Читать книгу Genesis III - Alfred Broi - Страница 8
V
Оглавление„Täusche ich mich...?“ meinte Captain Cosco leise, während er unvermittelt stehen blieb und Damos direkt anschaute. „...oder kann es sein, dass wir schon wieder nicht mehr allein sind?“
Er hatte dieses Gefühl schon seit geraumer Zeit gehabt, war sich aber nie wirklich sicher gewesen, ob seine Wahrnehmung real war oder ob er sich das alles nur einbildete.
Immerhin brach die Nacht jetzt schnell über sie herein und die Sichtverhältnisse in diesem äußerst dichten und ohnehin schon düsteren Waldstück waren mehr als bescheiden.
Dennoch glaubte er dann und wann eine Art Stampfen gehört zu haben, ganz so, als würde etwas Schweres zu Boden sinken. Oder das Knacken eines Zweiges innerhalb des Wisperns des leichten Windes, der sie umgab. Er sah Schatten in der Dunkelheit, die sich anders bewegten, als sie es eigentlich tun sollten und glaubte Gerüche zu erhaschen, die nichts Pflanzliches an sich hatten.
Immer aber war er sich im letzten Moment nicht sicher, ob er nicht doch träumte und ihm seine eigene innere Anspannung einen Streich spielte.
Doch dieses Mal...
Erst ein dumpfer Schlag, dann ein leises Grollen und schließlich ein deutlicher, großer Schatten, der von einem Baum zum anderen huschte.
Kein Zweifel, sie waren nicht mehr allein!
„Nein...!“ erwiderte Damos beinahe emotionslos, während auch er stehenblieb und in die Dunkelheit hinein lauschte. „Sie irren sich auch diesmal nicht. Wir werden beobachtet!“
„Was?“ rief Vilo, erschrak sofort, weil es viel lauter klang, als er es gewollt hatte und zuckte dabei instinktiv zusammen. Er schaute Damos entgeistert an, doch der Alte schien die Ruhe selbst.
„Schon eine ganze Weile!“ meinte er und fast glaubte Vilo, ein Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler gewesen sein mochte, dem Alten zu vertrauen und dass sie besser dem Rat der Dörfler gefolgt wären und das Waldgebiet hier umrundet hätten, doch der Gedanke ging so schnell, wie er gekommen war.
„Welche Art von Teufelei ist es dieses Mal?“ fragte Vilo und zog langsam und leise sein Schwert aus der Scheide in seinem Rücken.
„Das liegt einzig an uns selbst!“ erwiderte Damos fast schon salomonisch.
„Was soll das schon wieder heißen?“ fragte Vilo, wie er fand völlig zurecht.
„Wenn wir Böses im Sinn haben, wird uns Böses widerfahren. Wenn wir reinen Herzens sind, wird sich uns das Gute offenbaren!“
„Das klingt mir aber ziemlich wild danach, dass wir voll am Arsch sind!“ raunte jetzt auch Cosco merklich angesäuert und zog ebenfalls sein Schwert.
„Nein!“ Damos hob abwehrend die Hand. „Wir müssen ruhig bleiben. Halten sie sich und ihre Waffen im Zaum!“ Er warf auch Vilo einen mahnenden Blick zu.
Doch quasi im selben Moment war das Knacken von etwas fiel Größerem als einem dünnen Zweig deutlich zu hören. Fast zeitgleich dröhnte ein tiefes, bösartiges Grollen in ihre Ohren und stampfende, wuchtige Schritte, die den Boden vibrieren ließen, kamen direkt auf sie zu.
Spätestens jetzt waren bei zwei der drei Anwesenden jegliche Bemühungen, Ruhe zu bewahren, absolut dahin und nur eine Sekunde später war das Chaos perfekt, als ein gewaltiger Schatten aus dem Nichts neben ihnen auftauchte und ihnen ein derart brachiales Brüllen um die Ohren peitschte, dass sie glaubten, ihre Trommelfelle würden über den Jordan gehen.
Das monströse Wesen, von dem dieser Gewaltakt ausging, war deutlich größer, als ein Grujak-Bär. Vilo erinnerte sich sofort an Damos Geschichte über das Bugon und er gab keinen Pfifferling mehr auf ihr aller Leben. Soweit er das in dem extrem schwachen Licht überhaupt erkennen konnte, hatte die Bestie langes schwarzes Fell, das eher an Borsten erinnerte. Augenscheinlich stand sie auf vier mächtigen Beinen, ihre Schulterhöhe lag bei über zwei Metern. Wesentlich besser ließ sich jedoch der Kopf des Monsters erkennen. Deutlich sah Vilo ein gewaltiges Maul mit blitzend weißen, rasiermesserscharfen Zähnen und eine helle gelbe, dickfleischige Zunge. Ein widerlicher Gestank aus Verwesung und Blut wehte ihm entgegen, raubte ihm für einen Moment den Atem und trieb ihm seinen Mageninhalt derbe in die Höhe. Während er den Brechreiz zu unterdrücken versuchte, konnte er direkt in die Augen des Tieres blicken, wobei er auf eine gewisse Art durchaus auch fasziniert von ihrem Aussehen war. Sie waren groß und beinahe kreisrund, der Augapfel, in einem sehr hellen Grün wölbte sich deutlich hervor. Die Pupille zeigte sich in einem wesentlich dunkleren Grünton, der durchsetzt war mit blutroten, unregelmäßigen Sprenkeln, dass Vilo sich im ersten Moment nicht sicher war, ob es nicht tatsächlich Blut war, dass vom letzten Opfer dieser Bestie dort hineingespritzt war, als sie ihre furchtbaren Reißzähne in seinen Leib gedroschen und ihn im puren Blutrausch in Stücke gerissen hatte.
Dann hatte er sich wieder gefangen und der Soldat in ihm übernahm das Kommando. Sofort riss er sein Schwert in die Höhe, um dem Monster entgegen zu treten, doch zu seiner Überraschung blieb der doch schon so sicher geglaubte Angriff aus. Stattdessen brüllte das Vieh noch einmal in Orkanstärke und Vilo war sicher, dass er dieses Mal tatsächlich würde kotzen müssen.
„Nein!“ Der Schrei kam von Damos, als das Brüllen der Bestie gerade verklungen war und Vilo sah, wie der Alte auf Cosco zustürmte, doch es war bereits zu spät. Der Captain hatte schneller reagiert, als alle anderen und stürmte mit erhobenem Schwert auf die Bestie zu. Bevor er jedoch seine Attacke, die von einem weiteren Brüllen begleitet war, ausführen konnte, zuckte die vordere rechte Pranke des Monsters blitzschnell in die Höhe, krachte hart gegen seinen Oberkörper, fischte ihn aus dem Lauf heraus in die Höhe und er wurde vollkommen hilflos mehrere Meter weit nach hinten geschleudert. Während er schmerzhaft schreiend durch die Luft flog, schrie auch die Bestie noch einmal bösartig, dann schlug der Captain rüde und unkontrolliert in einen dichten Busch und verschwand mit einem erstickten Schrei von der Bildfläche.
Das war zu viel für Vilo. Sofort riss er sein Schwert wieder in die Höhe und stürmte los, doch im selben Moment spürte er, wie der Alte sich seitlich gegen ihn stemmte.
„Nicht!“ rief er und entwickelte am Ende tatsächlich so viel Kraft, dass er Vilo aus dem Gleichgewicht bringen konnte und sie seitlich weg taumelten und schließlich zu Boden krachten.
Für Vilo kam die Aktion des Alten derart überraschend, dass er ihr nicht genug eigene Kraft entgegensetzen konnte. Hilflos musste er es geschehen lassen und war, in dem Moment, da er zu Boden schlug, sicher, dass sie jetzt endgültig verloren waren.
Über ihm rappelte sich Damos überraschend schnell wieder auf und er zog auch Vilo mit sich zurück auf die Füße, während der sehen konnte, dass das Monster ein paar Schritte auf sie zukam, ein direkter Angriff aber erneut ausblieb, obwohl es für ihn sicher ein absolut Leichtes gewesen wäre, die beiden Männer jetzt problemlos zu überwältigen und zu töten.
Entsprechend war Vilo etwas verunsichert und führte keine neuerliche Attacke aus.
„Kommen sie!“ rief Damos und stemmte sich wieder gegen ihn. Dieses Mal schob er ihn vor sich her und während Vilo das zögerlich zuließ und dabei das Tier in ihrer Nähe nicht aus den Augen ließ, erreichten sie den Busch, in dem Cosco verschwunden war. Dort regte sich gerade wieder etwas und nur eine Sekunde später erhob sich der Captain ruckartig, wenngleich seine Beine noch immer zitterten und seinen Körper nur schwankend trugen. Sein Atem ging schwer, sein Gesicht war schmutzig und an einigen Stellen zerkratzt, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Blick war anfangs verklärt, als er Damos und Vilo anschaute, dann aber begannen seine Augen hektisch zu wandern. „Wo ist dieses Mistvieh?“ brüllte er, machte sich daran, aus dem Busch zu klettern und hob bereits sein Schwert wieder an. Als er die Bestie einige Meter voraus erkannt hatte, schien er neue Kraft zu schöpfen. „Komm her du...!“ brüllte er
„Nein, Halt!“ Damos trat ihm entgegen und hob abwehrend die Hände.
Cosco starrte den Alten irritiert an und hatte sicher nicht vor, seine Aktion zu beenden. Mit einem kräftigen Druck schob er ihn beiseite. Das Monster stoppte derweil misstrauisch ab und ein tiefes Grollen entfuhr seiner Kehle.
„Los, du Biest!“ brüllte Cosco mit einer gehörigen Portion Respekt angesichts der offensichtlichen gewaltigen Kraft des Tieres.
„Warten sie!“ Vilo trat zu ihm und hielt ihn am Arm fest, doch als der Captain nicht sofort reagierte, riss Vilo einmal kurz rüde an ihm. „Cosco!“ raunte er und endlich kehrte er zurück in die Wirklichkeit.
Er starrte Vilo in einer Mischung aus Überraschung, Angst und Unverständnis an. „Aber, es wird uns töten!“
„Nein!“ rief Damos sofort und trat zu ihnen. Dabei blickte er flehentlich auf den Captain und unsicher auf die Bestie.
Auch Vilo schaute auf das Tier, das etwa fünf Meter von ihnen entfernt stand und sie mit seinen Augen fixierte. Dabei grollte es leise, aber bedrohlich vor sich hin und seine Muskeln waren angespannt, stets bereit, eine Attacke seiner Gegner schon im Keim zu ersticken. „Nein...!“ meinte auch er schließlich und suchte Coscos Blick. „...wird es nicht!“
Cosco schien wenig überzeugt, doch er entspannte sich und senkte sein Schwert. „Und was jetzt?“
Vilo schaute Damos fragend an.
„Ich weiß nicht!“ Der Alte zuckte mit den Achseln.
Vilo überlegte einen Moment. „Wir haben noch immer ein Ziel zu erreichen, Männer!“ Er nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Also los!“ Er setzte sich langsam in Bewegung und wollte das Tier, das ihn aufmerksam beobachtete, in sicherem Abstand umrunden, damit sie ihren Weg nach Norden fortsetzen konnten, doch nach drei Schritten richtete sich die Bestie plötzlich ruckartig auf ihre Hinterbeine und brüllte bedrohlich. Sofort hielt Vilo erschrocken inne, krallte seine rechte Hand so fest um den Knauf seines Schwertes, dass das Weiße der Knöchel hervortrat und starrte auf das Tier, um noch die Chance zu einer Reaktion zu haben, falls ein Angriff erfolgen sollte. Fast schien es auch so, denn das Monster machte einen Schritt auf Vilo zu, als es seine Vorderpfoten zu Boden krachen ließ, doch dann verharrte es wieder und brüllte nochmals wütend.
Vilo hatte große Mühe, sich zu beherrschen und befürchtete, sich mit seiner Meinung, es würde kein Angriff erfolgen, böse getäuscht zu haben. Instinktiv machte er einen Schritt zurück. In den Augenwinkeln sah er einen schmalen Pfad, der sich in östliche Richtung windete. Wenn sie schnell genug reagierten, konnten sie vielleicht dorthin flüchten, ohne das ihnen das Tier folgen konnte, denn der Weg in die Dunkelheit schien wirklich äußerst schmal zu sein.
Mit seiner linken Hand gab Vilo den beiden Männern ein Zeichen, ihm zu folgen, während er rücklings immer weiter auf den Pfad zustrebte. Die Bestie schien auf eine gewisse Art zufrieden zu sein, dass er sich von ihr entfernte, denn ihr Grollen klang fast zustimmend.
Vilo sorgte dafür, dass Cosco und Damos hinter ihn gelangten und den Pfad als Erste erreichten. „Bei drei nehmt ihr eure Beine in die Hand und rennt, was das Zeug hält, klar?“ flüsterte er ihnen zu.
Cosco nickte sofort, nur Damos war nicht zufrieden. „Aber...!“ setzte er an, doch Vilo fuhr ihm dazwischen.
„Kein Aber! Tun sie, was ich sage! Sonst werfe ich sie ihm als Erstes zum Fraas vor!“
Bevor Damos nochmals widersprechen konnte, wurde er von Cosco mit einem finsteren Blick in den Pfad hineingeschoben. Vilo folgte ihnen. Gerade als er schon glaubte, das Tier würde ihnen nicht folgen und sie würden ohne zu rennen davonkommen, machte es zwei kurze Schritte auf sie zu und brummte grollend.
Vilo erschrak, da er total angespannt war. „Drei!“ rief er, drehte sich um und rannte los, wobei er auf den ersten Metern die beiden Männer vor ihm, vor sich herschieben musste, bevor auch sie Geschwindigkeit aufgenommen hatten. Während sie dennoch mehr schlecht als recht über den engen Pfad hechelten, konnten sie hinter sich wütendes Brüllen und das deutliche Krachen von Holz vernehmen, das ihnen zeigte, dass das Monster keineswegs zurückblieb, sondern ihnen und das anfangs auch noch in einem beängstigenden Tempo folgte.
Dann schien es jedoch, als könnten sie den Abstand zu ihrem Verfolger wieder vergrößern und gerade als Vilo sich darüber freuen wollte, schoss eine zweite Bestie einige Meter vor ihnen aus dem Dickicht auf den Pfad, versperrte ihnen wild brüllend den Weg und ihm rutschte das Herz quasi in die Hose.
Cosco reagierte wieder am schnellsten und bog eher instinktiv in einen weiteren Pfad ab, der rechts vor ihnen auftauchte.
Da sie dadurch dennoch an Geschwindigkeit verloren, konnte Damos sich mit einem Zwischenspurt neben die beiden anderen setzen. „Wartet!“ rief er.
Doch Vilo schaute ihn nur beinahe mitleidig an, als habe der Alte vollkommen den Verstand verloren, angesichts ihrer Verfolger auch nur im Entferntesten an so etwas Dämliches zu denken und beschleunigte demonstrativ noch mehr.
Aber Damos ließ nicht locker. „Anhalten!“ Er streckte seine rechte Hand nach Vilos linkem Oberarm aus und bekam seine Jacke dort zu fassen. Während er seinen Lauf verlangsamte, breitete er auch seinen linken Arm seitlich aus und blockte damit Cosco.
„Sind sie bescheuert, Mann?“ brüllte der Captain sofort total verärgert. „Was machen sie denn?“
Auch Vilo ließ sich nur widerstrebend zurückhalten. „Damos verdammt, was soll denn das?“ Er blieb stehen, drehte sich zu dem Alten und giftete ihn direkt an. „Sehen sie denn nicht, dass diese Bestien uns vor sich hertreiben? Die werden uns fressen, Herrgott noch mal!“
Doch Damos schüttelte den Kopf, nur um gleich darauf zu nicken. „Uns vor sich hertreiben, ja!“ Er war ziemlich außer Atem und schüttelte wieder den Kopf. „Uns fressen, nein!“
„Aber...?“ Vilo war sichtlich irritiert. „Woher wollen sie das wissen?“
„Ich...kenne diese Wesen!“
„Was?“ Das war fast ein Aufschrei von Cosco. „Aber woher zum Teufel?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich hier schon einmal war!“
Vilo wollte etwas erwidern, doch er hielt inne und atmete einmal tief durch. „Und wohin bitte schön...?“ begann er dann und kniff sein rechtes Auge misstrauisch ein wenig zusammen. „...wollen sie uns treiben?“
Damos atmete einige Male hektisch durch, dann streckte er seinen Körper und blickte Vilo direkt an. Zeitgleich hob er seinen linken Arm und teilte damit das schier undurchdringliche Buschwerk, das sich in diesem Teil des Waldes aus unzähligen dünnen, elastischen Ästen zusammensetzte, die von den mächtigen Kiefern herabhingen und fast wie ein Vorhang wirkten. „Dahin!“
Und während Vilo und auch Cosco seinem Blick auf die angrenzende Lichtung folgten, wussten sie, dass der Alte wohl doch nicht verrückt war.
Sowohl Vilo als auch der Captain waren sicher, dass sie etwas Derartiges noch nicht gesehen hatten.
Während sie Damos durch den Vorhang aus Blättern langsam auf die Lichtung hinaus folgten, erkannte Vilo in den Augenwinkeln, dass die beiden Bestien sich ihnen langsam näherten.
Äußerlich scheinbar nur total beeindruckt, war er innerlich aufs Äußerste angespannt und rechnete jeden Moment mit einer Katastrophe.
Dann aber nahm ihn der Anblick dessen, was sich vor ihnen auftat, doch vollkommen gefangen.
Die Lichtung, die Vilo auf etwa einhundert Meter in jede Richtung schätzte, ging nach wenigen Schritten in eine leichte Senke über.
An den Rändern gab es ausschließlich Blättervorhänge, ähnlich dem, durch den sie gekommen waren und umrahmten den Platz mehr wie Wände, denn wie ein natürlicher Pflanzenwuchs.
„Allmächtiger!“ entfuhr es Cosco und als Vilo ihm einen Seitenblick zuwarf, konnte er sehen, dass der Captain mit offenem Mund direkt nach vorn und schräg nach oben schaute.
Vilo folgte seinem Blick mit einer düsteren Vorahnung, doch was er sah, ließ ihn sichtlich erstaunen.
Direkt vor ihnen, im hinteren Teil der Lichtung, erhob sich ein absolut gewaltig zu nennender Baum. Vilo wusste auf Anhieb nicht zu sagen, ob es sich dabei um eine Rombas-Kiefer handelte. Der mächtige Stamm schoss sicherlich gut sechzig Meter in den Himmel und sein riesiges Astwerk überspannte die Lichtung beinahe komplett und einen großen Teil des sich im Hintergrund anschließenden Waldes derart dicht, dass der sternenklare Himmel über ihnen kaum noch zu erkennen war. „Wow!“ stieß Vilo mit großen Augen hervor und war absolut beeindruckt von diesem Anblick. Immer wieder erhaschte er neue, faszinierende Astformen und der Wind schien in dem millionenfachen Blätterwerk ein eigenes, wisperndes Lied zu singen.
„Oh Mann!“ Wieder hörte er Coscos Stimme neben sich und er war überzeugt davon, dass es ein erneuter Ausruf wegen dieses beeindruckenden Bildes vor ihnen war, doch als er zu ihm schaute, sah er, dass der Captain seinen Blick gesenkt hatte und jetzt ziemlich entsetzt in die Senke blickte.
Wieder folgte Vilo ihm und als er erkennen konnte, was sich dort am Boden vor ihnen auftat, erstarrte er augenblicklich und ein eiskalter Schauer kroch über seinen Rücken.
Es war ihm, als würde er in eine Schlangengrube blicken und er war sich sofort sicher, dass er keinen besseren Vergleich hierfür finden konnte und doch wirkte alles viel gespenstischer auf ihn, denn das, was da in der Senke wie ein riesiger Haufen Schlangen wirkte, waren augenscheinlich die Wurzeln des Baumes, die jedoch nicht in den Boden verliefen, sondern sich in einem schier unendlichen Wirrwarr über dem Boden wanden – sich dabei jedoch bewegten!
Vilo erkannte gewaltige, lange Wurzeln, die sicherlich zehnmal so dick wie ein menschlicher Oberschenkel waren und sich dicht über den Boden schlängelten. Da waren aber auch unzählige dünnere Wurzeln, die wie irrsinnig lange Arme einer Schlangenbeschwörerin in einem undefinierbaren Rhythmus hin und her wogten. Und es gab dünne Wurzeln, kaum dicker als ein Bindfaden, die sich wie Fühler bewegten und die Lichtung vor ihnen zu beobachten schienen.
All das in einer derartigen Vielfalt und Menge, dass es für Vilo vollkommen unmöglich war, das ganze Geschehen vor ihm mit einem Blick zu erfassen und seine Augen ständig hin und her zuckten. Gleichzeitig blieb die eisige Kälte in seinem Inneren, die ihm eine unangenehme Gänsehaut nach der anderen bereitete und eine nagende Unruhe in ihm auslöste. „Was zur Hölle ist das?“ stieß er hervor und warf Damos einen Seitenblick zu.
„Das…!“ Der Alte starrte ebenfalls gebannt und sichtlich beeindruckt auf das Geschehen vor ihm, jedoch glaubte Vilo, keinerlei Angst oder Nervosität an ihm zu sehen, ja sogar den Anflug eines Lächelns, was ihn misstrauisch machte und noch zusätzlich beunruhigte. „...ist das Herz des Waldes!“
„Was?“ rief Cosco und sein Kopf fuhr herum. „Aber, ich dachte...!“
Damos lachte leise auf. „Dass das Hirngespinste eines alten, senilen Mannes sind?“ Er schüttelte grinsend den Kopf. „Tja, Pech gehabt!“
„Wer ist da?“ Die Stimme dröhnte tief und in einer allumfassenden Intensität über die Lichtung.
Vilo wusste nicht zu sagen, woher sie kam, doch konnte er sie beinahe körperlich spüren.
„Hat da jemand was gesagt?“ fragte Cosco und blickte sich suchend um.
Im nächsten Moment erschrak er, genauso wie Vilo, als ein lautes Grollen hinter ihnen ertönte. Beide fuhren herum und konnten sehen, wie die beiden Bestien, die ihnen gefolgt waren, durch den Blättervorhang ebenfalls auf die Lichtung kamen. Eine von ihnen brüllte, während sie in einigen Metern Entfernung neben Vilo an den Rand der Senke trat. Die andere blieb im Hintergrund zurück.
Das Tier, dessen tiefschwarzes, borstiges Fell Vilo jetzt viel besser erkennen konnte, blieb stehen und brummte noch einmal, ganz so, als würde es der Stimme, wo immer sie auch hergekommen sein mochte, antworten.
Ohne, dass Vilo es bemerkt hätte, hatte sich eine der schenkeldicken Wurzeln auf das Monster zu bewegt und erhob sich jetzt vor ihm aus der Senke, während an ihrer Spitze eine deutliche Veränderung vorging. Wie in einer fließenden Bewegung, verwandelte sie sich zu einem langgezogenen, unheimlichen Schädel mit zwei flammend gelben Augen, einem dunklen Loch als Nase, dafür aber mit einem grässlichen, lippenlosen Maul mit spitzen, grauen Zahnreihen und einer dicken, blutroten Zunge, aus dem dickflüssiger, grüner Sabber zu Boden tropfte. Die lederartige Haut spannte sich eng über den bizarr anmutenden Schädelknochen und verlieh ihm das Aussehen eines Monsters aus einem Horrorfilm.
Und während dieses...Ding...ohne Körper am Ende der Wurzel vor dem mächtigen Tier hin und her wogte, brummte, grollte und brüllte die Bestie noch mehrmals, als wolle sie dem Wesen erklären, was geschehen war.
Vilo starrte in einer Mischung aus Faszination und Ekel auf dieses Schauspiel.
Plötzlich aber deutete das Monster mit dem Kopf in ihre Richtung. Nur einen Wimpernschlag später wirbelte der widerliche Schädel zu ihnen herum und starrte sie mit einem zischenden Fauchen extrem bösartig und zornig an, sodass Vilo derbe erschrak und sich sein ganzer Körper schlagartig versteifte.
„Oh Scheiße!“ hörte er Cosco neben sich sagen. Vilo wandte nur zögerlich seinen Blick in die Richtung des Captains, doch während er das tat, hörte er bereits weitere, bösartige Zischlaute und erstarrte erneut und noch viel brutaler, als er sehen konnte, wie sich ein Dutzend weitere Wurzeln aus der Senke erhoben und auf sie zu schwebten und sich dabei ebenfalls in grässliche Schädel verwandelten.
Fasziniert und gleichzeitig doch angeekelt, musste er mit ansehen, wie diese Dinger langsam näherkamen und er jede noch so widerliche Einzelheit in ihren ekeligen Fratzen immer deutlicher erkennen konnte.
Neben sich hörte er Cosco leise aufstöhnen, dann hörbar ausatmen und schließlich seine Worte. „Ich bin dann mal weg!“ Im selben Moment machte der Captain kehrt und rannte auf den Ausgang der Lichtung zu.
Vilos Kopf wirbelte herum und in seinem Gesicht stand großes Entsetzen, als er sah, was Cosco tat.
„Was?“ Wieder dröhnte diese wuchtige Stimme in seinem ganzen Körper. Und sie klang ärgerlich und absolut gereizt!
Sofort danach schossen vier armdicke Wurzeln aus der Senke heraus und über Vilos Kopf hinweg auf den Captain zu. Eine Sekunde später hatten sie ihn erreicht. Während sie ihn mühelos vom Boden pflückten – zwei Wurzeln wickelten sich um je einen Oberarm, eine um seine Taille und eine um seinen Hals – schrie Cosco erbärmlich auf, doch konnte er diesem Angriff nichts entgegensetzen. Rüde wurde er zurückgerissen und seine Schreie klangen schmerzvoll.
Vilo zwang sich aus seiner Starre. Er musste dem Captain helfen. Ohne zu zögern riss er sein Schwert in die Höhe, sprang auf den erstbesten der Wurzelarme zu – es war der, der Coscos Hals umschlossen hielt - und ließ die Klinge wuchtig herabsausen.
„Nicht!“ Den verzweifelten Schrei des Alten hörte er zwar noch, doch konnte und wollte er seine Aktion nicht beenden. Die höllisch scharfe Klinge schnitt durch die Wurzel wie Butter. Während das Ende um Coscos Hals schlagartig erschlaffte, zuckte der Stumpf aus der Senke wild umher. Gleichzeitig ertönte ein schrecklich quiekender Schrei in einer irrsinnig lauten und allumfassenden Intensität durch Vilos gesamten Körper, dass er aufschreien und sich vor Schmerzen krümmen musste.
„Komm her!“ Die dröhnende Stimme war wütend und nutzte Vilos Schmerzen aus, um blitzschnell und gnadenlos zu reagieren. Weitere armdicke Wurzeln schossen aus der Senke und pflückten sowohl Vilo als auch Damos aus dem Stand heraus in die Höhe, wobei jeweils eine von ihnen ihren Hals fest umschloss. Auch Cosco bekam eine neue Halskrause verpasst.
Während die drei zusammen ruckartig über die Senke gerissen wurden, konnten sie nur schreien, wodurch sich der Griff um ihre Hälse verstärkte und sie wild nach Luft ringen mussten.
Vilo versuchte gegen die Umklammerung anzukämpfen, doch spürte er die ungeheure Kraft in den Wurzeln, gegen die er nicht das Geringste auszurichten vermochte. In den Augenwinkeln sah er, dass auch die beiden anderen keine Chance gegen dieses Wesen hatten, das sie eisenhart gepackt hielt und jetzt langsam so herumdrehte, dass ihre Gesichter wieder in Richtung Baum schauen konnten.
„Ihr wagt es...?“ brüllte die Stimme wütend und die Wurzeln wurden noch enger gezogen. Vilo spürte eine kochende Hitze in sich aufsteigen und hatte das Gefühl, sein Kopf müsse gleich zerspringen.
„Nein!“ Damos konnte mit der letzten Luft dieses Wort formen.
„Ihr wagt es, eure Hand gegen mich zu erheben?“
„Nein!“ Noch einmal gelang es dem Alten, seinen Mund zu öffnen.
„Was?“ Die Stimme klang erneut wütend und einer der widerlichen Schädel schoss auf Damos zu. Trotz seiner Schmerzen konnte Vilo noch erkennen, dass die Stimme nicht von dem Schädel kam, dessen Mund sich nicht bewegte, sondern noch immer irrsinnig kraftvoll aus dem Nichts in seine Ohren dröhnte. „Du versuchst auch noch, es zu leugnen? Du bist erbärmlich. Stehe zu deinen Taten, dann wirst du zumindest ehrenvoll sterben!“
„Wir...haben keine...bösen Absichten!“
„Was?“ Die Stimme klang voller Hohn. „Wie kannst du es wagen, es abzu...?“ Der eklige Schädel war jetzt ganz dicht vor Damos Gesicht, als die Stimme plötzlich verstummte. Für einen unendlich langen Moment schien das Wesen den Alten zu betrachten. „Ich kenne dich!“ stellte es dann fest und der Druck auf Damos Hals verringerte sich.
„Weil ich nicht zum ersten Mal hier bin!“ rief der Alte schnell, während er nach Luft rang.
Wieder betrachtete ihn der Schädel sabbernd. „Ja, ich erinnere mich. Du warst schon einmal hier!“
„Damos!“ Vilo nahm seine letzte Kraft zusammen und rief dem Alten seinen Namen zu, damit er sehen konnte, dass er und Cosco nicht mehr viel Zeit hatten, bevor sie jämmerlich ersticken würden.
Damos warf ihm einen wissenden Blick zu. „Ja. Und ich habe dich immer geachtet!“ sagte er zu dem Schädel.
Das Wesen brummte. „Ich habe dir vertraut!“ stellte es zufrieden fest.
„Genau!“ stimmte Damos schnell zu.
Plötzlich aber knurrte das Wesen bösartig. „Und du dankst es mir, indem du Fremde bringst, die sich gegen mich stellen?“
„Nein!“ Damos wurde sofort panisch, weil er spürte, dass sich die Wurzel um seinen Hals wieder enger zog. „Halt! Warte!“ Und tatsächlich ließ der Druck auf seinen Kehlkopf nach. „Ich will es erklären! Aber erst musst du sie freigeben!“ Er schaute zu Vilo, der der Bewusstlosigkeit schon sehr nahe war.
Wieder brummte das Wesen und zwei andere Schädel schoben sich dicht vor Vilo und Cosco, schienen sie in aller Gemütsruhe zu beobachten und zu inspizieren, dass Vilo fast der Arsch vor lauter Ungeduld geplatzt wäre, wenn er nicht gerade dabei gewesen wäre, händeringend am Leben zu bleiben.
„Also gut!“ meinte die Stimme endlich und die Wurzeln an den Hälsen der beiden Männer lockerten sich. Sofort rangen beide wild nach Luft und mussten ausgiebig husten.
„Danke!“ erwiderte Damos und war sichtlich erleichtert. „Und jetzt lass mich erklären!“
„Nein!“ rief Vilo und musste sofort wieder erbärmlich husten.
„Was?“ Die Stimme des Wesens klang erneut verärgert. Der Schädel vor Vilo schob sich fast direkt vor ihn und starrte ihn mit einem hasserfüllten und gefährlichen Blick an, während der Sabber aus dem furchtbaren Maul tropfte.
„Ich will es erklären!“ raunte Vilo und erwiderte den Blick trotz all des Ekels, den er empfand, furchtlos und geradeheraus.
Für einen Moment war es sehr still auf der Lichtung, weil das Wesen zu überlegen schien. „Also gut!“ meinte es aber dann. „Du hast einen Versuch!“
Vilo nickte und atmete tief durch, um sich zu sammeln. „Mein Name ist Vilo! Ich bin...scheiße...ich war als Nuri der Oberbefehlshaber der poremischen Streitkräfte. Unter meiner Leitung haben wir versucht, den Angriff der Fremden abzuwehren, doch wir sind kläglich gescheitert. Die eilends zusammengerufene Konferenz, um die noch verbliebenen Kräfte gegen den Feind zu bündeln, wurde zerschlagen, bevor sie überhaupt stattfinden konnte. Wir mussten von Adi Banthu fliehen und es hat uns hierher nach Orotash verschlagen. Unser Schiff und die Flüchtlinge befinden sich im Moment in dem Dorf im Süden. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um Treibstoff zu besorgen, damit wir wieder von hier verschwinden können. Wir wollen weiter nach Süden, um zu sehen, ob es noch Truppen gibt, die sich dem Feind entgegenstellen können, damit wir diesen schrecklichen Krieg endlich beenden können!“
„Was?“ Das Wesen hatte Vilo bisher ruhig und still zugehört, doch plötzlich erhob es seine Stimme und sie klang sofort wieder sehr verärgert. „Was redest du da? Krieg?“
„Ja, Krieg!“ bestätigte Vilo, doch dann hielt er inne. „Ach, ist diese kleine, unwesentliche Tatsache noch nicht bis in diesen beschaulichen Teil der Welt vorgedrungen, oder wie?“
„Mir ist nichts von einem Krieg zu Ohren gekommen!“ erwiderte das Wesen wie zur Bestätigung, jedoch klang seine Stimme wenig überzeugt. „Du lügst!“ rief es dann auch verärgert aus.
Doch Vilo blieb ruhig und lächelte traurig. „Ich wünschte, es wäre so!“ Dann wurde er wieder ernst und er klang ebenfalls verärgert. „Aber die Millionen von Toten lassen sich wohl kaum wegdiskutieren!“
„Tote? Millionen?“ Die Stimme des Wesens klang unsicher. „Welch kranker Geist steckt in deinem Körper, dass du dir so etwas ausdenken vermagst?“ zischte es aber dann.
„Ich bin nicht krank!“ rief Vilo sofort und erbost. „Und ich lüge nicht! Und es ist mir verdammt nochmal sowas von scheißegal, ob du mir glaubst oder nicht, du hässliches...Ding. Was immer du auch wirklich sein magst. Aber ich habe keine Zeit und noch viel weniger Lust, mich weiter mit dir über Dinge zu streiten, die du nicht wahrhaben willst, während dieser furchtbare Krieg da draußen mit jeder weiteren Minute noch mehr Blut fordert. Also entweder, du machst dem Allem jetzt ein Ende und tötest uns auf der Stelle oder du nimmst deine Drecks...wurzeln von uns und lässt uns unserer Wege gehen!“
„Genau!“ stimmte auch Cosco zu. Als Vilo ihm einen dankbaren Blick zuwarf, konnte er sehen, dass der Captain entschlossen wirkte, dass ihm aber auch der Part mit dem eigenen Tod augenscheinlich weniger gefiel.
„Ich habe Mittel und Wege, die Wahrheit herauszufinden!“ meinte die Stimme.
„Dann tu es verdammt. Aber tu es schnell!“
Wieder herrschte einen Moment Stille. „Also gut!“ begann die Stimme dann. „Aber ich muss dich warnen. Die Prozedur ist schmerzhaft und wenn ich am Ende erkenne, dass du gelogen hast, wirst du einen langen und qualvollen Tod sterben, wie du ihn dir in deinen schlimmsten Alpträumen nicht vorzustellen vermagst!“
„Ja, ja!“ wehrte Vilo aber sofort genervt ab. „Mit wahrgewordenen Alpträumen kennen wir uns mittlerweile bestens aus. Und jetzt sieh zu, dass du in die Gänge kommst!“ Vilo war jetzt richtig in Fahrt, doch anstatt das Wesen weiter einzuschüchtern, begann es plötzlich leise, aber sehr selbstsicher zu lachen.
„Dann mach dich bereit!“ rief es derart kraftvoll, dass Vilo glaubte, dass ihm die Ohren abfallen würden.
Eine Sekunde später erkannte er jedoch, dass der Verlust seiner Hörmuscheln wohl noch das mit Abstand geringste Übel für ihn sein würde!
Denn während es eigentlich gut für ihn zu laufen schien, weil sich unter ihm eine der dicksten Wurzeln so in die Höhe drückte und direkt unter ihn schob, dass er das Gefühl hatte, er würde auf dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes Platz nehmen, glaubte er bei dem, was sich vor seinen Augen abspielte, er würde wahrhaftig vollkommen spinnen.
Ein gewaltiger schwarzer Schatten löste sich aus der Dunkelheit direkt vor dem Stamm des Baumes und erhob sich langsam auf seine Höhe.
Vilo erschrak augenblicklich, während seine Augen versuchten, zu erschließen, was sich ihm da näherte, doch es passierten so viele Dinge gleichzeitig, dass er hoffnungslos überfordert war.
Dutzende von Wurzeln aller Größen und Längen schlängelten um ihn herum und an ihm vorbei, während sich der Boden der Senke lichtete und sich ein monströser Kopf hervor schälte, der augenscheinlich nur aus dem sicherlich widerlichsten und furchterregendsten Maul zu bestehen schien, das Vilo je zu Gesicht bekommen hatte. Es war beinahe kreisrund und maß mindestens drei Meter im Durchmesser. Ein Dutzend Zahnreihen, bestehend aus teils unterarmlangen, leicht gebogenen, rasiermesserscharfen, elfenbeinfarbigen Zähnen waren im Abstand von einigen Zentimetern hintereinander angeordnet, was dem Maul eine enorme Tiefe verlieh. Dort, wo schließlich der Schlund begann, schob sich eine fleischig-rosa Zunge hervor, die sich in fünf tentakelartige, meterlange, glitschige Fangarme aufteilte, die bedrohlich vor Vilo hin und her wogten.
Vilos Herz setzte bei diesem widerlichen Anblick zunächst für eine Sekunde aus, bevor es ziemlich zu rasen begann. Er spürte, wie er zunehmend nervös wurde und kalten Schweiß auf seiner Stirn und an weniger vorteilhaften Stellen.
Im nächsten Moment erhob sich hinter ihm eine weitere, armdicke Wurzel und während sie sich über seinen Kopf schob, verformte sich ihr Ende zu einer Art Hand, mit acht langen, dünnen Fingern, die sich um ihn schloss. Je zwei Fingerspitzen legten sich auf seine Stirn, an die Schläfen, direkt hinter die Ohren und an den Hinterkopf. Bevor Vilo noch richtig wusste, wie ihm geschah, wurde der Druck dieser Fingerspitzen deutlich höher und er spürte an den Berührungspunkten einen stechenden Schmerz, der ihn aufstöhnen ließ, als sich nadelartige Fortsätze aus den Fingerspitzen etwa einen Zentimeter in seinen Kopf schoben.
„Entspann dich...!“ meinte die Stimme, die nach wie vor weder aus dem widerlichen Maul direkt vor Vilo, noch aus einem der vielen ekligen Schädel um sie herum, kam, sondern irgendwo undefinierbar aus dem Nichts und doch von überall gleichzeitig. „Dann werden die Schmerzen erträglicher sein!“
Doch das konnte Vilo nun rein gar nicht und so musste er sein Gesicht vor Schmerzen verzerren, seine Hände so fest er nur konnte zu Fäusten ballen und erbärmlich stöhnen, während er das Gefühl hatte, jemand würde mit glühend heißen Nadeln in seinem Kopf nach Lust und Laune herumwühlen.
Doch all das war absolut Nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die er in diesen Momenten in seinem Herzen verspürte, denn Vilo sah all die schrecklichen Szenen des Krieges, all die fruchtbaren Momente von tausendfachem Tod, all die schmerzenden Bilder von unfassbarem Leid noch einmal vor seinem inneren Auge vorbeilaufen.
Während er selbst wieder in den grausamen Schrecken des Krieges, der hier in den Wäldern von Orotash für einige Stunden entrückt war, eintauchte, hörten Cosco und Damos jedoch, wie das Wesen schmerzvoll stöhnte, fast sogar erschrocken aufschrie und dabei seine Tonlage von dem bereits bekannten, tiefen Dröhnen in ein weibliches Stimmmuster änderte.
Die Minuten, in denen das Wesen in die Gedanken des ehemaligen Nuri schaute, schienen sich unendlich dahinzuziehen.
Cosco blickte immer wieder nervös zu Vilo und in den letzten Sekunden konnte er sehen, wie er immer ruckartiger, immer wilder und immer schmerzhafter zuckte. Gleichzeitig wurde auch das Stöhnen des Wesens intensiver, lauter und quälender, bis schließlich ein irrsinnig verzweifelter Schrei ertönte, der die komplette Lichtung vollkommen einzunehmen und zu durchdringen schien und sich die Hand um Vilos Kopf ruckartig von ihm löste, sodass auch er aufschreien musste.
Während er wie nach einem langen Sprint schweratmend verschnaufte, verklang der Schrei des Wesens und es kehrte eine unheimliche Stille ein.
Bis zu dem Moment, da sich Vilo wieder erholt hatte. „Und? Hast du gesehen, was du nicht sehen wolltest?“ rief er zornig, denn er war sicher, dass die Bilder, die er durchleben musste, auch die waren, die das Wesen wahrgenommen hatte.
Da er scheinbar keine Antwort auf seine Frage bekommen sollte, wollte er schon weiter wettern, doch plötzlich begannen sich die Wurzeln, die sie in der Luft hielten, zu bewegen und sie wurden sanft zurück auf den Boden direkt vor der Senke abgesetzt. „Ja...!“ Die Stimme des Wesens klang ernst, traurig, fast schon erschüttert – und weiterhin weiblich. „...ich habe deine Erinnerungen gespürt. Sie waren...schrecklich!“
„Ach ja?“ raunte Vilo. „Du hättest dabei sein sollen. Live und in Farbe wirkte alles noch viel...intensiver!“
„Ich...!“ Die Stimme verstummte und war jetzt nicht mehr als ein Flüstern. „Es tut mir leid, dass ich euch misstraut habe...!“
„Das will ich wohl auch hoffen!“ rief Vilo und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schläfen. „Verdammt man, das hat echt wehgetan!“
„...aber ich wusste nichts von dieser Katastrophe, die über euch hereingebrochen ist!“ Die Stimme klang wirklich traurig und mitfühlend.
Vilo wollte schon etwas Patziges erwidern, doch er spürte, dass das Wesen seine Entschuldigung ernst meinte. Die Tatsache, dass die Stimme jetzt weiblich klang, registrierte er zwar, ging aber nicht darauf ein. „Ja, ja, schon gut! Obwohl man ja annehmen sollte, dass du als Chef hier wissen solltest, was auf diesem Planeten abgeht! Du bist doch hier der Megaboss, oder?“ Er schaute neben sich zu Damos, der ihm zunickte.
„Ja!“ erwiderte die Stimme. „Ich bin das Herz des Waldes und damit Beschützerin aller Pflanzen und Tiere innerhalb dieses Waldgebietes! Und doch habe ich von einem Krieg keine Kenntnis erlangt!“ Die Stimme schien sich selbst Vorwürfe zu machen.
„Wie wäre es eigentlich, wenn du dich mal zeigen würdest?“ meinte Vilo dann mit einem Male. „Ich rede nämlich nicht gern mit Jemandem, dem ich dabei nicht in die Augen schauen kann. Oder bist du so hässlich, dass du Komplexe hast? Nachdem, was wir bisher gesehen haben, ist das wohl anzunehmen, was? Immerhin klingt deine Stimme jetzt schon mal etwas ansprechender!“
„Ich habe keinen Körper in dem Sinne, wie ihr ihn kennt. Ich kann daher in vielen Formen erscheinen. Aber vielleicht…?“ Die Stimme brach ab und wieder kam vielschichtige Bewegung in das gewaltige Wurzelwerk des Baumes. Das furchterregende Maul, das lange Zeit direkt vor Vilo verharrt hatte, sank wieder zurück in die Senke und auch die Wurzeln mit den ekligen Schädelfratzen tauchten ab. Dann erhoben sich neue Wurzeln aus der Dunkelheit, Hunderte von ihnen, in allen Längen und Stärken. Sie strebten alle auf einen Punkt zu, schienen sich dort zu vereinen und innerhalb weniger Sekunden erwuchs aus diesem gewaltigen Wirrwarr ein neues Gesicht.
Vilo, Cosco und auch Damos zuckten erschrocken zurück und atmeten hörbar ein. Denn was sie ihnen offenbarte hatten sie wieder nicht erwarten können. Jedoch dieses Mal nicht im negativen Sinne, sondern im absolut Positiven in Form des Gesichtes einer atemberaubend schönen Frau.
Keiner von ihnen hatte auch nur eine entfernte Ahnung, wie Wurzeln – und aus nichts Anderem bestand dieses Gesicht – in der Lage waren, eine solch ebenmäßige, plastische und wunderbare Oberfläche zu kreieren, die ihnen das Gefühl gab, als würden sie in das makellose Antlitz einer wahren Königin schauen.
„...gefällt es euch so besser!?“ Die Lippen formten die Worte, die Augen leuchteten und bewegten sich, der Mund verzog sich und ein sanftes Lächeln erschien.
„Meine Fresse!“ entfuhr es Cosco sichtlich beeindruckt.
„Was ist?“ fragte das Gesicht und schien sofort besorgt. „Ist das nicht besser?“
„Doch, doch!“ meinte Vilo sofort. „Mein Freund hier steht leider nur auf Männer, weißt du!“
„Oh!“ Das Gesicht zeigte Verblüffung, während Vilo zu Cosco schaute und sich über dessen Entrüstung amüsierte.
Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke. „Gibt es eigentlich noch mehr von euch?“ fragte er.
„Ich weiß nicht?“
„Wie, du weißt es nicht?“
„Na ja, früher gab es zwölf von uns. Wir waren auf dem ganzen Planeten verstreut und wachten von dort aus über das Leben in den Wäldern. Aber dann...im Laufe der Jahrhunderte kamen immer mehr Menschen und nahmen mehr vom Wald, als die Natur wieder ersetzen konnte. Am Ende zerstörten sie einige von uns und letztlich brach die Verbindung untereinander ab. Das letzte Mal, als ich Kontakt hatte, hatte man bereits sieben von uns getötet. Ich weiß nicht, ob die anderen überlebt haben, doch ich habe wenig Hoffnung. All das ist schon so furchtbar lange her...!“
„Könntest du wieder versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen?“
Das Gesicht zeigte, dass es nachdachte. „Nein, ich glaube nicht! Früher waren alle Wälder untereinander verbunden und wir konnten uns über die Pflanzen austauschen, aber heute gibt es nur noch wenige, große Waldgebiete auf diesem Planeten...!“ Das Gesicht stöhnte und zeigte Enttäuschung. „Ich wüsste nicht, wie das jetzt noch möglich sein sollte?“
„Aber...?“ Vilo verstummte, senkte den Kopf und überlegte kurz. Dann erhellte sich sein Gesicht und er schaute zu der großen Bestie, die sie verfolgt hatte und die noch immer einige Meter entfernt neben ihnen stumm und abwartend auf der Lichtung stand. „...du kannst mit Tieren reden!?“
„Ja, ich kann mit den Tieren reden!“
„Dann könntest du sie als Boten nutzen!“
„Als Boten?“ Das Gesicht zeigte Unverständnis. „Wie soll das gehen?“
„Du kannst ihnen sagen, sie sollen die anderen deiner Art suchen und ihnen Nachrichten für sie mitgeben!“
„Ja...!“ Das Gesicht schien noch eine Sekunde nachdenklich, dann nickte es. „Das könnte ich. Wenn sie es freiwillig tun. Ich habe nicht die Macht, ihnen etwas zu befehlen!“
„Na, angesichts der Umstände, dürfte eine Einwilligung wohl möglich sein!“ meinte Vilo.
„Was meinst du?“ fragte das Gesicht. „Was soll ein Kontakt deiner Meinung nach denn bringen?“
„Was es bringen soll?“ Vilo lachte leise auf und atmete tief durch. „Dieser Krieg sucht den ganzen Planeten heim. Er ist nicht nur eine Sache der Menschen, denn der Feind macht auch vor den Wäldern und den Tieren darin nicht Halt. Es geht hier also um unser aller Zukunft – auch um ihre...!“ Er deutete auf die beiden Tiere. „...und auch um deine!“ Er nickte dem Gesicht zu. „Deshalb darf sich niemand von uns der Verantwortung verschließen, alles zu tun, damit dieser Krieg wieder endet, bevor es nichts mehr gibt, was sich noch zu retten lohnt. Wir Menschen sind bereit unser Leben dafür zu geben, aber wir allein sind zu schwach. Wir brauchen Hilfe! Euch!“
Das Gesicht schien nachdenklich. „Ich verstehe, was du sagen willst. Aber wie können wir etwas ausrichten?“
„Indem du Kontakt zu den anderen deiner Art aufnimmst und ihnen mitteilst, was du weißt und sie auch davon überzeugst, mit uns zu kämpfen. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du den Tieren nichts befehlen kannst, aber ich denke doch, dass du genügend Einfluss auf sie hast, um sie davon zu überzeugen, sich uns und unserer Sache anzuschließen. Hier innerhalb der Grenzen der Wälder sind sie...!“ Wieder deutete er auf die beiden Tiere. „...die uneingeschränkten Herrscher und absolut fähig, den Feind zu besiegen. Und wozu Pflanzen fähig sein können...!“ Er rieb sich demonstrativ den Hals. „...haben wir gerade erfahren! Also glaube ich, dass es durchaus einen Sinn macht, die anderen deiner Art zu suchen, damit ihr euch verbündet und uns bei unserem Kampf gegen diese Pest zur Seite steht!“
„Aber das könnte unser aller Tod bedeuten!“
„Falsch!“ rief Vilo sofort und schüttelte den Kopf. „Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn ihr kämpft wird es Verluste geben, aber nur, wenn ihr untätig bleibt, werdet ihr alle sterben – so wie wir!“
„Deine Worte erzeugen Schmerz in mir!“ meinte das Gesicht. „Aber sie klingen logisch!“ Es drehte sich zu der Bestie neben den Männern und schaute sie einen langen Moment einfach an. Das Tier blickte zurück, war unbeweglich, schien einer lautlosen Stimme zu lauschen. Dann plötzlich brummte, fauchte und schrie es einige Male, wobei all das aber nicht unbedingt bedrohlich oder negativ klang. Gleich darauf drehte sich die Bestie um und rannte, zusammen mit dem anderen Monster, durch den Blättervorhang von der Lichtung.
Das Gesicht wandte sich wieder Vilo zu. „Leira hat gehört, was ihr gesagt habt. Sie ist bereit, euch zu helfen!“
„Prima!“ Vilo war sichtlich zufrieden. „Dann hast du sie auf die Suche nach den anderen deiner Art geschickt?“
„Sie wird diese Aufgabe an ihren Sohn weitergeben! Für sie selbst habe ich eine andere Mission vorgesehen!“
„Die da wäre?“ fragte Vilo etwas irritiert.
„Sie wird euch nach Norden bringen!“ entgegnete das Gesicht und lächelte sanft. „Das ist sicherer für euch und geht wesentlich schneller!“
Gerade als Vilo etwas darauf erwidern wollte, hörte er Geräusche vom Eingang auf die Lichtung. Als er sich herumdrehte sah er die beiden Tiere, die er schon kannte und zusätzlich noch ein drittes Exemplar davon.
„Kann man ihnen vertrauen...?“ fragte Vilo etwas unsicher. „Ich meine, sie sehen nicht gerade aus, als könnte man mit ihnen Freundschaft schließen!“
Jetzt lächelte das Gesicht deutlich. „Ihr werdet ihnen vertrauen müssen, wenn ihr euer Ziel schneller erreichen wollt. Aber ich kann euch beruhigen. Leira und ihre Freunde sind wesentlich friedlicher, als es den Anschein hat...!“
„Na, das beruhigt ja ungemein!“ meinte Cosco mit einem säuerlichen Lächeln.
Das Gesicht schaute den Captain an und lächelte erneut. „Sie fressen Fremde nur höchst selten!“
„Was?“ rief Cosco sofort nervös.
„Hey, das war nur ein Scherz oder?“ erwiderte Vilo ebenfalls sehr nervös. „Ich meine, das wäre doch blöd, wenn unsere zarte Freundschaft durch so etwas gleich wieder gekappt werden würde. Eigentlich wollte ich in einem Stück am Ziel ankommen!“
Das Gesicht sah ihn einen Moment freundlich an, dann nickte es. „Das kann ich mir vorstellen!“ Dann grinste es beinahe breit.
Vilo wollte sich schon abwenden und zu Leira und den beiden anderen Tieren gehen, doch dann stutzte er. Das Grinsen hatte ihn misstrauisch gemacht. „Wie...meinst du das?“
Aus dem Grinsen wurde ein strahlendes Lächeln. „Ich habe in deinen Erinnerungen nicht nur den Tod gesehen!“
„Was soll das heißen?“
„Ich habe auch deine Frau gesehen...!“
„Kaleena?“ Vilos Gesicht wurde traurig und gequält. Der Gedanke an seine Frau nahm ihn sofort komplett ein.
„...und das Kind, das sie in sich trägt!“
Vilo hörte die letzte Bemerkung des Gesichtes kaum, während Coscos Blick schlagartig ernst wurde. Dann aber hatten sich die Worte doch ihren Weg in seinen Verstand gebahnt. „Ihr...?“ Er blickte auf und starrte das Gesicht verblüfft an. „...was?“
„Ihr Kind!“ meinte Cosco neben ihm.
Vilos Kopf wirbelte zu ihm herum und er erschrak sichtlich. „Was?“
„Ähm...!“ Cosco war sofort nervös. „Ihre Frau…ich meine Kaleena...ist äh…sie ist ...schwanger, oder?“
„Aber…?“ Vilo sah man deutlich an, dass er um Fassung rang. „Woher wissen sie das?“
„Das…! Das sieht man doch! Ich meine, ich habe...!“ Cosco stoppte ab und atmete einmal hörbar durch. „Meine Frau hat sich damals auch so verhalten, als sie mit Kendig schwanger war. Es ist mir halt aufgefallen!“
„Aber...warum haben sie mir das nicht gesagt?“
„Weil...! Weil ich sie nicht beunruhigen wollte!“ erwiderte der Captain. „Und weil ich dachte, sie wüssten das!“
„Ich…!“ Vilo schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht...!“ In seinem Kopf schossen Gedankenfetzen umher, die ihm deutlich zeigten, dass Cosco Recht hatte. Jetzt, wo er um diesen Umstand wusste, erschienen sie ihm in einem völlig anderen Licht und waren glasklar erkennbar. Sofort formulierte sich eine einzige Frage in seinem Inneren: Warum hatte Kaleena ihm das verschwiegen? Sie wusste doch, dass er sich Kinder wünschte, ein Dutzend oder besser noch zwei. Und sie wollte doch auch Kinder. Natürlich noch nicht jetzt, sondern erst in ein, zwei Jahren, wenn... Ein böser Schock fuhr ihm durch alle Glieder und seine Augen weiteten sich. „Oh nein...!“ entfuhr es ihm. Sie hatten sich darauf verständigt, noch ein wenig mit ihrem Kinderwunsch zu warten, bis geklärt war, ob Vilo weiterhin in Kos Kampalot stationiert bleiben oder versetzt werden würde. Und jetzt war es trotz Verhütung dennoch geschehen. Das höchste Glück eines liebenden Paares war eingetreten – doch zum schrecklichsten aller Zeitpunkte.
Zwei Jahre wollten sie noch warten, bis alles geregelt und sicher war. Doch was würde jetzt in zwei Jahren sein? Der Krieg, dieser furchtbare, gnadenlose Krieg hatte alles verändert. Jetzt ging es nicht mehr um finanzielle Sicherheit, sondern ums nackte Überleben. Und selbst, wenn das erreicht werden würde, blieb doch ein Leben in Angst und Schrecken, auf der Flucht, vielleicht sogar in Sklaverei.
So viele Menschenopfer hatte dieser Krieg schon gefordert und es waren sicherlich unfassbar viele Kinder darunter. Die Schwächsten unter ihnen, mehr als alle anderen dem Tode geweiht.
Und jetzt war Kaleena schwanger und würde ein weiteres dieser schwachen Leben in diese schreckliche Welt setzen, hinein in einen gnadenlosen Krieg – hinein in eine Welt, die alles andere als lebenswert war.
„Oh mein Gott!“ Vilos Erkenntnis traf ihn härter als jeder Hammerschlag. Wie schlimm musste es für Kaleena gewesen sein, zu erfahren, zu wissen, dass sie schwanger war, dass sie neues Leben in sich hatte und genau dieses Leben, das sie lieben würde, wie sonst nichts auf der Welt, nichts außer Grausamkeit und Tod zu sehen bekommen würde? Selbst, wenn es ihnen gelingen würde, dieses kleine Leben auf Dauer zu retten, welch ein Leben würde es denn im Zeichen von Terror und Mord werden?
Ja, Vilo war sicher: Wenn ihm diese Gedanken jetzt in den Kopf schossen, dann hatte auch Kaleena sie gehabt. Und dann wusste er auch, welche Schlussfolgerung sie daraus gezogen hatte.
Wenn sie die Wahl hatte, ihrem eigenen Kind das Leben zu schenken oder zu verhindern, dass es überhaupt in diese schreckliche Welt hineingeboren wurde, dann... – und Kaleena hatte eine Wahl gehabt!
Oh, Vilo wusste in diesem Moment ganz genau, welche Entscheidung sie getroffen hatte!
Und jetzt war sie allein in dem Dorf im Süden und wartete auf ihn. Umgeben von Fremden – und zwei Ärzten! Und der Gewissheit, dass Vilo drei Tage brauchen würde, um zurückzukehren. Genug Zeit, um es zu beenden, ohne dass Vilo je etwas davon erfahren hätte. „Um Himmels willen!“ rief er und starrte mit großen Augen in die Runde.
„Es tut mir leid, ich...!“ hob Cosco an, doch er verstummte, weil er erkannte, dass seine Worte keinen Sinn ergaben. Das Verhalten des ehemaligen Nuri hatte auch bei ihm Gedanken ausgelöst und auch er war zu einem furchtbaren Schluss gekommen.
„Ich muss zurück!“
„Was?“ Damos war sofort geschockt.
„Ich muss zurück! Sofort!“ Vilo machte kehrt.
„Aber...! Nein, halt!“ rief der Alte ihm nach. „Wir sind schon zu weit. Wir sind schneller, wenn wir unseren Weg fortsetzen!“
Vilo hielt inne und drehte sich um. In seinen Augen waren Tränen zu sehen.
„Sie brauchen einen Tag, um zurückzukehren!“ meinte Damos mitfühlend. „Mit Leiras Hilfe werden wir in wenigen Stunden in dem Dorf im Norden sein und dann können wir mit einem Transporter noch schneller zurückkehren!“
Vilo schien noch nicht überzeugt.
„Ihr Freund hat Recht!“ stimmte das Gesicht zu. „Verlieren sie keine Zeit!“
Vilo blickte in die Runde, dann nickte er. „Also gut!“ Er ging direkt auf Leira zu, die ihn mitfühlend ansah. Als er bei ihr war, winkelte sie ihren rechten Vorderlauf so an, dass Vilo bequem aufsteigen konnte. Während er sich direkt hinter ihren Kopf setzte, taten es ihm Cosco und Damos gleich.
Vilo schaute noch einmal zu dem Gesicht. „Danke!“
„Ich habe zu danken. Durch eure Hilfe ist mir meine Verantwortung bewusstgeworden! Ihr habt mein Versprechen, dass wir nichts unversucht lassen werden, euch in diesem Krieg zur Seite zu stehen!“
„Es ist gut zu wissen, dass man nicht alleinsteht!“
Das Gesicht lächelte. „Lebt wohl, meine Freunde. Wer weiß, vielleicht werden wir uns eines Tages wieder begegnen!?“
Vilo nickte.
„Viel Glück für euch alle!“ rief das Gesicht. „Und jetzt, Leira, lauf geschwind wie der Wind!“
Das Tier brüllte, dann bäumte es sich auf, drehte sich herum und rannte von der Lichtung in den dunklen, unbekannten Wald hinein, wo es letztlich ohne Pause in einer beachtlichen Geschwindigkeit nach Norden hetzte, während Vilos Herz mit jedem Schritt immer nervöser, aber auch schwerer wurde, weil ihm eine Stimme tief in seinem Inneren deutlich sagte, dass er bereits zu spät war...