Читать книгу "Dann hör doch einfach auf…!" - Lebensgeschichte eines Alkoholikers - Alfred Endres - Страница 13

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Erste Probleme im Beruf

Seit kurzem wurde im Betrieb mit gutem Beispiel vorangegangen. Jedweder Alkoholkonsum im Firmengelände wurde verboten und es wurde außerdem ein Suchthilfeprogramm ins Leben gerufen. Hilfe statt Strafe war das Motto. Und so kam eines Morgens ein Email meines Gruppenleiters mit der Anfrage, wie es denn wäre, wenn ich mal ein Gespräch mit dem betrieblichen Suchtkrankenhelfer führen würde. Ich wurde in jenem Personalgespräch damals als „Quotentrinker“ auserkoren. Der Fall war klar. In einem Betrieb mit knapp 1000 Leuten müssen, gemäß jeder bekannten Statistik, ein paar Alkoholiker dabei sein. Und um dem Suchthilfeprogramm Sinn zu verleihen, muss dafür natürlich Klientel gefunden werden.

Nachdem natürlich keiner in einer Firma freiwillig als Erster zum neuen „Kollegen Suchtberater“ gehen würde, musste mittels Gesprächen in jeder Abteilung der eine oder andere gefunden werden, der da mal ran mussten. Natürlich unverbindlich, und auch nur um mir zu helfen, bzw. mir über meinen Status klar zu werden. Es wird anonym behandelt und wird keinerlei negative Folgen für mich haben. Ich vereinbarte also einen Termin mit dem guten Mann, von dem ich nichts wusste, außer dass er „selbst Betroffener“ war und es in Zukunft schön blöd sein würde, wenn man ihm auf dem Flur begegnete. Was werden in Zukunft die Kollegen denken, wenn man den Suchtkrankenhelfer wie einen alten Bekannten grüßt? Das ist ja fast so, als wenn man beim Einkaufen mit der Ehefrau von seiner Geliebten gegrüßt wird. Auf was hab ich mich da wieder eingelassen?

In dem Gespräch selbst war ich nach den anfänglichen Schwierigkeiten recht locker und aufrichtig. Ich kann heute noch nicht sagen, dass ich den Mann wirklich angelogen hätte. Er war vertrauenswürdig. Und bei allem „Krieg“, der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stets herrscht, ich musste jetzt mit offenen Karten spielen. Totales Abstreiten wäre erstens falsch gewesen und zweitens automatisch verdächtig.

Er erzählte mir von seiner Zeit als „nasser Alkoholiker“ und seinem Lebensweg im Allgemeinen. Seine Zeit beim Bund, das Scheitern der Ehe, die zweite Ehe mit einer Kollegin, Betriebsratszugehörigkeit und Ausbildung zum Suchtkrankenhelfer bis zum heutigen Tag. Ich hörte zu, zog Parallelen – soweit ich welche fand – und räumte ein, dass das Trinken in meinem Leben ein Thema war, ich aber nicht 100%ig sagen könnte, ob es wirklich ein Problem ist. Jahre später habe ich mir sagen lassen, dass sich der Mann mit seiner Einschätzung mir gegenüber nicht ganz sicher war. „Der Fredy? Ich weiß nicht, ob da nicht doch was ist …“ So ähnliche Worte soll er gebraucht haben.

So, wie aber stellt man fest, ob man ein Problem hat oder nicht? Und eine Pauschalaussage gibt es eben auch nicht immer. Selbst in der Schulmedizin ändern sich die Einstufungen und deren Begriffe von Zeit zu Zeit. Wer ist nun Alpha-Trinker, Gamma-Trinker, Quartalssäufer oder Spiegeltrinker? Und woher weiß ich, zu welcher Sorte ich gehöre? Und wenn, was mache ich dann mit der Erkenntnis? Außer dass ich mich mit dem Thema beschäftigte – und das eigentlich schon eine Aussage in sich ist – wusste ich keine Antwort.

Hierzu erzählte mir der Kollege von seiner Methode:

„Nun, das lässt sich herausfinden“, sagte er, „machen wir doch folgende Übung: Trink heute erst nach 20 Uhr dein Getränk.“ Und dann, ab 20 Uhr auch nur zwei Gläser davon! (O. K. Dann werde ich halt Maßkrüge nehmen, ist doch klar …)

Und jetzt achte darauf: Wartest du, bis es 20 Uhr wird? Kannst du es evtl. gar nicht abwarten und wirst ungeduldig? Und dann? Trinkst du den ersten Schluck schnell und schüttest die erste Halbe regelrecht in dich hinein? Und bleibt es auch dabei? Nur zwei „Einheiten“? Sollte diese Übung ohne weiteres gelingen, ist es nicht so schlimm um dich bestellt.

Was soll ich sagen? Ich habe es nicht einmal versucht. Es war kein Gedanke dran zu verschwenden, dieses Experiment einzugehen, ich konnte schon lange nicht mehr abwarten oder aufhören.

Aber in einem anderen Punkt kroch ich zu Kreuze. Der Kollege in der Firma verwies mich zu jemand wesentlich kompetenteren, nämlich an das nächstgelegene Gesundheitsamt. Dort gab es Anlauf- und Beratungsstellen. Er rief dort für mich an und bekam kurzfristig einen Termin, was angeblich gar nicht selbstverständlich war. Und so fuhr ich also unbeschwert nach der Arbeit quer durch das beschauliche Dachau zum nächsten Gespräch über Alkohol.

Ich fragte mich schon von Zeit zu Zeit allen Ernstes, was nötig sei, um aus freien Stücken einmal ein Leben ohne mein geliebtes Bier zu führen, aber der Gedanke schien mir immer noch völlig unvorstellbar. Und so führte mich der Weg vor der Suchtberatung erst zur Tankstelle um einen neuen Kasten Bier zu holen, damit der Vorrat nicht zur Neige ging. Ich freute mich schon auf Zuhause nach dem langen Arbeitstag und dem aufregenden Gespräch, das ich gleich führen würde. Ich hatte ja schließlich keine Schwellenangst, was intime Gespräche anging, im Gegenteil. Mein Interesse an Psychologie war ungebrochen und auch die Bereitschaft, an mir zu arbeiten war da. Nur wann und in welchem Ausmaß, wollte ich alleine bestimmen. Dachte ich. Ich war schon lange fremdbestimmt, nur dass mir das als Freundschaftsdienst vorgegaukelt wurde. Der Seelentröster Alkohol hatte mich voll im Griff, auch wenn der Griff noch locker war. Ich wehrte mich nicht dagegen.

Zunächst war ich sehr angenehm überrascht als ich das Arbeitszimmer des Psychologen betrat. Er trat an mich heran und nahm mir die Jacke ab. Höflich bot er mir einen Stuhl an und behandelte mich wie man es von einem Herrn der alten Schule erwarten würde.

Er gab Suchtkranken das, was sie am meisten an sich selbst vermissen: Würde. Respekt. Behandelt zu werden wie ein Individuum. Er gab mir das Gefühl, dass ich es wert war, gut behandelt zu werden. Sein Gespür war beeindruckend. Endlich ein Gespräch auf neutraler Basis. Die anderen Besprechungen in der Arbeit hatten mich zwar nicht persönlich angegriffen, aber ich fühlte mich eben doch in der Defensive. Und hier konnte man reden wie einem der Schnabel gewachsen war. Leider kamen auch hier keine großen Erkenntnisse zu Stande, die mein Dasein in den Grundfesten ändern sollten. Wir verblieben mit der Vereinbarung, dass ich eine nahegelegene Selbsthilfegruppe besuchen sollte, um mir mal anzusehen und anzuhören, was Alkoholiker zu sagen hatten, die die Sucht schon überwunden hatten oder noch mittendrin waren.

Die Selbsthilfegruppe war ebenfalls in Dachau. Ich hatte keine Scheu beim Gruppenleiter anzurufen und mir einen Termin für die Sitzungen geben zu lassen. Vor solchen privaten Anrufen habe ich seltsamerweise keine Angst. Nur im Büro ist das Telefon mein ärgster Feind.

Meine Vorbereitung auf diese Gruppe war einfach. Erstens viel zu früh ankommen und ja nichts zu versäumen und rechtzeitig genug drei Weißbier intus zu haben um den Kopf ein bisschen frei zu kriegen.

Als die Ersten eintrafen, sprach mich der Chef der Truppe an: „Bist du der, der auf Bewährung raus ist?“ Meine mitgebrachte Solidarität zu Alkoholikern bzw. meine Offenheit der Situation gegenüber sank schlagartig in den Keller. „Nein“, sagte ich, „Ich habe gestern angerufen und den Termin vereinbart.“ Lächelnd meinte der Gruppenleiter: „Ach, wenn nur jeder Zehnte kommt, der anruft, dann wäre es schon viel.“

Die Vorstellung lief so wie ich es aus diversen Filmen kenne, allerdings bis heute nicht mehr in der gleichen Art gesehen habe. Man stellt sich vor mit dem berühmten Satz: „Hallo, ich bin der so und so und ich bin Alkoholiker.“

Alkoholiker, die zu dem stehen, was sie sind. Das verstand ich und fand es gut. Nachdem ich immer noch nicht wusste, ob ich wirklich hierher gehörte, stellte ich mich entsprechend vor: „Ich bin der Fredy und ich weiß nicht, ob ich Alkoholiker bin, aber ich möchte es mit eurer Hilfe herausfinden.“

Ich beteiligte mich an den Gesprächen der Gruppe offen und ohne Vorurteile. Aber ich konnte nichts von dem Besprochenen auf mich ummünzen oder mich mit irgendwelchen Beiträgen aus der Runde identifizieren. Ich war noch in einer völlig anderen Lage. Es passte auch nicht in mein Weltbild, mit einem entlassenen Strafgefangenen verwechselt zu werden. Nein, das war keine brauchbare Hilfe für mich. Die Gruppe war in Ordnung, aber es war eine Gruppe, die der Nachsorge dienen sollte und soweit war ich ja noch lange nicht.

Wenige Tage nach meinem ersten und letzten Besuch dort bekam ich zum Geburtstag eine Glückwunschkarte mit der Unterschrift von allen Teilnehmern, die ich nur ein einziges Mal im Leben gesehen hatte.

Das nahm ich im Herzen mit: Ich war von völlig Fremden bedacht mit guten Wünschen und wurde sofort angenommen. Nur weil ich einmal dort war. Unter Alkoholikern. Ich war bis weit in die Zukunft hinein von dieser unscheinbaren Postkarte beeindruckt. Das war mir neu.

Ich hatte der Pflicht also genüge getan. Ich war beim Suchtkrankenhelfer, im Gesundheitsamt und in einer Selbsthilfegruppe. Und genauso schlau wie vorher. Bis auf die Tatsache, dass ich seitdem ein schlechtes Gewissen beim Trinken hatte. Und ich kam mir vor wie jemand, der gelernt hatte, wie eine Bombe funktioniert und mit diesem Wissen jetzt eine entschärfen soll. Immerhin wusste ich jetzt schon mal ein wenig Bescheid „in der Szene“. Ich antwortete auf das Email meines Gruppenleiters, dass ich seinem Wunsch nachgekommen war, worauf hin er sich auch ordentlich bedankte. Thema erledigt, oder?

In der Zwischenzeit tat sich außerhalb der Suchtthematik eine ganze Menge in meinem Leben. Es war das Alter, in dem sich der junge Mann Lebensträume erfüllt. Der Höhepunkt war ein dreimonatiger Trip nach Australien und Neuseeland. Alleine. Ich kann von Glück reden, dass mir damals mein Körper noch „gehorchte“. Vom Abflug in London bis zur letzten Fahrt im Greyhound Bus in Sydney lag ich nie auf dem Trockenen. Im Terminal in Heathrow lachte ich mir eine Mitreisende aus München an, mit der ich gleich in der Flughafenbar ein paar Guinness trank. Damit man auf dem Flug gut schlafen kann. Ein anderes Mädchen, mit dem ich im Urlaub in New South Wales am Stand flirtete, bemerkte ganz richtig: „Dich seh ich immer mit ’ner Büchse Bier in der Hand.“

Kein Wunder, dass außer flirten da nie „mehr passierte“, welche Frau mag so etwas.

Aber wie schön waren diese Gefühle als ich nach anstrengender Anreise in einer gemütlichen Bar in Auckland das hiesige Bier probierte und mich nach dem Dritten entspannt und glücklich fühlte. Die aufschäumende Euphorie des leichten Rausches ließ in mir den Entschluss reifen, mir mehr zuzutrauen und im Linksverkehr von Neuseeland doch ein Mietauto zu nehmen und die Insel auf eigene Faust zu erkunden. So war das nun mal, ab einem bestimmten Level sorgte die Mischung aus Rausch und Mut dafür, dass man Gedanken entwickelt, die weder in nüchternem noch volltrunkenem Zustand möglich gewesen wären.

Australien und Neuseeland waren ein Traum. Gereift und weltbereist kam ich nach drei Monaten nach Hause.

Daheim wartete damals meine nächste zukünftige Ex-Freundin auf mich. Soll heißen, eine Beziehung, die sich mal wieder nach knapp zwei Jahren als gescheitert erweisen sollte. Es war wieder ein netter Versuch, zwei Leben unter einen Hut zu bringen, aber erneut waren wir beide zu sehr in unseren Schienen festgefahren, als dass es für eine gemeinsame Zukunft gereicht hätte. Die Liebe war einfach nicht groß genug. Die Debatten über Grundsatzfragen wie meinen Alkoholkonsum kamen nur im Ansatz zu Tragen. Es waren mehr unsere grundsätzlich verschiedenen Interessen, die uns auf Distanz voneinander hielten. Wir trennten uns im Guten.

In der Zwischenzeit wechselte ich bei der Arbeit die Abteilung. Es gab hin und wieder die Möglichkeiten eines Austausches zwischen den einzelnen Testcentern, und ich wurde für ca. ein Jahr in der Gruppe eingesetzt, in der ich vor Jahren als Aushilfskraft begonnen hatte. Nur jetzt hierarchisch etwas „höher“ angesiedelt, als Testingenieur und nicht als Mechaniker.

Dieses interne Gastspiel endete nach der anberaumten Zeit aus rein dienstlichen Belangen wieder. Aber zwei Begebenheiten habe ich aus der Zeit in Erinnerung, die mit meiner Alkoholabhängigkeit unmittelbar in Zusammenhang standen.

Die Abteilung der dynamischen Versuche war auch räumlich anders strukturiert als meine alte Abteilung. So gab es unter anderen einen eigenen Aufenthalts- und Pausenraum mit Kaffeeküche, Kühlschrank und allem Zubehör. Die Getränkekisten wurden einmal wöchentlich von einem Lieferanten gefüllt.

Im Laufe der Zeit meldete sich bei mir ein Gefühl, das mir bis dahin noch unbekannt war und ich von daher auch nicht einordnen konnte. Suchtdruck.

Ich begann in der Firma das zu tun, was ich schon mehrfach privat praktiziert hatte: Ich versuchte heimlich zu trinken. Was, wie man weiß, für den Alkoholiker kein Problem ist, man wird ja schließlich erfinderisch. In besagtem Frühstücksraum fand ich auch einen Kasten Jever Pils. Nicht gerade das beste Bier auf Gottes Erden, aber ein kleines Pils ist besser als gar nichts.

Und wieder war ich unterwegs wie ein Dieb in der Nacht und schlich mich in den Aufenthaltsraum und kippte ein kleines Jever Pils hinunter. Ich machte auf der Getränkeliste bei Cola ein Kreuzchen. Heimlich trinken ja, aber stehlen wollte ich dann doch nicht. Ich ließ den Kronkorken verschwinden und achtete auch auf die Anzahl der vollen bzw. leeren Flaschen im Träger. Und – es ist fast peinlich – ich guckte mich in der Halle um, ob nirgends Videokameras installiert waren.

Erneut kam ich mir „erfolgreich“ vor. Allerdings nur zum Teil. Die eigentliche Wirkung blieb aus. Zwar hatte ich einen „strategischen Erfolg“ – keiner kann mir verbieten, was ich brauche … – aber irgendwas fehlte. Jedenfalls stieg mein Puls eher, als dass er sich senkte. Und mein Kopf kreiste, die Gedanken jagten, ich fühlte mich getrieben und unwohl. Also ein zweites Jever. Jetzt kam gar keine Wirkung mehr außer der bittere Pils-Geschmack … Ich war heilfroh, als ich zu Hause war und mein geliebtes Weißbier hatte. DAS ist doch Geschmack …

Dieses Spielchen ging eine ganze Weile so und in meiner Naivität sagte ich mir, dass es eben der urwüchsige Geschmack des Weißbiers ist, der mir gut tut. Was war passiert? Lange später bemerkte ich, dass ich im Frühstücksraum „Jever Fun“ getrunken hatte. Die alkoholfreie Variante aus dem „hohen Norden“.

Damals bemerkte ich das nicht, aber im Nachhinein erklärte es einiges. Das Gehirn wollte den Trieb des unerlaubten Handelns ausleben und sich seine Belohnung holen. Jagen, anschleichen, Beute machen, fangen und – nein, nicht töten – sondern trinken. Mission erfüllt. Nur der Körper tat nicht so wie ihm befohlen, sondern das, was er immer tat, wenn ihm der Stoff versagt wurde: Er rebellierte. Ich kam damit nicht klar, weil der Verstand der Meinung war, Bier getrunken zu haben. Warum kehrt keine Ruhe ein, wenn ich doch meinen Stoff gerade erhalten habe? Wenn es letzte Anzeichen der körperlichen Abhängigkeit gebraucht hätte, dann waren es diese. Das Kind war in den Brunnen gefallen. Und ich ahnte es. Zunächst aber nur unterschwellig, weil ich die Erklärung noch nicht parat hatte, aber ich spürte es in jeder Faser meines Körpers. Ich fühlte mich nicht wohl, ich war getrieben, unruhig, unfähig, meine Gedanken bei einer Sache zu lassen oder mich zu konzentrieren. Es begann sich etwas zu verändern. Und das kam dann bald zu Tage und läutete die Zeiten ein, die mich endgültig in Richtung Todeswünsche lenken sollte: Panikattacken.



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