Читать книгу "Dann hör doch einfach auf…!" - Lebensgeschichte eines Alkoholikers - Alfred Endres - Страница 9

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Eine schwierige Jugend

So verliefen auch meine Teenagerjahre zwischen Büchern und Bier. Ich bekam beides mit. Zugegeben, ich las nicht annähernd soviel wie mein Vater, aber Englisch fiel mir leicht und in der Schule bereitete ich meinen Eltern keine großen Sorgen. Die Urlaube in Südtirol sorgten dafür, dass ich neben dem sorglosen Umgang mit Bier auch noch die Kultur des Weintrinkens kennenlernte. Schon bald wusste ich gute von schlechten Rotweinen zu unterscheiden.

Die Jahre in der Grund- und Realschule waren gekennzeichnet durch die stetigen Kontaktschwierigkeiten mit meinen Mitschülern. Ich merkte früh, dass ich um einiges introvertierter als die anderen war. Das wirkte sich natürlich auf meinen Freundeskreis aus. Es gab ein paar, die mich duldeten, aber die Mehrheit der Klassenkameraden mied mich. In der Kindheit werden bekanntlich Wunden geschlagen, die mitunter nie mehr heilen. Ich litt stets darunter, von gleichaltrigen Kindern nicht akzeptiert zu werden.

Meine Noten waren brauchbar, mein Verhalten sehr gut. Darauf waren meine Eltern stolz und es war ihnen wichtig. Im Sport war ich einer der Schlechtesten der Schule und bei den ersten Knutschpartys war ich der Einzige in der Klasse, der nicht eingeladen wurde. Das wäre mir allerdings – wie eigentlich fast jedem Teenie – wichtig gewesen und darauf war ich nun gleich gar nicht stolz. Schlimmer noch, diese beiden Sachverhalte sollte ich mein Leben lang nicht vergessen. Das mit dem Sport konnte ich akzeptieren. Sport machte mir auch keinen Spaß. Dass ich bei den Bundesjungendspielen nicht einmal eine normale Urkunde bekam, wo fast 90% der Teilnehmer eine Ehrenurkunde abstaubten, war für mich noch tragbar. Aber deswegen als Schwächling abgestuft zu werden, wollte mein sanftes Gemüt einfach nicht verkraften. Warum war das wichtiger als meine Eins in Englisch? Eine Trotzreaktion wuchs im Laufe der Jahre in mir heran. Der zurückhaltende Teenager hörte heimlich Heavy Metal. Nicht, dass es mir auf Anhieb gefallen hätte, aber ich wollte um jeden Preis irgendein Hobby oder Interesse haben, was mich deutlich von den anderen abhob. Und das mir keiner zutraute. Der zurückhaltende kleine Bub mit dem langweiligen Seitenscheitel wollte ein Mann werden. Mit allen dazugehörigen „unangepassten“ Seiten. Ich gewöhnte mich schnell an Iron Maiden, AC/DC und Motörhead und freute mich über die verwunderten Blicke der Verkäufer in den Plattenläden als ich mir die LPs holte.

Ich brauche kaum zu erwähnen, dass ich natürlich auch nie und nimmer eine Freundin fand, als „es an der Zeit war“. Sprich, als alle anderen ihre ersten Erfahrungen sammelten, wurde ich belächelt. Ich war wütend, weil ich glaubte, etwas zu versäumen. In meiner Unfähigkeit, meine Gefühle nach außen zu tragen, begann ich wohl als Teenager meine Selbstzerstörung. Ich verschloss mich und richtete meine Wut gegen mich selbst. Wenn mich keiner mag, müssen sie wohl ihre Gründe dafür haben. Ich bin es eben nicht wert, gemocht zu werden. Das strickte ich mir solange zusammen, bis es mir passte und ich mich damit abfand. Aber ich werde etwas finden, dass mich von anderen abhebt, ich werde auch euren seltsamen Wertvorstellungen eines Tages gerecht werden. Auch ich werde Seiten entwickeln, die allen anderen Neid und Anerkennung abverlangen. Ich werde etwas tun, das keiner von mir erwarten würde …

Heute glaube ich zu verstehen, was in manchen Sonderlingen vorgeht, die irgendwann durchdrehen und aggressiv werden. Ich richtete meine Wut gegen mich selbst.

In den Tiefen meiner Seele müssen diese Umstände Auslöser für meinen Alkoholismus in den nächsten beiden Jahrzehnten gewesen sein: Die Selbstverständlichkeit des Trinkens in meinem Elternhaus und der beginnende Selbsthass mangels Anerkennung durch Gleichaltrige als Jugendlicher.

In den Lehrjahren nach dem Realschulabschluss entstanden durch meine Vorliebe für harte Rockmusik erste Kontakte zu Gleichgesinnten. Ich lernte einige Leute kennen, die ich noch aus den letzten Schultagen vom Sehen her kannte, und im Laufe der Zeit bildete sich eine Clique, aus der bis heute noch andauernde Freundschaften resultierten. Es gab auch heftige Streite und Beziehungen, die zerbrachen, aber ich machte viele Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Wir feierten, philosophierten, lachten, weinten, tauschten uns aus und ich wurde zum Freund aller Mädchen, die eine Schulter zum Ausweinen brauchten. Ein Hauptthema, das „Frau“ mit mir immer wieder mal besprechen wollte: Wann heiratet mich mein Freund endlich? Insgeheim wünschte ich mir ihre Probleme inständig herbei, ich hatte nicht einmal die erste Freundin …

In der Clique wurde eigentlich nie übermäßig viel Alkohol getrunken. Wir waren keine Bande von Randalierern, die Samstag um die Häuser zog und dem heute verbreiteten „Komasaufen“ frönte. Unsere Hobbys bestanden größtenteils aus Sport und da hatte „richtiges“ Saufen keinen Platz. Wir unternahmen auch Dinge, die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit verlangten. Zum Beispiel Reisen bis nach England zu Konzerten unserer Idole. Oder ganze Wochenenden am Nürburgring als die dort ansässigen Rockfestivals in ihren Anfängen lagen. Surfurlaube am Gardasee, lange Fahrten für ein paar Rockkonzerte oder mal ein Fußballspiel … es gab immer viel zu erleben und wir hatten alle Energie der Welt dafür.

Wenn wir freitagabends gelegentlich Billard spielen gingen, war ich es, der am meisten trank. Die Anderen überlegten mitunter, ob es nicht besser wäre, mir nach dem vierten Bier den Autoschlüssel wegzunehmen, aber irgendwie wollte keiner soweit gehen. Ob mir niemand die Selbstverantwortung nehmen wollte, sei dahin gestellt. Jedenfalls waren die Junggesellenjahre – bevor die Clique zerbrach und sich daraus mehrere Familien bildeten – die schönsten meiner Jugend und ich sehe im Nachhinein dort keine Ursachen für meine spätere Abhängigkeit.

Die ersten Gedanken bzw. die Erkenntnis einer aufkommenden Depression überkamen mich etwa um mein 20. Lebensjahr. Ich vermag nicht mehr genau zu sagen wann, aber es war etwa die Zeit nach der Ausbildung und vor der Wehrdienstzeit. Ich merkte, dass mir die Perspektiven fehlten – heute erscheint mir dieser Gedanke absurd, angesichts meiner damaligen Jugend – und ich machte mir ernste Gedanken. Düstere Gedanken. Keine, die nach außen für andere, insbesondere für meine Eltern, sichtbar waren, und das Unheil nahm seinen Lauf, da ich mich aus meinem Schneckenhäuschen nicht heraus traute und meine Gedanken äußerte. Ich habe die Depression damals nicht als solche erkannt, und so hielt ich meine Gefühlswelt nicht für erwähnenswert oder gar gefährlich. Trotzdem ging ich eines Tages damit zum Hausarzt. Was genau ich ihm damals gesagt habe, weiß ich nicht mehr, aber sehr wohl noch seine ernsten Worte: „Es ist gut, dass sie kommen“.

So etwas sagt ein Arzt nicht, wenn man sich „nur erkältet“ hat. Und vor allem nicht mit diesem Unterton. Irgendwo ahnte ich, dass etwas in meinem Leben passierte, das es für immer verändern sollte.

Er überwies mich zu einem Neurologen. Ich wusste nicht, was dieser mit mir machen wollte, geschweige denn, dass es sich um einen Nervenarzt handelte. Dort wurde erstmal eine „Bestandsaufnahme“ gemacht. Eine der ersten Fragen war: „Haben sie eine Freundin?“ Etwas verblüfft verneinte ich. „Warum nicht?“, kam es fast etwas forsch von ihm. Nun, das Thema schien ja immens wichtig zu sein, wenn es darum geht das seelische Befinden zu analysieren. „Hatten Sie schon Geschlechtsverkehr?“ „Ups, jetzt geht’s aber ans Eingemachte“, dachte ich mir. Klar, das ist sogar wichtig fürs seelische und sogar körperliche Wohlbefinden, wie wir in der Zwischenzeit alle wissen. Wir leben in einer modernen Welt und den Stellenwert von Sex wurde mir ja bereits im Teeangeralter von den einschlägigen Jugendzeitschriften vermittelt. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Auf Krankenschein gibt es diese Art von Heilmittel ja bekanntlich nicht. Diesen Standpunkt versuchte ich so gut wie möglich zu erklären und beantworte bereitwillig seine Fragen.

Nun, nach einigen Sitzungen kam er zu dem Schluss, dass ich ein ganz normaler schüchterner junger Mann sei, der Schwierigkeiten hat, eine Freundin zu finden, weil er Angst vor Zurückweisungen hat. Ansonsten alles weitestgehend normal, aber mit Hang zu Melancholie bzw. Stimmungsschwankungen. Im Laufe der Zeit kamen wir dann zu der Erkenntnis, dass es sich um „endogene Depressionen“ handelte. Diese konnte man behandeln. Ich musste allerdings etliche verschiedene Präparate ausprobieren bis sich ansatzweise ein Erfolg einstellte. Jedenfalls kamen die Nebenwirkungen als erstes zum Tragen. Ein bis zwei Tabletten täglich und mir war das letzte bisschen Sexualleben auch noch genommen. Impotenz. Voll Sorge ließ ich mir bestätigen, dass das nur vorübergehend sei und es wichtiger sei, erst mal die Stimmung aufzuhellen. Ich bin ja solo, da ist ja eh nicht so schlimm. Klar, wie ein Mönch lebe ich ohnehin schon zeitlebens, jetzt also auch noch wie ein Eunuch. Hoffentlich helfen die Tabletten, dann bin ich wenigstens ein fröhlicher Eunuch. Immerhin hatte ich – neben der Erkenntnis, dass in meinem Dasein etwas aus dem Ruder läuft – auch das Einsehen, dass ich gegen mein Singledasein aktiv etwas unternehmen musste. Darauf zu warten, dass Miss Perfect an meiner Tür läutete, erwies sich als gänzlich falscher Ansatz. Aber was tun? Meinen vier Jahren im Werkzeugbau der Firma M. in München verdankte ich dann wenigstens einen Schritt in die richtige Richtung.

Aber der Reihe nach:

Ich hatte nicht im Geringsten ein schlechtes Gewissen als mich der diensthabende Arzt im Betrieb bei der Einstellungsuntersuchung fragte, wie es denn mit dem Alkoholkonsum bei mir aussähe. Hier in der Firma sei das ein großes Problem, sagte er und machte keinen Hehl daraus, dass der durchschnittliche Fabrikarbeiter hier mehr tränke als ihm lieb sei.

Der Wahrheit entsprechend sagte ich, dass ich zwar gerne Bier tränke, dies aber bei mir absolut kein Problem darstelle und mich in keiner Weise je beeinflusst habe. Nun, ich war 23 Jahre alt und noch dabei „Aufbauarbeit“ zu leisten. Steter Tropfen sollte den Stein höhlen … Steter – sprichwörtlicher – Tropfen.

Tja, man gewöhnt sich an alles. Leider. Ich begann die Stelle dort an einem zweiten Januar und noch im ersten Sommer hatte ich mich daran gewöhnt, dass der heiße Nachmittag sich leichter bewältigen ließ, wenn man nebenbei ein Bierchen trank. Es war erlaubt, ja sogar selbstverständlich, und es verging keine Woche, in der es kein Freibier gab. Grund zu trinken – äh, feiern – gab es immer. Ich muss sogar sagen, dass man mit den Kollegen wesentlich besser in Kontakt kam, wenn man mit ihnen trank. Die soziale Komponente des Trinkens … ich lernte unbewusst, was für eine Rolle das Suchtmittel im Leben spielen konnte.

Damals sah ich noch verächtlich auf die Arbeiter im Werkzeugbau hinab, die teilweise schon am Vormittag leicht angetrunken zur Arbeit kamen und morgens zur Brotzeit wie selbstverständlich Bier tranken, oder auch schon mal vom Abteilungsleiter wieder nach Hause geschickt wurden, wenn sie so betrunken waren, dass während der Arbeit Verletzungsgefahren bestand. Vielen sah man ihren Schwips gar nicht an. Ein Kollege wurde erst erwischt, als er die Stichsäge aufräumen wollte und das gute Stück ohne mit der Wimper zu zucken im Kühlschrank verstaute.

Jener Kollege blieb mir bis heute im Gedächtnis, denn er wusste, glaube ich, die ganze Zeit, wie es um ihn bestellt war. Damals war er 35 Jahre jung, er hatte als Lehrling in der Firma angefangen und feierte gerade sein 20-jähriges Jubiläum. Er hatte keine Frau, keine Freundin, kam aus einfachen Verhältnissen und sah für seine jungen Jahre sehr verbraucht aus.

Eines Tages bei einer Betriebsversammlung stand ein Vortrag einer Ärztin auf der Tagesordnung. Alkohol im Betrieb. Die gute Frau wusste, dass sie bei mehreren Hundert Bier trinkenden Proleten nicht den Hauch einer Chance auf offene Ohren hatte. So meinte sie auch folgerichtig: „Ich weiß, Sie denken, da kommt eine Preußin und kann Ihnen hier in Bayern sagen, dass Biertrinken ungesund ist … (Applaus der Männer), aber ich sage Ihnen, wenn Sie einen Konsum von zwei bis drei Halben am Tag haben, neigen Sie zum Alkoholismus.“ Der Wortlaut mag ein anderer gewesen sein, aber die Aussage die Gleiche. Die Arme musste sich auspfeifen lassen, aber als sie mit ihrem Vortrag geendet hatte, sah ich Hans wie ein Häufchen Elend in seinem Stuhl sitzen. Er war den Tränen nahe und der Mund stand ihm offen. Ich verstand damals nicht warum. Heute weiß ich, dass ihn die Ansprache erreicht hatte.

Viele Jahre später sah ich ihn an seinem zweiten Arbeitsplatz wieder, in einer Blaskapelle auf dem Oktoberfest. Er sah grau aus, gegerbt von den Jahren, aber er lächelte. Obwohl mich nichts weiter mit diesem Menschen verband, wünschte ich ihm insgeheim alles Gute. Und, dass er gelernt hatte.



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