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Ein Bär, ein Baum und schlechte Laune

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Tag 17

Nördliche Wälder, Minnesota

Am nächsten Tag joggte sie die ersten Kilometer auf der Straße entlang nach Norden, bevor sie sich erneut in die Büsche schlug.

Es dauerte nicht lange und sie war sich sicher, wieder einen Begleiter zu haben. Diesmal gelang es ihr, ab und zu einen Blick auf braunes Fell zu erhaschen. Also war es nicht nur einer?

Ihr werdet nachlässig, dachte sie und lächelte still vor sich hin. Das Unterholz bremste ihr Tempo und sie nahm ein normales Wandertempo auf.

Den ganzen Tag suchte und fand sie neue Motive. In einem großen Bogen steuerte sie auf ihre Hütte zu, als ein penetranter Geruch sie zum Halten brachte. Angeekelt schnupperte sie. Das roch ja wirklich widerlich. Und widerlich war mit Sicherheit nicht in Ordnung.

Vorsichtig pirschte sie sich an die Geruchsquelle heran. Als sie einen Wildwechsel kreuzte, wurde sie fündig. Vor ihr lag ein großer grünfauliger Tierkadaver. Möglicherweise eine Ziege, aber so genau war das nicht mehr zu erkennen.

Hannah hielt sich die Nase zu und umrundete ihn vorsichtig. Tatsächlich, da lag wieder eine Schlagfalle. Zorn brandete in ihr hoch und sie hielt nach einem Ast Ausschau. Gerade als sie mit einem Stock bewaffnet zur Falle trat, ließ ein tiefes Brummen sie erstarren. Vorsichtig wendete sie den Kopf und sah eine riesige dunkle Gestalt in etwa zehn Meter Entfernung stehen.

Ein Grizzlybär. Und zwar ein verflixt großes Modell. Und sie stand ausgerechnet zwischen ihm und diesem stinkenden Kadaver.

Im Zeitlupentempo streckte sie den Stock vor zur Falle.

Mit lautem Klacken schnappte das Eisen zu und zerteilte den Stock. Der Bär richtete sich mit einem lautstarken Grollen auf und fixierte sie.

Langsam bewegte Hannah sich rückwärts und ließ das Tier dabei nicht aus den Augen. Sie konnte nur hoffen, dass hier nicht eine weitere Falle ausgelegt war und sie hineintappte. Es war zwar keine Falle, in die sie trat, aber dafür eine kleine Vertiefung. Mit einem leisen Fluch versuchte sie, einen Sturz zu verhindern, was ihr nur knapp gelang. Der Grizzly nahm dies zum Anlass, anzugreifen. Er ließ sich auf seine Vorderbeine fallen und galoppierte los.

Jetzt zögerte Hannah nicht. Mit einem beherzten Sprung hechtete sie zu einem höher gelegenen Ast hinauf und packte ihn mit beiden Händen. Mit ihrem Körper holte sie zweimal Schwung und warf in einem gekonnten Aufschwung ihre Beine nach oben. Sie verharrte nur kurz im Armstütz und fing an zu klettern.

Gerade noch rechtzeitig.

Die Bärentatze donnerte krachend gegen den Ast. Das beeindruckende Tier hatte sich aufgerichtet und grollte mit aufgerissenem Maul zu ihr hinauf.

Hannah machte es sich auf einem breiteren Ast bequem und beobachtete den Bären bei seinen wütenden Bekundungen.

Nach wenigen Minuten ließ das aufgebrachte Tier von dem Baum ab und wandte sich dem Kadaver zu.

„Mist“, murmelte Hannah. „Du dummer Bär. Das ist keine gute Idee. Vielleicht ist das Vieh vergiftet.“

Sie sah sich suchend um und fing an, Astwerk abzureißen. Dann zielte sie und begann, das Raubtier zu bewerfen.

Der Bär brummte unwillig.

„Du dummes Tier“, rief Hannah. „Such dir was Gesünderes. Fleisch wird überbewertet.“

Der Bär grollte wütend zu ihr hoch. Wieder traf ihn ein Zweig, diesmal genau auf die Nase. Das Spiel dauerte länger als eine Stunde. Immer wenn der Bär sich dem Kadaver zuwendete, wurde er beworfen und beschimpft.

Hannah dachte schon, dass sie bis in die Nacht hier hocken musste, als er plötzlich den Kopf witternd herumdrehte.

Langsam ließ er sich wieder auf seine Vorderbeine zurückfallen und schüttelte den Kopf. Dann trollte er sich langsam ins Gebüsch.

Hannah atmete erleichtert auf. Das hatte ja lange genug gedauert. Aber noch traute sie sich nicht nach unten.

Sie glaubte zwar nicht wirklich, dass ein Grizzlybär ihr eine Falle stellen wollte, aber sicher war sicher.

Tatsächlich brach kurze Zeit später eine große Gestalt durchs Dickicht. Aber es war nicht der Bär, sondern Tucker O’Brian. In der Hand trug er ein Jagdgewehr und wirkte wie ein grimmiger Großwildjäger. Vor dem Kadaver blieb er stehen und betrachtete ihn finster. Dann sah er auf und blickte direkt in Hannahs Augen.

„Sie können runterkommen“, knurrte er. „Der Bär ist weg.“

Hannah ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken.

Woher wusste der Kerl, dass sie auf diesem Baum hockte? Gesehen konnte er sie nicht haben, da war sie sich ziemlich sicher.

„Das weiß ich“, antwortete sie fröhlich. „Aber die Aussicht hier oben ist echt gut.“

Er schnaufte nur und wendete sich der Falle zu.

Hannah beobachtete gespannt, wie er in die Hocke ging und das Eisen betrachtete. Roch er daran? Sie war sich nicht sicher.

Aber langsam wurde es ihr doch zu ungemütlich auf dem Ast. Er hob den Kopf, als sie nach unten turnte. Mit einem leisen Plumps landete sie auf dem Boden und richtete sich auf.

O’Brian betrachtete sie von oben bis unten.

„Sind Sie verletzt?“

„Keine Sorge, an mir ist noch alles dran“, grinste sie.

„Das war ausgesprochen dämlich“, fuhr er sie an. „Einen Bären mit Zweigen bewerfen! Wollten Sie ihn dazu bringen, Sie da oben zu besuchen? Zufällig können die Kerle klettern.“

„Der nicht“, behauptete Hannah. „Der war viel zu alt und schwer. Und ich hätte notfalls ausweichen können.“

Sie wies auf einen nebenstehenden Baum, dessen Zweige in ihren Zufluchtsbaum reichten.

Wieder schnaufte er und betrachtete dann den Kadaver.

„Ich hatte Sorge, dass der vergiftet ist“, erklärte Hannah. „Wo eine Falle ist, kann schließlich auch eine Zweite sein.“

„Oder eine Dritte!“ O’Brian stieß einen Stock in einen Laubhaufen und mit einem unangenehmen Geräusch schlug eine weitere Schlagfalle zu.

„Autsch“, murmelte Hannah. Sie war froh, dass ihr Rettungsbaum nicht in der Nähe gestanden hatte.

Tucker O’Brian stieß einen unflätigen Fluch aus. In seinen Augen loderte heftiger Zorn.

Hannah trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie war sich sicher, dass dieser Mann im Moment jeden Wilderer auf der Stelle erschießen würde. Besser, man geriet nicht in die Schussbahn.

O’Brian zog ein Walkie-Talkie hervor.

„Cody? Wir brauchen einen Wagen. Ich will nicht, dass der Kadaver hier liegen bleibt. Er ist vergiftet.“

Er gab die Positionskoordinaten durch und sah dann zu Hannah.

„Ich bringe Sie jetzt zurück.“

„Nicht nötig, ich ...“

Sein Blick brachte sie zum Verstummen. Erschüttert holte sie Luft. Das war ihr noch nie passiert. Doch, erinnerte sie sich. Ihr Vater hatte manchmal genau den gleichen Blick draufgehabt. Sie schob die Erinnerung beiseite und wandte sich wieder dem Mann vor ihr zu.

„Mister O’Brian“, sagte sie langsam. „Ich benötige kein Kindermädchen und Sie wollen doch bestimmt nicht die tote Ziege hier allein liegen lassen. Wer weiß, was für Tiere sich noch an ihr versuchen wollen.“

„Ach, und was für Tiere sollen das sein?“

„Hm, zum Beispiel Wölfe. Wissen Sie, hier rennen nämlich ein paar rum.“

„Ich weiß sehr genau, was in diesem Wald rumrennt“, versetzte er barsch. „Und deswegen bringe ich Sie jetzt hier weg.“

Hannah war nicht daran interessiert diesen Mann noch wütender zu machen. Also zuckte sie mit den Schultern und marschierte los. Sekunden später war er hinter ihr.

„Woher wussten Sie eigentlich, dass ich hier bin?“

„Ihr Geschrei war nicht zu überhören“, knurrte er. Hannah war sich zwar sicher, dass das nicht die richtige Antwort war, aber - nun ja, er klang immer noch zornig.

Der Rest der Wanderung gestaltete sich schweigend, was Hannah nur recht war. Tatsächlich genoss sie es, einmal unbeschwert durch die Wälder zu traben. Mit Tucker O’Brian im Rücken konnte ihr nichts passieren. Davon war sie fest überzeugt.

*

Sie erreichten die Jackson-Hütte am frühen Abend. Tucker beobachtete, wie sie die Tür aufschloss und sich dann zu ihm umdrehte.

„Danke“, meinte sie nur. Beinahe hätte er genickt.

„Sie sollten den Wald meiden, solange die Wilderer sich hier herumtreiben“, knurrte er stattdessen. In ihren Augen konnte er lesen, dass sie diese Warnung eher amüsierte.

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach sie. Immerhin, das war nicht gelogen. Aber er gab sich keinen Illusionen hin. Diese Frau ließ sich nicht mit einfachen Bitten und Mahnungen beeinflussen. Und er musste zugeben, dass sie ihn mit ihrem Verhalten beeindruckte. Den Bären hatte sie souverän gemeistert und auf dem Rückweg hatte sie nicht einmal gezögert.

Hannah Riemann kannte sich in der Wildnis aus und körperlich schien sie fit zu sein. Wirklich beruhigen tat ihn das nicht, aber zumindest musste er sich keine Sorgen machen, dass sie sich verlaufen würde.

Er nickte knapp und machte sich auf den Heimweg. Als er aus der Sichtweite der Hütte war, gesellte sich ein grauer Wolf zu ihm.

„Pass weiter auf sie auf. Ich schick dir ein Walkie-Talkie. Wenn sie losmarschiert, gibst du Bescheid.“

Lautlos verschwand der Wolf wieder im Schatten des Waldes.

Seelenmalerin

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