Читать книгу "Dann hör doch einfach auf…!" - Lebensgeschichte eines Alkoholikers - Alfred Endres - Страница 12

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Der bewegte junge Mann

Langsam verfestigte sich also mein Erwachsenendasein. Ich trank jeden Tag Bier, hatte damit keinerlei Probleme, suchte – wie Millionen andere auch – eine Partnerin und hatte das Gefühl, dass da „noch was kommt“. Mein Junggesellendasein war geregelt, ich war damit weniger unzufrieden als je zuvor und beruflich war ich – wenn auch bescheiden – auf dem aufsteigenden Ast. Die Regelmäßigkeit beim Biertrinken wurde allerdings zum Problem, das langsam aber stetig heranwuchs.

Wenn ich drüber nachdenke, kommt es mir so vor, als wenn ich mir, insbesondere während meiner Beziehungen, selbst eine Fußangel gelegt hatte. Ich strickte mir in meinem Kopf die Idee zusammen, dass ich „ein wenig“ mehr trinken könnte, wenn ich nur die Gelegenheiten dazu ausnützen würde. So, dass es keiner merkt. Dann kommt auf das Bier beim Essen oder das Glas Wein beim Fernsehen, locker nochmal die doppelte Menge, ohne dass es jemanden wirklich stören würde. Ich tappte allerdings in eine Falle: Das Leben, das ich mir auf diese Weise gestaltete, bot viel mehr Gelegenheiten, als ich vorher vermutete. Was ich auch nicht wusste, aber mit den Jahren von selbst herausfand: Der Trinker schafft sich Gelegenheiten in hintersten Winkel der Erde. Nicht nur, wenn sie sich ergeben.

Das Bier im Keller, das beim Auto volltanken, eines, wenn man die Eltern besucht, es gibt immer eine Gelegenheit zu trinken. In jeder Lebenslage und zu jeder Zeit. Und es gibt nichts auf der Welt, bei dem der Alkoholiker nicht sagen würde: „Jetzt wär ein Bier recht.“

Das Ganze wird natürlich rund um die Uhr angeheizt vom Bild in der Öffentlichkeit, von den Medien, der Gesellschaft, der Werbung, alles trichtert einem ein, dass man zu dieser und jener Gelegenheit jetzt einen zur Brust nehmen sollte. Um …, ja um was? Um zu beweisen, dass man ein ganzer Kerl ist? Um eine Situation zu krönen bzw. ihr einen Stellenwert zu geben, den sie vorher noch nicht hatte?

„Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist ein Mineralwasser wert.“

„Wie das Land, so die Orangenlimo.“

„Birnensaft, ja gibt’s denn was Schöneres?“

Man stelle sich diese einschlägigen Bierwerbungen mit entsprechend geändertem Text vor. Das würde keinem Menschen im Ernst einfallen. Nein, der Superlativ endet mit dem Genuß von Bier. Für jemanden, der nicht resistent ist, geht diese Werbung unter die Haut. Sie suggeriert einem, das zu bekommen, was einem fehlt. Ein Ziel, Anerkennung, Werte, Gutes, Schönes, Selbstwertgefühl.

Mein mangelndes Selbstwertgefühl. Die schlimmsten Krankheiten werden die, die man lange nicht behandelt, weil man sie nicht bemerkt. So war es mit meinem Ego leider auch. Wäre ich selber mit mir im Reinen gewesen, hätte ich viel eher Liebe zu meinem Körper und meiner Gesundheit empfunden. Aber wer schon als Kind von Gleichaltrigen gemieden wird und nicht versteht warum, der schaut eben irgendwann in den Spiegel und glaubt eines Tages, was die anderen sagen. Jedenfalls habe ich mir irgendwann keine großen Sprünge mehr zugetraut, weil es sonst auch keiner tat.

Ich liebte meinen Vater und tue es post mortem immer noch, aber in punkto Selbstbewusstsein warf er mir mitunter Knüppel zwischen die Beine, die meine kindliche Seele nie vergaß. „Mein Sohn“, sagte er mit dem Bierglas in der Hand, „ist so sportlich, der findet nicht mal den Eingang der Turnhalle.“ Schallendes Gelächter. Ich weiß nicht, was damals schlimmer war, die Bloßstellung oder die Tatsache, dass er Recht hatte.

Ich hatte mangels Zuspruch in solchen Bereichen angefangen, mir meine Belohnung selbst zu geben. Mit dem verdientem Schluck danach. Nach allem. Ich wollte mich abheben. Mit irgendetwas, dass ich anders machte als andere. Dachte ich wirklich, es ist bewundernswert, wenn man statt Sport zu betreiben mehr trinken kann als der Durchschnitt? Ich fand nichts Bewundernswertes oder gar Liebenswertes an mir, zu langweilig erschien alles an mir. Da muss man doch ein paar Ecken und Kanten haben, mit denen man hervorsticht. Das Kopfschütteln der anderen war besser als gar keine Aufmerksamkeit. Schlechte Publicity ist besser als gar keine, dachte ich unterschwellig. Schließlich habe ich es mit eigenen Augen gesehen: Jeder Mensch, der genügend Ausstrahlung hat, wird besser von der Umwelt akzeptiert und findet schneller jemanden, der ihn liebt als einer, der gar keine Ecken und Kanten hat.

„Jetzt hab ich mir aber ein Bier verdient.“ Ich habe angefangen mich zu loben, in einer Welt, in der ich kein Lob zu erwarten hatte. Im Beruf? Ja, aber doch eher selten. Und wenn, welchen Stellenwert hat das fürs Menschsein? Ich bin eine gute Ameise, zahle Steuern und funktioniere. Gut fürs System, schlecht für die Seele. Darauf trinken wir jetzt aber einen, das muss gefeiert werden. Was bleibt ist die Traurigkeit danach.

Ich habe damals mangels Selbstreflektion die Situation weder erkannt noch wahrhaben wollen. Die materielle Situation war zu gut, als dass ich mir eingestanden hätte, abgrundtiefe Defizite zu haben. Der tägliche Bierkonsum war gegen Ende Zwanzig ein normaler Bestandteil meines Lebens und ich hatte mich nicht im Geringsten damit beschäftigt, ob dies nun eventuell schlecht für mich sei. Die Fangschlinge der Sucht zog sich zu, ohne dass ich es merkte. Es klappte ja fast alles in meinem Leben, und so brauchte ich mir keine ernsten Sorgen zu machen.

Noch war es nicht soweit, dass es einen Leidensdruck gegeben hätte, der mich in den Grundfesten zum Nachdenken bewegt hätte. Dann kamen aber die ersten „richtigen“ Denkanstöße. Aber auch die ließ ich an mir abgleiten. In meiner – mittlerweile geliebten – Arbeit herrschte wie gesagt ein offener, liberaler Umgangston und dazu gehörte auch, dass Tacheles geredet wurde. Und zwar sachlich. Keine Beschuldigungen, keine Anklagen, aber Feststellungen und Fragen. Und so fragte denn auch mein Gruppenleiter im Beurteilungsgespräch, wie es denn prinzipiell mit meinem Alkoholkonsum aussähe. Hintergrund der Frage war in erster Linie, dass die Firma Produkte für die Sicherheit und Unversehrtheit der Autofahrer herstellte, und da ist Alkohol das Letzte, was dazu passt. Schließlich hatte ich mir bei der erst besten Gelegenheit auch hier schon mal mit den Kollegen in der Mittagspause ein Weißbier genehmigt. Und einmal auch ein Zweites. Dass ich damit auffallen würde, wollte ich nicht hören. Ich wollte es nicht mal als Schuss vor dem Bug sehen, als mir der Chef sagte, ich sei auch im Supermarkt nebenan schon mal mit der Bierbüchse gesehen worden.

Tja, da war ich besonders schlau. Dachte ich wirklich, dass es damit besser wird, wenn ich außerhalb des Firmengeländes trank, in der Hoffnung, dass es damit weniger auffällt?

Bei allen Erklärungen, die ich heute für mein Tun anführen kann, eins kann ich mir nicht vergeben: Diese Art von Naivität, ja sogar Dummheit. Noch hatten mich damals die Depressionen und die seelischen Verschleißerscheinungen des Trinkens nicht so erreicht, als dass mein Verstand nicht noch funktioniert hätte. Mitte der 90er war die Zeit, in der die Worte „selber schuld“ am ehesten auf mich zutrafen.

In der Zwischenzeit war mein Vater an Prostatakrebs erkrankt und je mehr Zeit ins Land strich desto mehr kristallisierte sich heraus, dass es nicht mehr lange gehen würde. Er war krank, musste sein Geschäft schließlich aufgeben und war dazu verurteilt, ein bescheidenes Rentnerdasein zu führen, das keine großen materiellen Sprünge zuließ und seine Höhepunkte – positive wie negative – in den quartalsmäßigen Blutuntersuchungen fand. Hätte man einem solchen armen Mann auch noch einen Vortrag über Alkoholmissbrauch halten sollen? Mein Vater war von da an stets auf seine Gesundheit bedacht und schaffte es auch, in höherem Alter immer wieder seine monatelangen Trinkpausen einzulegen. Stolz erzählte er sogar dem Arzt: „Herr Doktor, ich habe jetzt schon drei Monate nichts mehr getrunken.“ Leider geriet er aber an einen bayerischen Kollegen, der wohl selbst den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt war und der meinte: „Wozu soll denn das gut sein?“

Tja, da war sie wieder, die Bestätigung, die ich sicher auch noch im letzten Loch gefunden hätte: Bier ist nicht ungesund. Dass wir vielleicht auch die Dosis als Maßstab heranziehen sollten, versteckte ich in den Tiefen meiner Seele, wo das Wissen über den Sachverhalt aber schon lange schlummerte.



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