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VI

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Melia nahm die Berührung an ihrem linken Oberarm nur im Unterbewusstsein wahr und hätte sie am liebsten wieder vollständig verdrängt, denn der Traum, den sie durchlebte, war wunderbar angenehm.

Nach dem dritten Stupsen jedoch konnte sie es nicht mehr ignorieren und ihr Verstand erwachte allmählich.

Im ersten Moment dachte sie, es wäre Chalek, der noch immer nicht schlafen konnte und ihr etwas mitteilen wollte, doch da ihr Kopf nach links gedreht war, konnte sie das Lager des Jungen sofort, nachdem sie ihre Augen zum ersten Mal kurz geöffnet hatte, sehen und erkannte ihn schlafend in eine Decke gehüllt.

Dann spürte sie mit einem Mal eine Hand auf ihrer linken Brust und war sicher, Nimas wäre für diese höchst unpassende und unangenehme Störung verantwortlich. Ihr Verdacht erhärtete sich, als ihre Sinne weiter erwachten. Denn sie konnte ihn jetzt nicht nur spüren, sondern auch erkennen, dass er seinen rechten Arm unter ihr T-Shirt geschoben und seine Hand auf ihre linke Brust gelegt hatte.

Melia war sofort verärgert. Zum einen, weil Nimas dies ohne ihre Erlaubnis getan und sich dadurch offensichtlich derart aufgegeilt hatte, dass er sie jetzt wecken musste, um seine Lust an ihr zu befriedigen, zum anderen, dass sie seine Unverschämtheit nicht bemerkt, sondern sich ihrem Traum hingegeben hatte.

In der nächsten Sekunde aber war sie verwirrt, denn Nimas schlief neben ihr tief und fest und rührte sich nicht.

Plötzlich spürte sie erneut eine Berührung an ihrem Arm und als sie jetzt genauer hinschaute, konnte sie über sich eine Gestalt erkennen. Es war ein Mann in schwarzer Kleidung. Er kniete neben ihr. Sein Blick war ernst und direkt auf sie gerichtet.

Nachdem sich ihre Augen endlich an das Halbdunkel innerhalb der Höhle gewöhnt hatten, erkannte Melia ihn als den Priester, der Chaleks Vater am gestrigen Tage hier aufgesucht, mit dem er ein offenes und kontroverses Gespräch geführt und schließlich zusammen mit ihm das Lager verlassen hatte.

Beim Anblick seines ernsten Gesichtsausdrucks überkam sie sogleich ein ungutes Gefühl. Sie richtete sich halb auf, indem sie sich auf ihren linken Unterarm stützte und wollte etwas sagen, doch der Priester legte seinen rechten Zeigefinger auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich und deutete ihr an, ihm zu folgen.

Melia schob sich weiter in die Höhe, als sie wieder Nimas Arm spürte. Genervt zog sie ihn unter ihrem T-Shirt hervor und legte ihn neben sich. Dabei blickte sie den Priester an und obwohl keinerlei Reaktion von ihm kam, war ihr die ganze Sache doch peinlich.

Nachdem sie sich von ihm befreit hatte, erhob sie sich und richtete ihr T-Shirt, während sie zufrieden feststellte, dass weder Nimas noch Chalek erwacht waren.

Der Priester drehte sich wortlos um und ging in Richtung Lagerfeuer in der Mitte der Höhle. Melia folgte ihm.

Was sie nicht mehr sehen konnte, war, dass der Junge am Ende doch seine Augen aufschlug und ihr ausdruckslos hinterherschaute.

Der Priester hielt einige Meter Abstand zu der großen Feuerstelle in der Mitte der Höhle, wo etwa ein Dutzend Männer und Frauen in kleinen Gruppen zusammensaßen und sich leise unterhielten oder einfach nur gedankenversunken in die wärmende Glut schauten. Dann stoppte er ab und drehte sich herum zu Melia, die ihn ein paar Sekunden später erreichte.

Im Lichtschein des Feuers konnte sie den Mann jetzt zum ersten Mal wirklich richtig erkennen und sie war doch sehr überrascht, dass er noch sehr jung schien. Sie schätzte ihn kaum älter, als sie selbst war. Das nächste, was ihr auffiel, war sein schmutziges Gesicht, in dem sich teilweise blutige, aber bereits angetrocknete Striemen zeigten. Auch auf seinem schwarzen Anzug konnte Melia Schmutz und Blut erkennen. Obwohl der Priester auf den ersten Blick ziemlich mitgenommen aussah, konnte Melia feine, ebenmäßige Gesichtszüge und ein dennoch gepflegtes Äußeres feststellen. Kurze blonde Haare und auffallend hellgrüne Augen ließen ihn auf sie attraktiv wirken, obwohl ihr dieser Ausdruck in Zusammenhang mit einem Geistlichen, doch eher unpassend erschien.

Als er Melia wieder direkt anblickte, konnte sie deutlich seinen gehetzten Gesichtsausdruck erkennen, den er jedoch mit einem gequälten Lächeln zu verbergen versuchte.

Melia hatte sofort so etwas wie Mitleid mit ihm.

„Danke, dass ich sie wecken durfte!“ begann der Priester nervös und nickte ihr zu.

„Kein Problem!“ erwiderte Melia, doch blieb sie ernst und vorsichtig, da ihre innere Stimme noch immer mahnte. „Was ist passiert?“

Das Gesicht des Mannes verhärtete sich für eine Sekunde. „Das Schlimmste!“

„Chaleks Vater ist tot!“ Das war keine Frage von Melia.

Der Priester nickte betroffen.

Melias Gesichtsausdruck zeigte sofort tiefe Bestürzung, dann sog sie die Luft hörbar in ihre Lungen, während sie sich zu ihrem Lager herumdrehte und den schlafenden Körper des Jungen betrachtete. Tiefe Trauer befiehl sie und großes Mitleid.

„Wir müssen dringend reden!“ warf der Priester plötzlich ein und seine Stimme klang drängend.

Melia betrachtete den Jungen noch einige Momente stumm, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten, dann atmete sie einmal tief durch, wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht und drehte sich zurück zu dem Mann. Dann nickte sie. „Erst aber möchte ich wissen, wer sie sind?“

„Ich...!“ Der Priester schien ein wenig überrascht. „...bin Pater Jorivo. Ich komme aus Guavit!“

„Warum waren sie gestern schon hier? Und warum haben sie den alten Chalek mitgenommen?“

Pater Jorivo schien wieder überrascht und schüttelte den Kopf. „Ich war hier, um den Brief, den sein Vater...!“ Er deutete mit dem Kopf auf den schlafenden Jungen. „...geschrieben hatte, in Empfang zu nehmen und weiterzuleiten!“

„An wen?“

„An...Tarista Alamari. Er ist der oberste Geistliche Tibuns und Vorsteher des Klosters von Kusatis, etwa...!“

„...dreißig Meilen südlich von Porista!“ beendete Melia den Satz und nickte.

„Ja, aber woher...?“ fragte Jorivo sofort überrascht.

„Er hat es mir gesagt, als er mich bat, auf den Jungen aufzupassen!“

Jorivo nickte.

„Wenn sie den Brief nehmen sollten, den er geschrieben hatte, warum ist er dann doch selbst gegangen?“

„Der Brief enthielt ungeheuer wichtige Informationen, die ich dem Tarista überbringen sollte. Doch wie all seine Vorgänger auch steht er den alten, geächteten Glaubenslehren abweisend gegenüber, deshalb hielt ich es für besser, der alte Chalek würde mich zu begleiten, falls seine geschriebenen Worte nicht das nötige Gehör finden sollten!“

„Geächtete Glaubenslehren?“ Melia war sichtlich verwirrt und schüttelte den Kopf. „Was soll das bedeuten?“

„Das ist ziemlich kompliziert zu erklären!“ erwiderte Jorivo sofort. „Sagen wir einfach, es gibt schon seit Urzeiten unterschiedliche Ansichten über verschiedene Vorkommnisse in der Planetengeschichte!“

Melia nickte, jedoch wenig überzeugt. „Und um was genau ging es in diesem Brief?“

„Es ging um die Zukunft des Jungen!“ Der Pater schaute wieder zu der Schlafnische hinüber.

„Sein Vater wollte ihn in den Schutz der Kirche stellen!?“

Jorivo nickte, jedoch zögerlich. „Ja. Der Junge ist etwas ganz Besonderes!“

Melia lachte leise auf und nickte zustimmend. „Oh ja, das ist er!“ Ihre Stimme klang tief gerührt. Sofort erinnerte sie sich an den weißen Stein, den er ihr vor wenigen Stunden gegeben hatte und tastete danach.

Jorivo lächelte wissend, doch schüttelte er den Kopf. „Er ist weit außergewöhnlicher, als sie es sich...als wir alle es uns vorstellen können! Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, dass er beschützt wird!“

Melia schaute den Priester einen Moment stumm an. „Wie ist sein Vater gestorben?“

„Wir hatten das Kloster von Kusatis fast erreicht, als eine furchtbare Armee von widerlichen Bestien aus Westen kommend in die Ebene stürmte und alles und jeden tötete, der sich ihr in den Weg stellte. Sie haben die Mauern des Klosters einfach überrannt und es vollkommen zerstört. Chalek und ich versuchten, uns einen Weg aus dieser Hölle zu bahnen. Doch in dem Moment, da die Rettungsfähre vor unseren Augen zu Boden sank, wurden diese Ausgeburten der Finsternis auf uns aufmerksam. Zwar gelang es uns, noch an Bord zu kommen, doch Chalek hatte zu diesem Zeitpunkt bereits tödliche Verletzungen erlitten!“ Jorivos Stimme wurde schwächer und sehr traurig. Den Schmerz, den er empfand, konnte man ihm deutlich ansehen.

„Wir müssen es dem Jungen sagen!“ meinte Melia schließlich nach ein paar Momenten der Stille.

Jorivo nickte. „Natürlich müssen wir das. Aber ich möchte erst geklärt haben, wie es mit ihm weitergeht!“

„Was soll das heißen?“ fragte Melia, doch an ihrem Tonfall konnte man bereits erkennen, dass sie es schon selber wusste.

„Chalek ist in meinen Armen gestorben!“ begann der Priester. „Ihm war klar, dass es mit der Zerstörung des Klosters keine Chance auf Zuflucht für seinen Sohn mehr geben würde. Seine letzten Worte galten daher dem Menschen, dem er am meisten vertraute...!“

„Wem?“ Melia schien ihn nicht recht verstanden zu haben und war etwas verwirrt.

Jorivo schaute sie direkt an. „Ihnen!“

Mir?“ Melia war sichtlich erstaunt.

Der Pater nickte. „Er hat mir erzählt, wie schnell und wie stark Chalek Vertrauen zu ihnen gefasst hat. Niemals zuvor war das geschehen. Doch sein Vater wusste, warum das so war. Chalek hat die Gabe, in uns hinein zu schauen. Und in ihnen muss er etwas ganz Besonderes gefunden haben, sodass auch sie etwas ganz Besonderes sind. Mit dem Tod vor Augen, erkannte sein Vater dann auch den Grund dafür...!“ Jorivo schaute Melia wieder direkt an, die an seinen Worten förmlich klebte. „Ihre Begegnung mit Chalek geschah nicht zufällig, sie war vorherbestimmt!“

„Und...zu welchem Zweck?“

„An die Stelle des Vaters zu treten und den Jungen in ihre Obhut zu nehmen!“

„Aber...?“ Melia schüttelte den Kopf. „Das ist doch wohl selbstverständlich. Ich werde dem Jungen sagen, was geschehen ist und ich werde mich natürlich weiterhin um ihn kümmern, bis wir...!“

Melia verstummte, denn sie sah, dass der Priester den Kopf schüttelte.

„Chalek ist keine Aufgabe für eine selbstbestimmte Zeit. Es ist eine Berufung und sie endet erst und ausschließlich...mit dem Tode!“

„Aber...?“ Melia schüttelte wieder den Kopf und blickte zu dem schlafenden Jungen. Oh natürlich mochte sie ihn. Und sie hatte ihn doch auch schon ganz tief in ihr Herz geschlossen, empfand bereits so etwas wie Liebe für ihn. Und natürlich würde sie sich um ihn kümmern, jetzt, wo sein Vater nicht mehr lebte. Aber ihn zu sich nehmen, wie eine Mutter, für ihn die Verantwortung übernehmen, ein ganzes Leben lang? Wie sollte das nur gehen, wo sie doch noch nicht einmal selbst wusste, wer sie war und wo sie eigentlich hingehörte? „Wie kann ich etwas Derartiges versprechen?“ Sie blickte Jorivo hilfesuchend, ja fast schon verzweifelt an. „Ich weiß, dass Chalek etwas ganz Besonderes ist. Und dass es weit mehr ist, als man vermuten möchte. Ich habe bereits eines seiner Wunder gesehen!“ Melia hielt inne und sah vor ihrem inneren Auge die Szene, in der er ihr den weißen Stein mit dem Gesicht des Mannes, den sie offenbar auf eine wunderbare, aber auch wundersame Weise im Herzen trug, gegeben hatte. Instinktiv musste sie kurz lächeln. Doch dann verlor sie es wieder und ihr Blick wurde traurig und unsicher. Ihr wurde erneut, und dieses Mal sehr viel klarer und intensiver, bewusst, welch außergewöhnlicher Mensch dieser Junge wirklich zu sein schien, doch sie war sehr sicher, dass sie nicht einmal einen winzigen Bruchteil dessen verstanden hatte, was ihn wirklich ausmachte. Deshalb kamen ihr sofort erhebliche Zweifel. „Aber wie könnte ich auch nur im Entferntesten annehmen einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein?“ Wieder schüttelte sie den Kopf.

Jorivo sah Melia einen Moment stumm an. „Manchmal suchen nicht wir uns unsere Aufgaben, sondern die Aufgaben uns!“ Er lächelte kurz müde. „Ich habe keine Ahnung, welche Fähigkeiten der Junge wirklich besitzt. Aber ich weiß, dass sie etwas Besonderes sein müssen, sonst würde er ihnen nicht so sehr vertrauen. Und ich glaube, dass zumindest das ein guter Ausgangspunkt für eine gemeinsame Zukunft ist – wie immer sie auch aussehen mag! Ich weiß, dass ich ihnen nicht befehlen kann, diese Aufgabe zu übernehmen, aber letztlich...!“ Er wartete, bis Melia ihn ansah. „...sind sie die einzige Chance, die er noch bekommen wird!“ Er lächelte nochmals müde. „Es tut mir leid, dass ich ihnen keine besseren Nachrichten gebracht habe. Glauben sie mir, wenn ich ihnen sage, dass ich mir wünschte, ich wäre an seines Vaters Statt gestorben. Aber auch für mich hat der Herr offensichtlich eine andere Aufgabe vorgesehen. Und deshalb muss ich jetzt wieder gehen!“ Jorivo nickte ihr zu, drehte sich um und ging.

Doch Melia folgte ihm und hielt ihn zurück. „Wo wollen sie hin?“

„Zurück nach Guavit. Ich bin ein Diener Gottes und meine Aufgabe ist es, den Menschen Trost in dieser schweren Zeit zu spenden. Selbst, wenn das meinen eigenen Tod bedeutet!“ Der Priester lächelte ein letztes Mal, dann strebte er wieder dem Ausgang zu.

Melia blieb zurück, schien einen Moment wie erschlagen, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch dann folgte sie dem Pater erneut und hielt ihn kurz vor dem Höhlenausgang wieder auf. „Warten sie!“ Sie griff dem Priester an den Oberarm und während er sich zu ihr herumdrehte, warf sie für einen kurzen Augenblick einen Blick durch den Höhleneingang nach draußen. Dabei fiel ihr sofort auf, dass es überraschend hell für diese Tageszeit war – die Sonne war schon seit gut einer Stunde untergegangen - und auch die untypische blau-gelbe Färbung des Himmels blieb ihr nicht verborgen. Dann aber sah sie den Blick des Paters und sie wandte sich wieder ihm zu. „Was ist, wenn ich ablehne?“

Jorivo schien für einen Moment sehr irritiert. Schließlich wurde sein Blick sehr ernst. „Dann ist der Junge verloren!“

Melia hörte die Worte des Priesters, doch war sie abgelenkt von einigen dumpfen Schlägen, die von außerhalb und oberhalb des Höhleneingangs kamen. Außerdem glaubte sie, ein Stöhnen gehört zu haben und einige sirrende, pfeifende Geräusche, ganz so, als würde etwas sehr schnell durch die Luft sausen. „Aber...?“ begann sie dann doch, als sie deutliche Schmatzgeräusche vernahm, dazu einen erstickten, schmerzvollen Schrei, der sie erschrecken ließ.

Im nächsten Augenblick klatschte ein schwerer Körper hinter Jorivo zu Boden. Er war von schräg oberhalb des Eingangs herabgesaust. Melia wusste, dass dort die Stellungen der Wachtposten waren.

Wie Recht sie hatte, erkannte sie schon einen Moment später, als ein weiterer, weitaus schwererer Körper hinterherstürzte und derart kraftvoll auf den Felsen schlug, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Sofort danach ertönte ein verächtliches Brummen, gefolgt von einem schrillen Quieken.

Melia blickte Jorivo direkt in die Augen. Sie erkannte, dass der Priester sehr wohl alles gehört hatte, was auch sie vernommen hatte und doch verhinderte der Schock über die Erkenntnis dessen, was sich da in seinem Rücken aufbaute, dass er sich bewegen konnte. Selbst als er den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Stattdessen erzitterte sein Körper urplötzlich erbärmlich und seine Arme wurden in die Höhe gerissen, als sich mit irrsinniger Wucht die widerliche Kralle des Insekts durch seinen Brustkorb bohrte. Während Jorivo ein dicker, dunkler Schwall Blut aus dem Mund schoss, spritzten Melia Teile von Gedärmen, Hautfetzen und weiteres Blut entgegen. Der Priester stöhnte erstickt auf und blickte entgeistert auf die todbringende Klaue in seinem Körper, bevor er das Bewusstsein verlor und der Tod von ihm Besitz ergriff.

Während Melia zutiefst entsetzt zurücktaumelte, musste sie aufschreien und schon im nächsten Moment brach um sie herum die Hölle los.

Die Kralle aus dem Brustkorb des Priesters wurde ruckartig zurückgerissen und gab seinen geschundenen Körper frei, doch noch bevor er überhaupt die Chance hatte, zu Boden zu schlagen, rauschte eine zweite Kralle schräg von links oben nach rechts unten herab und durchtrennte den Brustkorb wie Butter. Bestialische Geräusche drangen zu Melia, Blut spritzte in Fontänen in ihre Richtung.

Sie spürte eine widerliche Hitze in sich aufsteigen, ihr Herz raste, ihre Beine begannen zu zittern.

Dann schlug der gespaltene Torso des Priesters zu Boden und Melia konnte direkt in das schreckliche Antlitz des Monsters blicken, das sie mit seinen kalten, toten Augen sofort anstarrte.

Doch Melia sollte keine Zeit haben, darüber zu verzweifeln, denn nur eine Sekunde später fiel ein zweiter Körper zwischen ihr und der Bestie zu Boden. Es war ein weiterer Wachmann, dessen Todesschrei in dem Moment abrupt endete, als er auf den Felsboden schlug. Durch die Wucht des Aufpralls kippte sein Körper seitlich weg und rollte etwa einen Schritt auf Melia zu, die entsetzt auf die furchtbaren Wunden des Mannes starren musste.

Plötzlich vernahm sie ein bösartiges Fauchen und etwas, das ihr fast wie ein Lachen vorkam, aus dem lippenlosen, grässlichen Maul des Monsters, das sie noch immer musterte und da wurde ihr bewusst, dass sie bereits als nächstes Opfer ausgesucht worden war.

Doch trotz ihres Entsetzens, trotz ihres Ekels und auch trotz ihrer Angst, die sie in diesem Moment empfand, zwang sie irgendetwas in ihrem Inneren, das sie im Moment nicht definieren konnte, sich zu bewegen und zu handeln. Und so machte sie einen schnellen Schritt nach vorn, bückte sich ohne zu zögern nach der Leiche des Wachmanns vor ihren Füßen und nahm seine Waffe an sich.

Als sie sich wiederaufrichtete, stand wilde Entschlossenheit in ihrem Gesicht, aber schon im nächsten Moment musste sie knallhart erkennen, dass sie zwar eine gefährliche Waffe in ihren Händen hielt, jedoch nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie zu benutzen war.

Hinter sich hörte sie erste wilde Schreie der anderen Flüchtlinge, hinter der Bestie, die sie anstarrte, konnte sie weitere Bewegung im Halbdunkel erkennen. Wenn sie jetzt nicht handelte, würde sie entweder von den heranstürmenden Monstern überrannt werden oder im Kugelhagel der eigenen Leute ihr Ende finden.

Verdammt, fluchte sie innerlich, so schwer konnte der Umgang mit dieser verflixten Waffe doch nicht sein. Sie warf einen kurzen, verzweifelten Blick auf den Stahl in ihren Händen und konnte den Abzug ausmachen. Also richtete sie die Waffe kurzerhand auf die Bestie aus, zog sie an sich, umschloss sie, so fest sie konnte, mit ihren Händen, drückte sie, so fest sie konnte, gegen ihren Oberkörper, schloss ihre Augen und drückte dann einfach ab.

Der Feuerstoß, der aus der Mündung schoss, war absolut gewaltig und nahm Melia sofort komplett ein. Die Waffe war auf Impulsfeuer eingestellt und es lösten sich innerhalb eines Wimpernschlags ein Dutzend Schüsse, die jedoch trotz ihrer erheblichen Anstrengungen nicht direkt ihr Ziel fanden, sondern Melia die Waffe nach oben verriss und sämtliche Projektile in die Decke über der Bestie donnerten.

Zu diesem Zeitpunkt aber war Melia schon nicht mehr an der Stelle, an der sie gefeuert hatte. Während sie das Gefühl hatte, ihr Trommelfell würde platzen und ihre Arme aufgrund der wilden Erschütterung der Waffe würden abgerissen werden, hämmerte ihr der Rückstoß den Kolben irrsinnig wuchtig gegen ihre rechten unteren Rippen, dass sie schon glaubte, die Waffe würde sie rigoros durchschlagen und quer durch ihren Leib jagen.

Doch das tat sie natürlich nicht, dafür jedoch riss sie Melia förmlich aus dem Stand heraus nach hinten und schleuderte sie etliche Meter in die Höhle hinein, bis sie schließlich schmerzhaft schreiend auf den Felsboden schlug, wo ihr der Sturz derbe in die Knochen fuhr und ihr einige Schürfwunden an den Armen brachte.

Dennoch warf sie sich sofort wieder so herum, sodass sie sehen konnte, was am Ausgang der Höhle geschah. Dass ihre Aktion ihren Gegner nicht erwischt hatte, war ihr natürlich nicht verborgen geblieben. Als sie das Monster dann wieder im Blickfeld hatte, gefror ihr beinahe das Blut in den Adern, denn es stand noch immer an der gleichen Stelle und auf dem ekelhaften lippenlosen Mund zeichnete sich ein deutliches, überlegenes Grinsen ab.

Mitten hinein in Melias Erkenntnis, dass sie versagt hatte aber hörte sie mehrere ungewöhnliche Geräusche, ganz so, als würde etwas knacken oder aufbrechen. Auch ihr Gegner schien das zu vernehmen, denn er fauchte erstaunt und blickte über sich.

Und da konnte Melia die Quelle der Geräusche ausmachen und auch die Risse erkennen, die sich im Fels immer weiter voran arbeiten. Schon im nächsten Augenblick wurde die Decke an dieser Stelle instabil und einige sehr große Felsbrocken rauschten in die Tiefe, wo sie ein wild quiekendes Monster unter sich begruben und ihm den Tod brachten.

Melia atmete hörbar aus und musste dabei stöhnen. Dennoch schien sie zufrieden.

Plötzlich aber vernahm sie neuerliches Brüllen aus dem Höhleneingang, als sich weitere Monster über die Trümmerhaufen hinweg auf sie zuschoben.

Doch bevor sie weiter reagieren konnte und sich auf die Beine zurückwuchtete, stürmten einige Männer an ihr vorbei und gaben aus ihren Waffen ein wahres Stakkato an Schüssen auf ihre Gegner ab.

Innerhalb weniger Augenblicke war die gesamte Höhle erfüllt von einem irrsinnigen Getöse, das wie das Rotorgeräusch eines Hubschraubers klang.

Zwischendrin war das Quieken der Bestien zu hören, die am Höhleneingang niedergemäht wurden. Doch schien es, als würden für jedes tote Insekt, zwei neue erscheinen und immer weiter in die Höhle vordringen.

Melia war geschockt und entsetzt zugleich von diesem Szenario. Alles schien in diesen Momenten irgendwie surreal und wie in Zeitlupe abzulaufen.

Ein eher zufälliger Blick zur Seite brachte sie zurück in die Realität. Denn dort konnte sie Chalek erkennen, der mittlerweile natürlich erwacht war. Er stand neben Nimas, der ihm jedoch keinerlei Beachtung schenkte und trotz des furchtbaren Spektakels in der Höhle blickte er beinahe ausdruckslos in ihre Richtung.

Sofort machte Melia kehrt und rannte zu ihm. Bevor sie ihn jedoch erreichte, kam Nimas mit besorgtem Blick auf sie zu. „Was zum Teufel ist passiert?“ rief er.

„Nach was sieht es denn aus?“ erwiderte Melia nicht gerade freundlich.

„Warum bist du nicht bei mir gewesen? Wo warst du?“ Nimas Ton wurde schärfer.

„Ich hatte etwas zu erledigen!“ gab sie knapp zurück und wollte an ihm vorbei zu Chalek gehen.

Doch Nimas hielt sie zurück. „Und was war das?“

Melia hielt in ihrer Bewegung inne und schaute ihn mit ernster Miene an. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“ Mit zwei schnellen Schritten war sie an Nimas vorbei und lief zu Chalek. „Alles okay?“ fragte sie.

Der Junge nickte.

Melia drehte sich zurück und während sie sehen konnte, dass die Männer trotz höchstem Waffeneinsatzes den Ansturm der Bestien nicht aufhalten konnten und immer mehr an Boden verloren, trat Nimas wieder zu ihr.

„Lass den Jungen!“ rief er. „Wir müssen von hier verschwinden!“

Melia starrte ihn verärgert an. „Hier!“ Sie reichte ihm ihre Waffe. „Sei ein Mann und kämpfe!“

„Was?“ Nimas war sofort geschockt. „Aber...?“ Er sah, wie sich Melia wieder zu Chalek beugte. „Ich kann nicht!“ Er trat zu den beiden, als sie sich gerade wiederaufrichtete.

Melia schaute ihn mitleidig, aber auch abschätzig an. „Dann gib sie wieder her!“ Mit einem kurzen Ruck nahm sie die Waffe an sich.

„Wir müssen von hier verschwinden!“

Melia nickte. „Da hast du ausnahmsweise einmal Recht!“ Sie reichte Chalek ihre linke Hand und der Junge nahm sie sofort an. Melia blickte sich um, um sich zu orientieren.

Nachdem sie in diese Höhle geflüchtet waren und sich eingerichtet hatten, gab es Männer, die aufgrund ihrer militärischen Erfahrung, die Führung der Gruppe übernommen hatten und entsprechende Fluchtpläne und Vorsichtsmaßnahmen für den Fall eines Angriffs ausgearbeitet hatten.

Jetzt musste sich also zeigen, was sie wert waren.

Bei einem Angriff durch den Haupteingang, so hatte man ihnen in einer großen Versammlung am gestrigen Abend erklärt, sollten sich alle sofort in den hinteren Stollen begeben und laufen, was das Zeug hielt.

Die Männer hatten Sprengladungen angebracht, die entsprechend gezündet werden würden, sodass der Stollen hinter ihnen einstürzen würde und dem Feind eine Verfolgung damit unmöglich war.

Da sich der Stollen im weiteren Verlauf mehrmals aufteilte und außerdem über eine sehr weite Strecke von etwa zwei Kilometern unter der Oberfläche verlief, standen die Chancen sehr gut, dass am anderen Ende niemand auf sie warten würde.

Entsprechend konnte Melia sehen, dass bereits sehr viele der Flüchtlinge auf dem Weg in den hinteren Höhlenbereich waren, wo sie in den Stollengang eintauchten.

Die Panik um sie herum hielt sich in Grenzen und Melia war wirklich überrascht, denn angesichts des furchtbaren Gemetzels am Höhleneingang wusste sie nicht wirklich zu sagen, wie lange sie noch ihre Beherrschung behalten konnte. Ohne weitere Verzögerung lief sie deshalb los und zog Chalek mit sich.

Wenige Sekunden später aber sollte sich alles ändern, denn erste, furchtbar grausame und schmerzhafte Schreie ertönten aus der Gruppe der Männer, die den Höhleneingang so tapfer verteidigten. Im Laufen blickte sich Melia um und konnte sehen, dass die Männer dem irrsinnig wuchtigen und schnellen Ansturm der Bestien nicht mehr Stand halten konnten und es erste Opfer unter ihnen gab. Wahllos zuckten die tödlichen Krallen hin und her, hackten in alles, was nicht schnell genug außer Reichweite kam und eröffneten ein grausames Blutbad.

Durch die Verluste ließ die Gegenwehr der anderen Männer spürbar nach und der Feind kam scheinbar unaufhaltsam und erschreckend schnell voran. Dennoch zogen sie sich nur langsam und beeindruckend geordnet zurück und stellten sich weiterhin dieser schrecklichen Armada aus teuflischen Wesen. Melia bewunderte sofort den Mut der Männer, die wissen mussten, dass sie heute hier sterben würden. Vielleicht aber hatte ihnen ihre eigene Angst so viel Adrenalin in den Körper gepumpt, dass ihr Gehirn unfähig war ihr Schicksal noch zu realisieren.

Die Schreie ihrer Verteidiger wurden natürlich auch von den anderen Flüchtlingen gehört und innerhalb weniger Sekunden war es vorbei mit der Ordnung und die längst überfällige Panik brach umso wuchtiger aus.

Der Stollen, auf den alle zustrebten, war zwar nicht gerade eng, aber dennoch hatten sich zwei Männer mit Waffen an seinen Eingang gestellt und sorgten dafür, dass nicht mehr als vier Personen gleichzeitig nebeneinander hineinliefen.

Mit dem Tod der ersten Verteidiger am Höhleneingang aber stürmte der Rest der Flüchtlinge – und das waren immer noch weit über einhundert Personen – schreiend und unkontrolliert auf sie zu und innerhalb weniger Sekunden war der Durchgang verstopft, was die Hektik natürlich weiter ankurbelte.

Um nicht noch zusätzlichen Druck auszuüben und zu riskieren, in dem Gewühl die Kontrolle über sich und den Jungen zu verlieren, verlangsamte Melia ihren Lauf.

Weitere furchtbare Schreie ließen sie herumfahren. Der Feind kam immer näher, die Abwehr der Männer wurde immer schwächer. Melia sah, wie einer von ihnen von einem der Monster frontal attackiert wurde. Zwar gelang es ihm, es zu töten, doch schon stand ein weiteres Untier vor ihm und dieses Mal reagierte er zu langsam. Die Krallen schossen auf ihn zu und mit einem lauten Schrei wurde er aus dem Stand heraus mehrere Meter weit nach hinten geschleudert. Nicht weit von Melia entfernt schlug er zu Boden, wo er seine Waffe aus den Händen verlor und stöhnend liegen blieb.

Als sie sah, dass er noch am Leben war, wusste sie, dass sie ihm helfen musste. Sie blickte sich um und als sie Nimas neben sich erkennen konnte, war sie nicht einmal überrascht darüber. „Kümmere dich um den Jungen!“ zischte sie, ließ seine Hand los und rannte die wenigen Meter zu dem Verletzten.

„Barie, nein!“ rief Nimas noch hinter ihr her, doch sie ließ sich nicht aufhalten.

Dicht neben dem Mann konnte sie einen Felsbrocken erkennen und ihr kam eine Idee. Mit ihren letzten Schritten warf sie sich mit den Füßen voraus auf den Boden und schlidderte auf ihrem Po zu dem Verletzten. Während der sie in einer Mischung aus Überraschung, Dankbarkeit und Verzweiflung anschaute, schnappte sie sich seine Waffe, rollte zweimal herum und warf sich schließlich mit dem Rücken gegen den Felsbrocken. Sie stöhnte einmal schmerzhaft auf, dann stemmte sie sich sowohl ihre Waffe, als auch die des Mannes in je eine Seite. In ihrem Gesicht spiegelte sich große Entschlossenheit wieder.

In genau diesem Moment lösten sich drei der Bestien aus dem Pulk und stürmten auf sie zu. Das war ihr Zeichen und sie drückte ab. Wieder hatte sie das Gefühl, als würden die Waffen ihren Körper zerreißen, doch blieb der Rückstoß, durch die Felswand in ihrem Rücken, aus. Allerdings war der Schmerz in ihren Rippen dadurch beinahe unerträglich, weshalb sie zu schreien begann, um ein Ventil dafür zu haben. Und obwohl ihre Schüsse kaum wirklich gezielt waren, mähten sie die Angreifer rigoros und tödlich nieder. „Ich brauche Hilfe!“ brüllte sie in einer kurzen Feuerpause, bevor weitere Monster kamen und sie erneut abdrücken musste.

Scheinbar aber war ihr Rufen erhört worden, denn noch während sie den angreifenden Bestien laut brüllend Projektile entgegenschleuderte, konnte sie in den Augenwinkeln erkennen, dass zwei Männer sich um den Verletzten kümmerten und ihn unsanft, aber wenigstens schnell, in Richtung Stollen schleppten.

Dann fehlte ihr die Kraft für weitere Schüsse und ihre Waffen verstummten. Sofort rückten Bestien nach und ihr war klar, dass sie nicht ausruhen durfte.

Gerade aber, als sie mit einem tiefen Stöhnen ihre Hände wieder um die Waffen schlang, donnerten Schüsse aus ihrem Rücken über sie hinweg und schlugen in ihre Gegner.

„Los...!“ hörte sie eine Männerstimme hinter ihr rufen. „...kommen sie!“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie ließ die Waffe des Mannes zurück und robbte um den Felsbrocken. Dort konnte sie zwei Männer sehen, die auf die Bestien feuerten. Einen von ihnen erkannte sie wieder. Es war einer der Truppenführer. Seine dunkelblaue Schirmmütze verbarg eine Glatze. Sein Körper war stämmig und muskulös, sein Gesicht narbenzerfurcht. Melia schätzte ihn auf fünfzig Zyklen. „Danke!“ rief sie ihm zu.

Der Mann nickte nur. „Und jetzt weg hier!“ Schon musste er wieder feuern, doch dieses Mal wich er dabei zurück.

Melia wollte es ihm gleichtun. Aber nach wenigen Schritten erstarrte sie plötzlich, als sie zufällig nach links schaute. All ihre Farbe wich aus ihrem Gesicht und ein heiß-kalter Schauer jagte über ihren Rücken. „Oh Scheiße!“ entfuhr es ihr geschockt, denn sie konnte dort niemand geringeren als Chalek sehen. Noch immer stand der Junge an genau der Stelle, an der sie ihn...Nimas anvertraut hatte. Ihr Blick verdunkelte sich augenblicklich und sie warf ihren Kopf herum. Tatsächlich konnte sie ihren Liebhaber in der Gruppe erkennen, die sich im Stollengang gesammelt hatte. „Gottverdammter Hurensohn!“ raunte sie, doch schon in der nächsten Sekunde stürmte sie auf Chalek zu, der sie nach wie vor unbeweglich mit einem nahezu ausdruckslosen Gesicht anschaute.

„Nicht!“ hörte sie noch den Gruppenführer hinter sich rufen, doch das kümmerte sie nicht. So schnell sie konnte rannte sie zu Chalek. Trotz der kurzen Entfernung hatte sie das Gefühl ihre Lungen würden kochen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Dann war sie bei ihm, streckte ihm ihre linke Hand entgegen. Er nahm sie sofort bereitwillig. Doch in dem Moment, da sie wieder herumwirbelte und ihn mit sich ziehen wollte, hörte sie ein lautes Kreischen schräg vor sich und konnte im nächsten Moment sehen, wie sich eines der widerlichen Monster auf seine Hinterläufe stellte und die vorderen Krallen angriffsbereit in ihre Richtung brachte.

Melia war augenblicklich geschockt und brachte nicht mehr, als ein tiefes Stöhnen hervor. Im nächsten Moment schossen die Krallen auf sie hernieder. Sie wandte sich ab, drückte auch Chalek herum, schloss ihre Augen und wartete auf Schmerzen, wie sie sie noch nie gespürt haben mochte. Doch hörte sie in derselben Sekunde ein widerliches Quieken des Monsters und als sie wieder aufschaute, konnte sie sehen, wie der Körper der Bestie wild zuckte und schließlich vor ihr leblos zu Boden krachte.

Im ersten Moment irritiert, warf sie ihren Kopf herum und erkannte, dass ihre Rettung erneut von dem Gruppenführer und zwei weiteren Männern kam.

„Verdammt Lady, jetzt aber los!“ brüllte er.

Melia reagierte sofort. Sie richtete sich wieder auf, riss Chalek förmlich auf ihre Arme und rannte in Richtung Stollengang.

Glücklicherweise hatten die Männer dort die Panik der Flüchtlinge in den Griff bekommen und ein Chaos vermeiden können. Als Melia sie erreichte, wurden gerade die letzten Personen durchgeschleust und sie konnte ohne große Verzögerung ebenfalls passieren.

Hinter sich hörte sie kurze Sätze der Männer, die sie jedoch nicht verstehen konnte. Bei einem kurzen Blick zurück sah sie, dass sowohl der Gruppenführer mit seinen beiden Männern, als auch die beiden Männer am Stolleneingang ihr folgten.

Wenige Sekunden später hatte sie eine weitere kleinere Höhle erreicht, hinter der sich der Stollen zum ersten Mal aufgabelte. Alle Flüchtlinge hatten sich hier versammelt und warteten auf weitere Instruktionen.

„Melia!“ Der Ausruf kam von Nimas, der in einer Gruppe von Flüchtlingen stand. Als er sie sah, zeigte sich sofort Freude und Erleichterung auf seinem Gesicht und er kam zu ihr.

Melia jedoch blickte ihn nur ausdruckslos an. Lediglich ihr rechtes Augenlied zog sich ein wenig zusammen, als sie Chalek sanft absetzte. Als sie sich wiederaufrichtete, stand Nimas grinsend vor ihr. Und da konnte sie nicht mehr an sich halten. Ohne Vorwarnung, einfach aus dem Schultergelenk heraus, zuckte ihr rechter Arm in die Höhe, ihre Hand bildete eine Faust und einen Wimpernschlag später donnerte sie wuchtig gegen Nimas Kinn. Melia stöhnte dabei auf, doch war es nur, um noch mehr Kraft in den Schlag zu legen. Schmerzen spürte sie keine, dazu war sie viel zu aufgebracht. „Arschloch!“ zischte sie noch.

Nimas war vollkommen überrascht und musste die volle Härte des Schlages hinnehmen. Sein Kopf wurde herumgeschleudert, er taumelte zurück und schrie schmerzerfüllt auf.

Die Umstehenden starrten die Beiden verwirrt an.

Nimas linke Hand zuckte zu seinem Kinn. Als er sich wieder gefangen hatte und zu Melia zurückdrehte war sein Lächeln verschwunden. Stattdessen funkelten seine Augen voller Zorn. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und das Blut verteilte sich auf seiner Hand.

Melia blickte geradeheraus und ebenfalls voller Zorn zurück. Und sie war wachsam, denn sie konnte sehen, dass Nimas rechte Hand sich zur Faust formte, als er einen Schritt auf sie zumachte.

Im selben Moment jedoch stieß Chalek einen wütenden Schrei aus und rannte gegen Nimas, um ihn wegzuschubsen.

„Chalek, nicht!“ rief Melia, ergriff ihn an den Schultern und zog ihn weg von Nimas. Dann wurde sie abgelenkt, weil am Höhleneingang Bewegung zu sehen war. Sie erkannte den Gruppenführer, der jetzt als letzter den Stollen verließ und dabei noch immer feuerte.

Dann aber hielt er plötzlich inne, schaute zu einem seiner Männer und nickte. „Feuer!“

Der Mann, den er angesprochen hatte, das konnte Melia erst jetzt erkennen, hielt ein Gerät in der Hand, das aussah, wie ein rechteckiger, kleiner Kasten mit einer Taste obenauf. Sie brauchte sich nicht lang zu fragen, was dieses Ding war, denn sofort erinnerte sie sich an die Worte des Gruppenführers vom gestrigen Tag, als er ihnen von Sprengladungen entlang des Stollens erzählt hatte. Melia war sicher, dass der andere Mann den Auslöser in den Händen hielt.

Einen Augenblick später drückte er die Taste und Melia zuckte unwillkürlich zusammen, da sie mit extremem Explosionslärm rechnete.

Doch nichts geschah!

Der Mann am Gerät blickte verunsichert zum Gruppenführer und drückte die Taste gleich noch einmal. Plötzlich schoss ein kleiner, greller Blitz aus dem Kasten, der Mann schrie auf und während er ihn fallen ließ, zuckte ein weiterer Blitz aus dem Inneren, bevor dunkler Qualm hervortrat.

„Scheiße!“ rief der Gruppenführer und war sofort besorgt.

„Was machen wir jetzt?“ Der Mann starrte auf den Kasten und dann voller Panik auf den Gruppenführer.

„Jemand muss zurück und den Zünder am anderen Ende betätigen!“

Der Mann antwortete nicht. Er nickte nur und schaute dann verlegen zur Seite.

„Okay!“ Der Gruppenführer seufzte und nickte ebenfalls. „Dann übernehmen sie die Führung und bringen die Leute sicher in die Berge!“

Melia hörte die Worte des Gruppenführers. Er wollte sich für sie alle opfern! Nur wenn der Stollen versperrt werden würde, hatten sie eine Chance auf Flucht, ansonsten würden sie rigoros abgeschlachtet werden. Dass die Bestien noch nicht hier waren, hatten sie der Gruppe von Männern zu verdanken, die in der großen Höhle zurückgeblieben war und ihr Leben dafür gaben, damit sie noch Zeit zum Handeln hatten. Doch, wenn der Gruppenführer sich jetzt opferte, gab es niemanden mehr, der sie sicher hier heraus und in die Berge führen konnte. Nein, Melia wusste sofort, dass er das nicht tun durfte. Doch sie wusste auch, dass sich niemand sonst dazu bereit erklären würde. Also war ihr klar, was sie zu tun hatte. „Ich mach das!“ rief sie und trat zu den beiden Männern.

„Was?“ Der Gruppenführer schaute sie überrascht an.

„Die Menschen hier brauchen einen Führer!“ entgegnete Melia sofort. „Sie brauchen sie!“ Sie nickte dem Mann zu und fasste ihre Waffe, die sie noch immer mit sich trug, fester. „Einfach nur drücken?“ fragte sie mit einem Blick auf den qualmenden Zündkasten.

Der Gruppenführer schaute sie einen Moment stumm an. Dabei sah er die echte Entschlossenheit in Melias Gesicht. Deshalb nickte er. „Einfach nur drücken!“

Melia lächelte freudlos. „Ich will ihr Versprechen, dass sie sich um den Jungen kümmern!“ Sie deutete auf Chalek, der hinter ihr stand.

Der Gruppenführer nickte, dann wurde sein Blick traurig. „Natürlich!“

Melia antwortete nicht, sondern schnappte sich den Jungen und reichte ihn dem Gruppenführer auf den Arm. Als Chalek sie mit großen Augen anschaute, huschte ein echtes Lächeln über ihre Lippen, ihre Augen strahlten und sie gab ihm einen sanften Kuss auf die schmutzige Stirn.

Deutlich spürte sie dabei den Kloß im Hals, doch sie wusste, sie konnte und durfte sich ihren Gefühlen jetzt nicht hingeben. Also schaute sie noch ein letztes Mal auf den Gruppenführer, dann drehte sie sich um und rannte zum anderen Ende des Stollens, wobei sie sich zwang, nicht auf ihre Angst zu hören und nicht auf ihren rasenden Herzrhythmus zu achten.

Je weiter sie kam, desto lauter wurde der Kampflärm aus der großen Höhle und als sie schließlich den zweiten Auslöser für die Sprengladungen erreicht hatte, konnte sie das grausame Schauspiel eines furchtbaren Massakers in allen Einzelheiten sehen. Von den zwei Dutzend Männern, die die Verteidigung übernommen hatten, waren nur noch eine Handvoll am Leben, die sich nur wenige Meter von Melia entfernt hinter einigen größeren Felsbrocken verschanzt hatten und aus allen Rohren auf die Flut von Bestien feuerten, die noch immer in die Höhle hinein schwappte. Melia schätzte ihre Zahl auf etwa vierzig. Sie ließen nicht aufhalten und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Verteidigungslinie endgültig zusammenbrechen würde und die Monster ungehindert in den Stollen eindringen konnten.

Melia war klar, dass sie nicht mehr zögern durfte.

Gerade aber, als sie das Gerät zur Hand nahm und die Taste drücken wollte, hörte sie in all dem Kampflärm die aufgeregte Stimme des Gruppenführers, der entsetzt Chaleks Namen rief. Instinktiv drehte sich Melia herum und musste fassungslos mit ansehen, wie der Junge sich von dem Mann losriss, ihm dabei seine Waffe entwendete und auf sie zustürmte.

„Chalek, nein!“ brüllte Melia sofort und hielt in ihrer Bewegung inne. Sie konnte jetzt den Auslöser nicht mehr drücken, das hätte unweigerlich das Todesurteil für Chalek bedeutet.

Drei Sekunden später war der Junge bei ihr. Melia wollte sich zu ihm herabbeugen und ihn in ihre Arme schließen und dann den Auslöser drücken. Unter diesen Umständen konnte sie das Leben des Jungen nicht mehr retten, das wusste sie. Am anderen Ende des Stollens gab es über einhundert Flüchtlinge. Sie konnte und durfte das Leben des Jungen nicht darüber stellen. Doch sie wollte Chalek in ihren Armen halten, wenn sie ihr beider Leben ein Ende setzte.

Chalek aber achtete gar nicht auf ihre Geste, sondern griff sofort nach dem Auslöser für die Sprengladungen und reichte ihr dafür die Waffe des Truppenführers. Melia war derart perplex von dem Tun des Jungen, dass sie nichts sagen und auch nicht reagieren konnte, als Chalek sich in ihrem Rücken bis auf ihre Schultern zog. Dann erst fand sie ihre Stimme wieder. „Was...?“ Sie dreht ihren Kopf, sodass sie das Gesicht des Jungen sehen konnte.

Doch Chalek stöhnte nur aufgeregt. In seinem Blick lag keine Furcht, nur wilde Entschlossenheit. Er schaute auf Melias Hände, dann stöhnte er wieder, formte mit seinen Händen fiktive Pistolen und deutete dann mit dem Kopf in Richtung großer Höhle.

Und da hatte sie verstanden, was er von ihr wollte. „Alles klar!“ rief sie, stellte ihre Beine etwas breiter auseinander, damit sie sichereren Stand hatte, dann hob sie beide Gewehre an je eine Seite, stemmte sie in ihren Oberkörper und richtete sie auf die Bestien aus, denen es gerade gelungen war, an einer Seite durch die Verteidigungslinie zu brechen und die jetzt ohne Umwege direkt auf sie zusteuerten. „Halt dich fest!“ rief sie dem Jungen zu. „Gott, das wird wehtun!“ meinte sie zu sich selbst und dachte an die höllischen Schmerzen, die ihr der Rückstoß der Waffen sicherlich einbringen würde. „Auf Drei!“ Sie atmete einmal tief durch. „Eins...!“ Drei Bestien stürmten pfeilschnell auf sie zu. „Zwei...!“ Sie brüllten, sie quiekten voller Vorfreude auf ein bestialisches Mahl. „Fahrt zur Hölle...!“ sagte Melia vollkommen ruhig, dann brüllte sie „Drei!“ und drückte ab.

Die Waffen an ihren Seiten spuckten die Geschosse aus und sorgten dafür, dass Melias ganzer Körper zu zitterten begann. Einen Wimpernschlag später sah sie erste Blitze an der Stollendecke und deutliche Explosionsgeräusche, während sie spürte, wie sie der Rückstoß der Waffen von den Füßen riss und rücklings durch den Stollen trieb.

Melia musste schreien, weil sie das Gefühl hatte, um sie herum würde die ganze Welt vollkommen zerstört werden.

Im selben Moment aber spürte sie, wie Chalek von ihren Schultern gerissen wurde. Auch der Junge schrie. Doch Melia konnte der gewaltigen Kraft, die mit ihr spielte, nichts entgegensetzen. In ihrem Herzen aber spürte sie einen furchtbaren Stich und schreckliche Angst um den Jungen überkam sie.

Und während sie beinahe zwanzig Meter durch die Luft flog, folgten ihr die Explosionen an der Stollendecke und der Fels donnerte nur wenige Zentimeter vor ihr mit einem unglaublichen Getöse zu Boden.

Dann spürte Melia einen irrsinnig wuchtigen Schlag in ihrem Rücken, der ihr sofort alle Luft aus den Lungen trieb.

Bevor sie jedoch von Schwärze umgeben wurde, dachte sie noch einmal an Chalek. Oh Gott, sie hatte den Jungen verloren. Anstatt, dass sie die Gruppe rettete und sich bei der Zerstörung des Stollens opferte, hatte sie überlebt und Chalek war an ihrer Stelle gestorben.

Und mit der grausamen Gewissheit, dass es ihre Schuld gewesen war, verlor sie endgültig das Bewusstsein.

Genesis III

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