo er ihn zunächst umhüllte und dann quasi darin versickerte, bekam sie so nicht mehr mit.
„Nimas!“ begrüßte Melia den jungen Mann freundlich. Er trat zu ihr, nahm ihre Hände in die seinen und küsste sie auf den Mund. Melia ließ es geschehen.
„Was tust du hier?“ fragte er sofort und sah zu Chalek, wobei sein Lächeln verschwand.
„Ich konnte nicht schlafen!“ erwiderte sie sofort. „Chalek auch nicht!“
„Das sehe ich!“ Nimas Blick auf den Jungen, der ihn geradeheraus erwiderte, blieb ernst.
„Wir haben uns unterhalten!“ meinte Melia. „Ich muss noch viel üben, um die Gebärdensprache zu verstehen!“
Nimas nickte zögerlich. „Ja, aber nicht mehr jetzt! Komm zurück zu mir!“ Er warf dem Jungen noch einen ernsten Blick zu, dann schaute er hinab zu Melia. Plötzlich grinste er breit. „Wenn du noch nicht müde bist, hätte ich eine Idee, was wir tun könnten. Da kannst du dich vollkommen verausgaben und bist am Ende bestimmt erschöpft genug für eine ordentliche Runde Schlaf!“
Melia versuchte ein Lächeln, aber es blieb etwas gequält. „Nein, ich glaube mittlerweile überkommt mich doch die Müdigkeit!“ Sie gähnte demonstrativ.
„Na gut!“ raunte Nimas sichtlich nicht begeistert. „Aber dann komm jetzt auch zu mir. Wir können ja Löffelchen machen!“
Melia nickte. „Ja, klar! Gib mir noch einen Moment. Ich möchte den Jungen davon überzeugen, dass er auch schlafen geht!“
„Er ist nicht dein Sohn!“ raunte Nimas sofort.
„Nein!“ erwiderte Melia und ihr Lächeln verschwand. „Aber sein Vater hat ihn in meine Obhut gegeben!“ Ihre Stimme klang ernst und bestimmt. „Ich bin für ihn verantwortlich!“
„Na, meinetwegen!“ brummte Nimas. „Aber wirklich nur noch kurz!“
Melia nickte und lächelte wieder. „Natürlich!“
Nimas beugte sich nochmals zu ihr herab und küsste sie auf den Mund. Dabei legte er seine rechte Hand seitlich so an ihren Oberkörper, dass er mit dem Daumen über ihre Brust streichen konnte.
Melia wollte das nicht, doch bevor sie ihn von sich drücken konnte, ließ er von selbst von ihr ab, drehte sich um und ging zurück zu ihrem Schlafplatz.
Melia schaute ihm noch einen Moment in einer Mischung aus Erleichterung und Verärgerung hinterher, dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu.
„Danke, dass du so schnell reagiert hast!“ sagte sie sofort.
Chalek nickte, blieb aber ernst.
„Und danke, dass du mir all das gezeigt hast!“ Sie lächelte ihm zu und wollte ihm einen Kuss auf die Stirn geben, als er plötzlich seinen rechten Zeigefinger hob, zum Zeichen, dass sie aufpassen sollte.
Er zeigte ihr den Stein mit Mavis Bild in seiner linken Hand, dann tippte er mit dem Stift in seiner rechten Hand kurz darauf, hob ihn zwei Zentimeter an, verharrte so und blickte Melia fragend an.
Als sie sehen konnte, dass sich an der Spitzte des Stiftes wieder der silbrige Tropfen bildete, nickte sie.
Daraufhin ließ Chalek ihn wieder vollständig in den Stein sickern und legte den Stift beiseite. Als nächstes tauchte er seine rechte Hand in den Wassereimer. Bevor Melia fragen konnte, was er damit vorhatte, hatte er sie auf den Stein gelegt und Mavis Bild damit weggewischt.
Melia schrie leise, aber überaus entsetzt auf, was sie sofort zusammenfahren ließ. Sie drehte sich herum und schaute nochmals zu Nimas, doch der hatte ihr Lager gerade erreicht und sie offensichtlich nicht gehört. Deshalb drehte sie sich wieder zu Chalek. „Warum hast du das getan?“ fragte sie und in ihrem Gesicht zeigte sich echter Schmerz.
Doch Chalek schaute sie nur mit großen Augen an. Dann huschte ein breites Grinsen über seine Lippen, als er den Stein, der jetzt kein Bild mehr zeigte, langsam in die Pfütze hineingleiten ließ. Nur eine Sekunde später zeigte sich wieder das silbrige Licht, die Wasseroberfläche kräuselte sich und dann erschien erneut Mavis Bild auf ihr.
Melia begann zu strahlen und war erneut fasziniert, sowohl von der Prozedur, als auch von Mavis Anblick.
„Okay?“ fragte Chalek nach ein paar Momenten.
Melia nickte. „Okay!“
Der Junge nahm den Stein wieder aus der Pfütze, woraufhin Mavis Bild natürlich verschwand und reichte ihn ihr.
Melia nahm ihn vorsichtig in ihre Hände und betrachtete ihn wie einen Edelstein. Dann zog sie ihn kurz an ihre Brust, schloss die Augen, atmete einmal tief durch und begann zu lächeln. „Danke!“ Sie blickte Chalek direkt und dankbar an, schloss ihn ganz fest in ihre Arme und gab ihm am Ende einen Kuss auf die Stirn.
Chalek lächelte ebenfalls glücklich.
Melia verstaute den Stein in ihrer linken Hosentasche. „Ich muss jetzt gehen!“ sagte sie.
Der Junge nickte etwas traurig.
Da Melia nicht wusste, was sie noch sagen sollte, drehte sie sich lächelnd um und ging zu Nimas.
Als sie ihn erreicht hatte, stoppte sie nochmals ab und wandte sich wieder zu Chalek um.
Der Junge hatte sich wieder in sein Spiel vertieft, so als wäre nie etwas vorgefallen.
Plötzlich überkam Melia eine tiefe Angst, dass sie all das nur geräumt haben mochte. Instinktiv fasste sie an ihre Hosentasche, doch als sie den Stein dort spüren konnte, entspannte sie sich wieder.
Dennoch konnte sie noch immer nicht recht begreifen, was wirklich geschehen war.
Aber ein tiefes Gefühl der Zuneigung für diesen Jungen überkam sie und zauberte ein breites, fröhliches Lächeln auf ihre Lippen und ließ ihre Augen erstrahlen.
Dennoch musste sie im selben Moment auch den Kopf schütteln, denn was Chalek getan hatte, war doch einfach auch nur verrückt.
Aber Melia war jetzt in der Tat doch zu müde geworden, um sich noch zu fragen, wie er all das getan hatte und ob er vielleicht noch mehr Geheimnisse, als dieses, in sich barg.
Mit einem Gähnen legte sie sich neben Nimas auf die Decke. Dass er seitlich an sie heran robbte und sich an sie schmiegte, registrierte sie nur wie aus weiter Ferne.
Ihre Gedanken umschlossen sie und umgaben sie wie sanftes Meeresrauschen. Sehr schnell schlief sie ein.
Und dieses Mal hatte sie einen schönen Traum – von dem weißen Stein und seinem wundervollen Geheimnis...