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Eine ungewöhnliche Jagd
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Tag 18-19
Nördliche Wälder, Minnesota
Den nächsten Tag verbrachte Hannah in der Hütte.
Das lag aber weniger an O’Brians Ermahnungen. Sie hatte sich sowieso vorgenommen, ihre Zeichnungen zu sortieren und zu ergänzen, und da es unentwegt nieselte, passte ihr ein Hüttentag gut ins Konzept.
Doch bereits am darauffolgenden Tag sprang sie munter in ihr Auto und trat das Gaspedal durch. Sie war gespannt, wie lange sie dieses Mal allein bleiben würde.
Erneut parkte sie den Wagen ein ganzes Stück weiter weg als sonst und sprintete los. Mittlerweile sah sie es als sportliche Herausforderung an, sich der Aufmerksamkeit ihrer stummen Begleiter zu entziehen. Sie fand es bemerkenswert, dass sie überhaupt gefunden wurde - trotz Autofahrt.
Gegen Mittag wurde ihre Wanderung abrupt gestoppt. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als ganz in der Nähe ein Schuss erklang.
„Verflixt“, murmelte sie. „Hieß es nicht, dass hier unberührte Wildnis zu finden ist?“
Vorsichtig ging sie weiter. Wo Schüsse abgefeuert wurden, gab es Jäger, und die waren manchmal kurzsichtig und nicht allzu wählerisch, wenn sie eine Bewegung wahrnahmen.
Sie war noch keine hundert Meter weit gekommen, als vor ihr eine kleine graue Gestalt auftauchte.
Hannah blinzelte.
War das jetzt ein Wolf oder wieder ein Hund?
Der Vierbeiner winselte und brach vor ihr zusammen. Erschrocken kniete sie sich nieder. Jetzt erst sah sie das riesige Einschussloch in seiner Flanke.
„Verdammte Jäger“, knirschte sie und legte vorsichtig die Hand auf den Tierhals. Der Puls raste und das Tier hechelte vor Schmerz und Anstrengung. Glasige grüne Augen starrten sie an. Wieder hatte sie ein Jungtier vor sich, und es sah dem Hund von Peter irgendwie ähnlich, auch wenn die Färbung eine völlig andere war.
Mit einem leisen Fluch schob sie die Arme unter den grauen Körper und richtete sich auf. Er ließ es geschehen. Hund, beschloss Hannah spontan. Sie wandte sich um und schlug den Rückweg ein. Eine raue Stimme ließ sie stoppen.
„Hallo Lady. Ich schätze, du hast da was, das mir gehört.“
Langsam drehte sie sich um und betrachtete die fünf Männer, die sich vor ihr aufbauten. Alle hielten Gewehre in der Hand, aber als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Messer, Pistole, Gewehr, die ganze Palette. Und sie wirkten nicht freundlich.
Das war eindeutig nicht gut.
„Hallo“, meinte sie. „Ich glaube, da irren Sie sich. Ich habe hier einen offensichtlich schwerverletzten Hund, der dringend den Tierarzt braucht. Sie sehen mir nicht wie einer aus.“
Er grinste und trat einen Schritt näher. Das Gewehr bewegte sich in ihre Richtung.
„Das ist ein Wolf, Lady“, korrigierte er mit mildem Spott. „Und da ich ihn geschossen habe, gehört er mir.“
„Ach“, Hannah konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Zorn bebte. „Abgesehen davon, dass sich ein Wolf wohl kaum von mir tragen lassen würde, meine ich zu wissen, dass das Jagen hier in dieser Gegend verboten ist. Sie sollten sich also besser verziehen. Hier in der Nähe wohnen nämlich Leute, die gerade stinksauer auf diverse Wilderer sind, die sich hier herumtreiben und Schlagfallen aufstellen. Sie haben diese Mistkerle nicht zufällig getroffen?“
Seine Miene verzog sich zu einem gehässigen Grinsen.
„Lady, die Hinterwäldler hier sind mir herzlich egal. Der Pelz da aber nicht.“
Das Gewehr zielte jetzt genau in ihre Richtung.
Hannah trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Hören Sie auf mit dem Scheiß“, verlangte sie. „Sie wollen mich doch nicht ernsthaft mit Ihrer Waffe bedrohen?“
„Schätzchen, wir sind hier mitten im Wald, ganz für uns allein. Niemand wird mitkriegen, wenn wir uns vergnügen. Und ich glaube, ich habe gerade beschlossen, dass wir ein wenig Spaß miteinander haben werden. Was meint ihr, Jungs?“
Die Männer grinsten sie an. Hannah trat einen weiteren Schritt zurück und drückte den Hund an sich. Die Situation gefiel ihr ganz und gar nicht. Dieser Mann hatte leider recht. Niemand war hier, um ihr zu helfen. Und dummerweise hatten die Kerle jede Menge Gründe, sie nicht einfach gehen zu lassen. Ob mit oder ohne Wolf.
Wenn das wirklich die Wilderer waren, und daran zweifelte sie keine Sekunde, dann waren sie mit Sicherheit nicht daran interessiert, eine Zeugin am Leben zu lassen, die sie identifizieren konnte.
Die Männer setzten sich in Bewegung und fingen an, sie einzukreisen. Als Hannah wieder nach hinten trat, richtete der Sprecher das Gewehr direkt auf sie.
„Bleib stehen“, befahl er. Hannah stockte und schielte zur Seite. Aber die nächsten Büsche waren mindestens drei Meter entfernt. Das würde sie niemals schaffen.
Der Wolf schnellte so plötzlich aus dem Gebüsch, dass alle reflexartig zurücksprangen. Der Sprecher schrie wütend auf, als die Kiefer sich in seinem Arm verbissen. Von der Wucht des Tieres wurde er zu Boden gerissen und ein Schuss löste sich. Hannah rannte ohne weiter zu zögern los. Den Wolfshund fest an sich gepresst sprang sie ins Unterholz.
Ein weiteres Mal erklang ein Schuss und Hannah wurde von einem Schlag nach vorne geworfen. Irgendwie gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben, und sie rannte weiter.
„Verdammt, verdammt“, keuchte sie. Sie spürte, dass sie getroffen war, aber stehenbleiben war keine Option.
Ihr Wolfshund war Gott sei Dank kleiner und leichter als der letzte, den sie getragen hatte, doch er wog trotzdem zu viel. Sie war nur dankbar, dass er offenbar genauso wenig bestrebt war, sie zu beißen wie Peters Hund.
Keuchend stürmte sie vorwärts, bis sie keine Kraft mehr in den Beinen hatte und auf die Knie sank. Vorsichtig legte sie das Tier vor sich auf den Boden.
Der Kleine winselte leise.
„Schsch, sei still“, murmelte Hannah, „Die Kerle sind mit Sicherheit hinter uns her. Lass mich deine Wunde sehen.“
Vorsichtig betastete sie seine bebende Flanke. Offenbar steckte die Kugel noch in ihm. Hastig streifte sie den Rucksack ab und keuchte auf. Ihre Schulter brannte vor Schmerz und ihr wurde speiübel.
Als sie wieder klarsehen konnte, kramte sie im Rucksack herum und zog das Notfallset hervor. Hastig brachte sie einen Druckverband an der Wunde an. Dann versuchte sie herauszufinden, wo und wie sie selbst verletzt war.
Das war gar nicht so einfach. Immerhin schien die Kugel von dem Rucksack gebremst worden zu sein. Mit etwas Glück war sie nicht sehr tief eingedrungen. Aber es schmerzte höllisch und ihr T-Shirt war im Schulterbereich bedenklich rot gefärbt. Zu längeren Untersuchungen fehlte ihr aber die Zeit. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht allzu stark blutete.
Schnell stopfte Hannah das Notfallset wieder zurück und zog ihr Messer heraus. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie dem Ranger zutiefst dankbar. Zumindest würde sie bei dem nächsten Zusammentreffen nicht gänzlich unbewaffnet sein.
Sorgsam befestigte sie die Waffe an ihrem Gürtel. Dann sah sie zu ihrem Schützling.
„Es hilft nichts, Kleiner. Wir müssen weiter. Tut mir leid, wenn ich dir wieder wehtue. Aber glaube mir, mir geht‘s gerade auch beschissen.“
Sie raffte sich auf und hob den Vierbeiner mit einem Schmerzlaut auf die Arme. Langsam stapfte sie weiter. Dabei versuchte sie, auf Geräusche und Bewegungen zu achten. Diesmal bemerkte sie keinen Begleiter und fühlte sich zum ersten Mal unwohl, allein zu sein. Hoffentlich hatten diese Mistkerle den Wolf nicht erwischt. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte die unschönen Vorstellungen. Auch die Frage, warum das Raubtier die Männer angegriffen hatte, drängte sie zur Seite. Darüber konnte sie spekulieren, wenn sie in Sicherheit war.
Kurz blieb sie stehen und warf einen Blick auf den Kompass an ihrem Arm, um sich zu orientieren. Verflixt. Sie war viel zu weit nach Norden gekommen. Besser sie floh nach Süden. Aber da war die Gefahr größer, auf die Wilderer zu treffen. Mit einem leisen Fluch änderte sie ein wenig die Richtung. Vielleicht konnte sie einen großen Bogen schlagen.
Sie kam nicht allzu weit, bis sie merkte, dass der Richtungswechsel keine gute Idee gewesen war.
Knapp neben ihrem Kopf schlug eine Kugel in den Baum. Sofort ließ sie sich fallen. Der Wolf jaulte auf.
Hannah robbte hinter den Baum und zerrte ihn mit sich.
„Scheiße, scheiße“, murmelte sie.
„Hey Süße“, brüllte eine Männerstimme. „Mach schon mal die Beine breit. Wir sind gleich bei dir.“
Ein anderer Mann lachte. Er befand sich ein ganzes Stück von dem Rufer entfernt. Anscheinend hatten sie sich getrennt und eine Suchkette gebildet.
Hannah presste die Lippen aufeinander. Sie musste hier dringend weg. Also doch nach Norden. Vorsichtig erhob sie sich in geduckter Haltung und griff nach dem Hund. Der schüttelte sich und kam taumelnd auf die Beine.
Am ganzen Körper zitternd stand er vor ihr. Hannah grinste ihn an.
„Tapferes Kerlchen. Versuch‘s. Das wird mir ungemein helfen.“
Geduckt huschte sie voran, den Vierbeiner dicht an ihren Fersen. Weitere Rufe verrieten ihr, dass sie sich eher am rechten Randbereich der Suchkette befand. Jede Deckung nutzend arbeitete sie sich vorwärts und versuchte, sich mehr nach rechts zu bewegen. Doch ihre Verfolger waren offensichtlich erfahrene Jäger und orientierten sich immer wieder in ihre Richtung. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie ihre Opfer gefunden hatten.
Dark Moon Creek
Tucker O’Brian horchte auf. Langsam erhob er sich und verließ sein Büro, um nach draußen zu treten.
Aus der Ferne kam Motorengeräusch auf das Dorf zu. Der Fahrer hatte das Gaspedal offenbar durchgedrückt. So viel Eile war kein gutes Zeichen. Erst recht nicht bei diesem Wagen.
Das war eindeutig das Fahrzeug von Hannah Riemann.
Er ging dem Wagen entgegen. Dieser bremste mit quietschenden Reifen vor ihm und ein völlig verdreckter, nackter Cody sprang heraus. Blut bedeckte den Oberkörper, das offenbar aus einer Schusswunde zwischen seinen Rippen gelaufen war und jetzt angetrocknet an der Haut klebte.
„Wilderer“, keuchte er. „Sie sind hinter Spencer und Hannah her.“
Tucker presste die Lippen zusammen.
„Kannst du noch laufen?“
Cody nickte grimmig.
„Gut. Benachrichtige die Zentrale, wir brauchen Unterstützung. Ich sammle die Männer. Du führst uns so nahe wie möglich hin und bleibst dann bei den Wagen als Kontaktperson. Zieh dir was an!“
Cody rannte los.
Tucker ballte die Fäuste und eilte ins Büro.
Diesmal würde er diesen Kerlen das Handwerk legen. Endgültig!
Nördliche Wälder, Minnesota
Hannah spürte, wie sie nach und nach an Kraft verlor und langsamer wurde. Irgendwann hörte sie in der Ferne einen Hubschrauber, der erst näherkam, aber dann abdrehte.
Inzwischen hatte sie jedes Zeitgefühl verloren, doch soweit sie es sehen konnte, stand die Sonne schon ziemlich tief. Mit etwas Glück wurde es bald dunkel. Vielleicht war das die Gelegenheit, ungesehen an den Jägern vorbeizukommen. Wenn sie sich dann überhaupt noch bewegen konnte.
Hinter einem dicken Baumstamm sank sie für eine kurze Pause zu Boden. Der kleine Wolfshund drückte sich eng an sie. Hannah war beeindruckt, dass er überhaupt laufen konnte. Vorsichtig löste sie die blutdurchtränkte Mullbinde.
Verdutzt blickte sie auf die Wunde. Diese war noch da und das Blut drumherum dunkelverkrustet. Aber zu ihrer Verblüffung begann sich bereits Schorf zu bilden.
„Donnerwetter“, murmelte sie. „Du hast aber verflixt gutes Heilfleisch. Das könnte ich auch gebrauchen.“
Sie verscharrte die Mullbinde in der Erde und schob Laub darüber. Sie mussten weiter.
Inzwischen ging es bergauf, was ihr gar nicht gefiel. Es war deutlich anstrengender, und in Deckung zu bleiben, war kaum mehr möglich.
Hinter einem größeren Felsbrocken hielt sie an und versuchte, ihr Keuchen in den Griff zu kriegen.
„Hallo Süße.“
Ihr Kopf fuhr zur Seite. Etwa drei Meter von ihr entfernt stand einer der Männer und zielte mit einem bösartigen Grinsen auf sie.
„Wie wär’s, wenn du schon mal die Hose ausziehst? Bis die anderen hier sind, können wir eine Menge Spaß miteinander haben. - Na los, Miststück. Runter damit!“
Hannah starrte ihn verzweifelt an. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Für einen Angriff war er zu weit weg und weglaufen war nicht möglich. So schnell wie eine Gewehrkugel war sie nicht.
Der Wolf winselte und kroch in ihre Richtung. Der Mann starrte ihn an.
„Verdammt, du hast das Mistvieh ja immer noch bei dir.“
Er richtete den Gewehrlauf auf den Kleinen.
„Nein“, schrie Hannah und schob sich dazwischen.
Die Kugel durchschlug ihren Oberschenkel. Mit einem Schrei stürzte sie zu Boden.
Der Mann fluchte und trat näher, um seinen Versuch zu wiederholen. In Hannahs Bein tobte ein Schmerz, der ihr wieder Übelkeit bescherte und sie die Pein in der Schulter beinahe vergessen ließ.
Als sie die Männerbeine vor sich stehen sah, griff sie an ihren Gürtel und packte ihr Messer. Mit wilder Entschlossenheit riss sie es heraus und schwang es nach oben.
Der Mann schrie laut auf und sackte zu Boden. Fassungslos blickte er auf sein linkes Bein, aus dem das Blut hervorquoll. Hannah hatte ihm tief in die Wade geschnitten. Bevor er reagieren konnte, rammte sie ihm das Messer in den Arm. Dann zerrte sie die Pistole aus seinem Gürtel und richtete sie auf ihn.
„Du Arschloch“, keuchte sie. „Eigentlich müsste ich dich erschießen, aber dann wäre ich nicht besser als du. Allerdings kann ich dafür sorgen, dass zumindest du mir nicht mehr hinterherläufst.“
Sie biss die Zähne zusammen und schoss ihm in den Oberschenkel des anderen Beines.
Er heulte auf.
„Du verdammte Hure. Das zahl ich dir heim. Ich werde dir die Haut abziehen.“
Hannah steckte sich die Pistole in den Gürtel und griff nach ihrem Messer und dem Gewehr. Mit einem Ächzen stemmte sie sich hoch. Jederzeit konnten die anderen Männer hier auftauchen. Jeglicher Abstand war wertvoll.
Der Wilderer fluchte und jammerte immer noch. Hannah holte mit dem Gewehr aus und knallte ihm den Schaft gegen den Kopf. Er verstummte sofort.
Sie ersparte es sich, nachzusehen, ob er noch atmete. Im Moment war ihr das eigene Leben wichtiger.
Humpelnd bewegte sie sich vorwärts und schlängelte sich durch die Felsen und Baumgruppen. Die Blutspur, die sie hinter sich herzog, war nicht beruhigend. Ihr kleiner Schützling klebte unaufgefordert an ihren Fersen.
Irgendwann hielt sie an und riss sich ihr T-Shirt vom Leib. Ob das dünne Top darunter für die Kälte der Nacht ausreichen würde, darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken.
Sie riss das Shirt in Streifen und versuchte einen Druckverband um ihren Oberschenkel anzulegen. Der Schmerz ließ sie wieder in die Knie gehen.
Der Welpe winselte und leckte ihr über den Mund. Sie verzog das Gesicht.
„Kleiner, das ist lieb gemeint, schmeckt aber echt nicht gut.“ Mit einem Stöhnen richtete Hannah sich auf und schleppte sich weiter. Hinter ihr wurden wütende Rufe laut. Sie konnte zwei Stimmen unterscheiden.
Immerhin. Mit etwas Glück waren die anderen beiden weiter weg.
Nach einer Viertelstunde sackte sie zu Boden und versuchte, den Schwindel zu verdrängen, der sie erfasst hatte.
Es war zwecklos. Mit diesem Bein würde sie keinen Meter mehr weiterkommen.
Sie betrachtete das Gewehr. Keine Ahnung wie viel Munition da drin war. Sie hatte noch nie eine solche Waffe bedient. Zwar konnte sie sich noch vage erinnern, wie man ein Gewehr entsicherte, aber das war auch schon alles. Mit der Pistole war es nicht besser. Aber immerhin hatte sie ein paar Kugeln und sie war fest entschlossen, diese einzusetzen.
Ächzend schob sie sich hoch und spähte über die Felsen den Hang hinunter. Erst konnte sie keine Bewegung ausmachen und schöpfte Hoffnung. Doch dann sah sie zwei Männer zwischen den Felsen hervorkommen. Sie kamen beängstigend zielstrebig auf sie zu.
Hannah schob das Gewehr in Position und zielte sorgfältig. Der Schuss hallte laut durch das Geröll und Hannah spürte einen schmerzhaften Schlag an ihrer Schulter. Mit einem Stöhnen sackte sie zurück. Wieder verschwamm es vor ihren Augen.
„Miststück“, brüllte einer der Kerle zu ihr hoch. „Na warte. Ich werd dir die Haut in Streifen runterschneiden.“
„Stell dich hinten an“, flüsterte Hannah und packte das Gewehr wieder fester. Als sie vorsichtig nach ihren Verfolgern spähte, war niemand zu sehen.
Sie sank zurück und starrte den jungen Hund an.
„Verschwinde“, flüsterte sie. „Du kleiner Dummkopf, hau ab und versteck dich.“
Der Hund winselte und drückte sich an sie. Hannah schob ihn grob zurück.
„Hau ab!“ Ihre Stimme klang kratzig, aber bestimmt. Wieder schubste sie ihn fort. „Du versteckst dich sofort!“
Erneut winselte er, aber als sie nach einem Stein griff und ihm damit drohte, klemmte er den Schwanz ein und kroch auf das nächste Gebüsch zu.
Hannah legte das Gewehr zur Seite und griff nach ihrem Messer. Sie schob es neben sich unter einen niedrigen Strauch und zog dann die Pistole aus dem Gürtel. Nachdenklich betrachtete sie die Schusswaffe. Sie hatte bis zum heutigen Tag noch nie eine Waffe auf ein Lebewesen gerichtet. Die Vorstellung, so etwas zu tun, war so weit weg gewesen, dass ihr das Ganze immer noch wie ein böser Traum vorkam. Aber so wie diese Wilderer drauf waren, würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben. Sie rechnete nicht damit, diesen Alptraum zu überleben, aber zumindest würde sie versuchen, ihr Leben teuer zu verkaufen.
Sie entsicherte die Pistole und wartete.
„Hallo Miststück.“
Die Stimme klang so nahe an ihrem Ohr, dass sie mit einem erschrockenen Schrei herumfuhr. Bevor sie die Pistole heben konnte, wurde sie ihr aus der Hand geschlagen. Eine grobe Hand umfasste ihren Hals und drückte sie zu Boden. Vor ihren Augen blitzte ein beängstigend scharfes Messer.
„Du verdammte Hure“, zischte er. Sie erkannte den Sprecher, der sie als Erster mit seinem Gewehr bedroht hatte. „Dass du Joe so zugerichtet hast, war ein Fehler. Der ist nämlich zufällig mein bester Freund. Ich schätze, ich werde mir wirklich Zeit lassen, dich zu zerlegen.“
Hannah stöhnte laut auf, als er sich auf ihre Beine setzte, ohne ihren Hals loszulassen. Er riss das Messer hoch und rammte es mit aller Gewalt in ihre linke Schulter, so dass es im Boden stecken blieb.
Der Schmerz raubte Hannah beinahe die Sinne. Wimmernd wand sie sich unter ihrem Peiniger. Er ließ das Messer los und zog ein zweites heraus. Mit einem gehässigen Grinsen fuhr er mit der Klinge unter ihren Hosenbund und schnitt gewaltsam den Stoff durch. Brutal zerrte er ihr die zerschnittene Jeans von den Beinen.
Hannah schrie vor Schmerz. Die Klinge fixierte sie immer noch am Boden und jeder Ruck jagte neue Schmerzkaskaden durch ihre Schulter. Die Qual in ihrem Bein ging dabei fast unter. Nur verschwommen nahm sie wahr, wie er an seinem eigenen Gürtel hantierte.
Ihre rechte Hand tastete zur Seite. Als sie den Messergriff spürte, krampften sich ihre Finger entschlossen um ihn.
Mit einem weiteren Schrei schwang sie den Arm mit all ihrer verbliebenen Kraft auf ihn zu. Er war noch mit seiner Hose beschäftigt und sah die Klinge beinahe zu spät.
Fluchend versuchte er, sie abzuwehren, und das Messer traf ihn im Unterarm. Mit einem wütenden Schrei warf er sich zurück und hielt sich den Arm.
„Du verdammte Schlampe“, heulte er auf.
Ein Schatten fiel auf Hannah. Ehe sie reagieren konnte, kam ein schwerer Stiefel auf sie zugeschossen und trat ihr das Messer aus der Hand, bevor er ihren Arm an den Boden nagelte. Ihr zweiter Verfolger stand über ihr und blickte mit einer Mischung aus Zorn und Erregung auf sie herunter. Sein Gewehr zielte auf ihr Gesicht. Der Verletzte stand inzwischen auf den Beinen und packte wieder sein Messer.
„Ich werde dir zeigen, was man mit einem Messer so alles abschneiden kann“, zischte er. „Vielleicht fange ich am besten mit deinen Händen an.“
Hannah sah hilflos zu, wie er sich ihr wieder näherte.
Niemals zuvor hatte sie eine solche Angst und Panik in sich verspürt.
Der Schatten kam lautlos aus dem Nichts gesprungen und verbiss sich im Hals des Mannes. Durch den Nebel aus Schmerz und Blut sah sie einen riesigen schwarzen Wolf, der den Wilderer zu Boden warf und ihm die Kehle aufriss.
Wieder schoss der Schmerz durch ihre Schulter, als ihr anderer Arm verdreht wurde. Ihr Blick irrte zu dem zweiten Mann, der seinen Stiefel von ihrem Handgelenk genommen hatte und blieb an dem riesigen Messer hängen, das tief im Hals des Wilderers steckte. Mund und Augen weit aufgerissen, röchelte er vor Schmerz und Entsetzen. Hinter ihm stand ein riesiger Mann und hielt seinen Kopf an den Haaren gepackt. Mit einer kurzen Bewegung drehte er das Messer herum und zog es dann heraus. Mit einem gurgelnden Laut kippte der Wilderer zu Boden. Der Hüne trat ihn mit dem Fuß zur Seite und säuberte sein Messer ungerührt am Hemd des Schwerverletzten.
Hannah konnte den Blick kaum von dem zuckenden Mann lösen. Er ertrank in seinem eigenen Blut.
Wieder glitt ihr Blick zu dem anderen Wilderer. Der Wolf stand noch über ihm und seine Kiefer rissen mit einer solchen Entschlossenheit an dem Fleisch, dass das Blut in dicken Fontänen zur Seite spritzte. Übelkeit wallte wieder in ihr hoch und sie musste all ihren Willen aufbringen, um sich nicht zu übergeben.
Erst als die Schreie seines Opfers verklangen, ließ der Wolf von ihm ab und wandte sich Hannah zu. Er war über und über mit Blut bedeckt, ebenso wie der Boden und Hannah.
Hannahs Atem ging in hektischen Stößen, und sie nahm ihn nur noch schemenhaft wahr. Als er über ihr stand, hob er den Kopf und stieß ein markerschütterndes Heulen aus, das ihr durch und durch ging. Dann senkte er den Kopf und blies ihr seinen Atem ins Gesicht. Er roch nach Blut und rohem Fleisch. Hannah schloss die Augen.
Ein Winseln ließ sie diese wieder aufreißen. Langsam drehte sie den Kopf und sah den jungen Hund aus dem Gebüsch kriechen. Der Wolf sah ihm ebenfalls entgegen und stieß ein leises Grollen aus. Der Hund fiepte, kroch aber trotzdem weiter auf sie zu, bis er Hannah erreicht hatte und den Kopf unter ihre linke Hand geschoben hatte. Dort blieb er zitternd liegen.
Hannah war nicht einmal in der Lage, ihn beruhigend zu kraulen. Jede Bewegung ihrer Hand jagte erneut flammende Schmerzen in ihre Schulter.
Langsam trat der Wolf zurück und blieb zu ihren Füßen stehen. Seine grünen Augen fixierten sie mit einer Intensität, die ihr Gänsehaut verursachte. Sie blinzelte irritiert.
Irgendwie kamen ihr diese Augen bekannt vor. Aber das war ja Blödsinn.
Wieder fiel ein Schatten über sie, als der fremde Mann nähertrat. Er war beeindruckend groß und trug Tarnkleidung. An seinem Hals ringelten sich bizarre Tattoos, ebenso an den muskulösen nackten Armen.
Viel beängstigender aber war seine Bewaffnung. Mehrere Messer steckten in einem breiten Ledergürtel, ebenso mindestens zwei Pistolen und auf seinem Rücken hing ein schweres Gewehr, das deutlich gefährlicher aussah als das kümmerliche Jagdgewehr, welches sie erbeutet hatte.
Seine grünschillernden Augen fixierten sie und verursachten ihr die gleiche Gänsehaut wie der Wolf.
Als der Junghund erneut winselte, warf ihm der Riese einen ärgerlichen Blick zu.
„Sei still, Welpe!“
Seine Stimme war leise und hörte sich eher wie ein warnendes Grollen an. Der Kleine verstummte schlagartig und drückte sich wieder platt auf den Boden.
Der Mann packte ihn am Nackenfell. Kurz untersuchte er seine Wunde und warf dabei einen kurzen Blick auf Hannah. Dann schob er den Welpen zur Seite, in Richtung des Wolfes.
Er kniete neben Hannah nieder und sah ihr in die Augen.
„Das wird jetzt unangenehm“, meinte er und legte seine große Hand auf ihren Mund. Ehe Hannah begriff, was er vorhatte, fixierte er ihren Brustkorb mit dem Knie und packte den Messergriff. Mit einer schnellen Bewegung zog er das Messer heraus. Hannah verdrehte die Augen und lehnte sich gegen sein Gewicht auf. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, versorgte er gerade ihren Oberschenkel. Während er einen Druckverband festzog, bäumte Hannah sich erneut auf und krallte ihre Hand in sein Bein, das er vor ihr aufgestellt hatte. Völlig unbeeindruckt beendete er sein Werk. Dann zog er eine Feldflasche hervor und brachte sie in eine sitzende Position.
„Trink!“
Ihre zitternde Hand griff nach der Flasche und sie schluckte gehorsam das Wasser. Ein leises Fiepen ließ sie zur Seite blicken. Der kleine Kerl starrte sie mit langer Zunge an. Sie senkte die Hand und schüttete etwas von dem Wasser in die linke Handfläche, die eher nutzlos auf ihrem Bein ruhte. Seine Zunge schnellte sofort heraus und schleckte es auf. Als der Mann ihr die Flasche aus der Hand zog, schloss sie die Augen und ließ sich von ihm zurück auf den Rücken legen. Er war zwar nicht gerade sanft mit ihr umgegangen, aber immerhin schien er ihr helfen zu wollen, und das war mehr als beruhigend.
Der schwarze Wolf hatte sich inzwischen hingelegt und beobachtete sie immer noch. Hannah vermied es, ihn direkt anzusehen. Irgendwann hatte sie mal gelesen, dass man Wölfe durch direkten Blickkontakt herausforderte. Das wollte sie lieber nicht riskieren.
Ihre Augenlider sanken nieder und sie sackte in einen Dämmerschlaf.
Die Stimme des Mannes ließ sie wieder hochschrecken. Er hockte neben ihr und sprach leise in ein Funkgerät. Alles konnte sie nicht verstehen, nur einige Worte: Wolf, Welpe und - Tucker. Erleichterung durchfloss sie. Wenn dieser Riese Tucker O’Brian kannte, würde alles gut werden.
„Wir werden die Nacht hier verbringen müssen.“
Die Stimme des Riesen war immer noch leise. Hannah blinzelte erneut. Redete er mit ihr?
„Es wird kalt werden.“ Er sah sie jetzt an. „Wenn es wieder hell wird, müssen wir noch ein Stück weiter nach Norden, wo uns ein Hubschrauber abholen kann.“
Aus dem Tal schallte lautes Wolfsgeheul hoch. Der schwarze Wolf stand auf und lauschte mit erhobenem Kopf.
Der Mann nickte ihm zu.
„Geh jagen. Ich passe auf die beiden auf.“
Der Wolf war so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Hannah schloss die Augen. Eine feuchte Schnauze drängte sich gegen ihre Hand. Sie lächelte und griff mit der unverletzten Hand nach dem Welpen, um ihn an sich zu ziehen. Er kuschelte sich eng an sie und rollte sich zusammen. Hannah genoss sein warmes Fell. Langsam wurde es dunkel und entsprechend kalt. Gänsehaut bildete sich bereits auf ihren Armen, und immer noch war ihr übel vor Schmerz. Schließlich öffnete sie die Augen und tastete nach ihrem Rucksack. Mit zitternder Hand wühlte sie darin herum, bis sie eine Blisterpackung hervorzog.
Ihr Beschützer hielt ihre Hand fest und betrachtete stirnrunzelnd die Tabletten. Hannah presste entschlossen die Lippen zusammen und versuchte sich loszureißen, was ihr aber nicht gelang.
„Verdammt“, keuchte sie. „Du gehörst vielleicht zu der Sorte Mensch, die keinen Schmerz kennt, ich aber nicht.“
Er grinste schwach.
„Schmerz belebt und hält einen wach.“
„Mich bringt er gerade um“, fauchte sie. Zu ihrer Erleichterung ließ er sie los und reichte ihr erneut die Trinkflasche. Es war nicht gerade einfach, mit einer Hand die Schmerztabletten aus der Blisterverpackung zu drücken, und auch ihr Zittern war dabei eher hinderlich, aber schließlich schluckte sie drei hinunter und spülte mit dem Wasser hinterher. Dann sackte sie erschöpft wieder zurück.
Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete sie den Mann. Er wirkte völlig entspannt und unbesorgt.
Die Dunkelheit senkte sich jetzt schnell über die Wildnis und es wurde unangenehm kalt.
Hannah rollte sich, so gut es ging, um den Welpen zusammen. Bald zitterte sie am ganzen Körper. Warum hatte sie ausgerechnet dieses Mal keine Decke oder zumindest einen wärmeren Pullover dabei? Nie wieder würde sie so etwas vergessen!
Wolfsgeheul drang zu ihnen und entfernte Schüsse peitschten durch die Nacht. Hannah zuckte unwillkürlich zusammen, genauso wie der Welpe.
Als sich ein großer warmer Pelz an ihren Rücken drückte, erstarrte sie. Ein weiterer Körper drängte sich an ihre nackten Beine und nacheinander schoben sich zwei große Köpfe auf ihren Bauch. Hannah hielt vor Schreck erst die Luft an. Doch dann entspannte sie sich. Bisher hatte kein Wolf, den sie hier angetroffen hatte, sie in irgendeiner Form bedroht, und sie war sich sicher, dass dieser unheimliche Mann eingegriffen hätte, wenn sie in Gefahr gewesen wäre.
Es dauerte nicht lange und die Fellträger übertrugen ihre Wärme auf sie. Völlig erschöpft schob Hannah ihre Hände in den dichten Pelz und schloss die Augen. Dann ließ sie sich von der Wärme und dem fernen Wolfsgeheul in den Schlaf treiben.
*
Ollie Nicholson fluchte unterdrückt und senkte das Fernglas. Langsam wurde es dunkel und die Jagd würde schwieriger werden. Er sah zu seinem Freund, doch der schüttelte den Kopf.
„Stan meldet sich nicht. Und Willy auch nicht. - Glaubst du, dass dieses Miststück die zwei erwischt hat?“
Ollie lachte verächtlich auf.
„Wohl kaum. Die blutet wie ein angestochenes Schwein. Ich schätze mal eher, dass die beiden mit ihr ihren Spaß haben.“
Ein Stöhnen ließ ihn zur Seite blicken.
Sein Kumpel Joe lehnte an einem Baum und hatte die Hände geballt. Dicke Verbände prangten an seinen Beinen und an seinem Arm. Die rechte Gesichtshälfte war rot und geschwollen.
„Die sollen mir noch was von ihr übriglassen“, knirschte er.
Ollie grinste.
„Keine Sorge, du kennst sie doch. Trotzdem blöd, dass sie sich nicht melden. - Scheiße, was war das?“
Er sprang auf und richtete sein Gewehr auf das Gebüsch neben ihm. Aber alles blieb still.
„Sei nicht so nervös“, lachte der mit dem Fernglas. „Hier ist ...“
Das Heulen klang direkt in der Nähe auf und ließ die drei Männer zusammenzucken.
„Verdammt, Sean“, fluchte Ollie. „Ich wusste doch, dass ich was gesehen habe. Hier treibt sich mindestens ein Wolf rum. Vielleicht sollten wir ein Feuer machen.“
„Hast du etwa Schiss vor einem Wolf?“, fragte Sean verächtlich.
„Nein, du Idiot, aber ich mag es nicht, aus dem Dunkeln heraus angegriffen zu werden.“
„Das kommt so gut wie nie ...“
Wieder erklang ein Heulen, dieses Mal von der anderen Seite. Die Männer lauschten.
„Also mindestens zwei“, knurrte Ollie. Zwei Wölfe heulten gleichzeitig, wieder aus verschiedenen Richtungen. Die Männer sahen sich an. In beiden Gesichtern stand Unbehagen.
„Shit“, stöhnte Joe. „Haben die uns eingekreist? Was soll denn das? So hungrig können die um diese Jahreszeit doch gar nicht sein.“
Abermals ertönte ein Heulen, dieses Mal ganz in der Nähe. Ollie wirbelte herum und schoss mehrmals geradewegs in die Richtung. Ein Jaulen erklang.
Ollie grinste triumphierend.
„Na also. Wartet einen Moment. Dem Mistvieh gebe ich den Rest. Der kann nicht weit weg sein.“
Ehe seine Kameraden protestieren konnten, stapfte er los. Sorgsam hielt er nach Spuren und Bewegungen Ausschau, aber in der Dunkelheit konnte er trotz Taschenlampe nichts entdecken.
Irgendwann blieb er stehen und fluchte leise. Er hätte den Wolf schon längst sehen müssen. Noch einmal ließ er den Blick schweifen, dann drehte er sich um und erstarrte.
Direkt vor ihm stand ein riesiges schwarzes Ungetüm und starrte ihn aus grünschillernden Augen mit einem leisen Grollen an.
Ollie war starr vor Angst. Noch nie hatte er einem so großen Wolf gegenübergestanden. Der Kopf dieses Monstrums befand sich beinahe auf gleicher Höhe mit seinem eigenen und war höchstens einen Meter von ihm entfernt. Der gewaltige Körper war von ungewöhnlich zotteligem Pelz bedeckt und die Pfoten endeten in furchteinflößenden Krallen.
Ollie umklammerte das Gewehr und überlegte krampfhaft, wie er die Waffe schnell genug in Anschlag bringen sollte.
Er brauchte Abstand. Vorsichtig machte er einen Schritt nach hinten. Das Vorderbein des Wolfes schlug so schnell nach vorne, dass Ollie keine Zeit fand, zu reagieren. Die Krallen erwischten seinen Arm mit solcher Kraft, dass das Gewehr weit zur Seite flog. Ollie brüllte vor Schmerz auf und stürzte zu Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht umfasste er seinen Arm. Entsetzt sah er die vier tiefen Furchen im Oberarm, aus denen rotes Blut hervorquoll. Panisch sah er zu dem Wolf, der immer noch an seinem Platz stand und ihn unverwandt ansah. Stöhnend raffte Ollie sich auf und griff nach der Pistole.
Mit einem Riesensatz sprang der Wolf vor und landete mit den Vorderpfoten auf seinem Oberkörper. Ollie wurde in den Waldboden gedrückt und stieß erneut einen Schrei aus. Immer noch zerrte er an der Pistole, aber ein plötzlicher Schmerz in der Hand ließ ihn aufbrüllen.
Entsetzt sah er in das Gesicht eines weiteren Wolfes. Dieser war deutlich kleiner als der schwarze Riesenwolf, aber seine Augen glommen genauso grün und entschlossen.
Tiefes Knurren ließ ihn wieder hochblicken, direkt in das aufgerissene Maul des Riesenwolfs.
„Heilige Mutter Gottes“, krächzte er.
*
Joe und Sean sahen sich kreidebleich an, als die Schreie zu ihnen herüberdrangen.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, murmelte Sean. „Was passiert da gerade? Dieser Idiot, warum läuft er auch alleine los?“
„Du musst ihm helfen!“ Joe umklammerte sein Gewehr. „Na los, verdammt. Such ihn! Ich komme schon klar.“
Sean schluckte. Er verspürte nicht die geringste Neigung, allein loszugehen, aber er hatte wohl keine Wahl. Joe war nicht in der Lage zu laufen. - Aber diese Schreie!
Seine Hände umkrallten die Waffe und er ging los. Verdammt, warum meldeten sich Willy und Stan nicht?
Langsam und vorsichtig pirschte er sich vorwärts. Die Schreie waren inzwischen verstummt und das war nicht gut. Gar nicht gut!
Nach wenigen Minuten stockte er und rang nach Luft.
Vor ihm lag Ollie - oder besser gesagt das, was von ihm noch übrig war. Sein Körper war völlig zerrissen. Arme, Beine, Kopf, nichts war mehr am Rumpf zu sehen. Kaltes Grausen erfasste ihn, als er sah, dass die Messer noch in dem Gürtel steckten. Mit einem erstickten Laut drehte er sich um und erbrach sich. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf den abgetrennten Kopf. Die toten Augen starrten ihn anklagend an.
Sean rannte los. Keuchend kam er am Lagerplatz an und blieb nach Atem ringend vor Joe stehen.
„Shit, Joe“, würgte er hervor. „Ich ...“
Er brach ab und starrte seinen Freund an. Dieser saß immer noch an den Baum gelehnt, die Augen weit aufgerissen. An seinem Hals klaffte eine riesige Schnittwunde, aus der rotes Blut pulste. Sean torkelte zurück, als er registrierte, dass Joes Hände fehlten. Die Armstümpfe sahen aus, als wären die Hände einfach abgerissen worden. Aus Joes aufgerissenem Mund drang ein gurgelndes Stöhnen.
„Hallo, mein Freund.“
Mit einem Schrei wirbelte Sean herum und starrte gegen einen breiten, schwarz belederten Brustkorb. Ehe er reagieren konnte, spürte er, wie ihm das Gewehr aus der Hand gezogen wurde.
Mit einem weiteren Aufschrei sprang er nach hinten und griff zu seiner Pistole - aber da war nichts mehr. Geschockt starrte er auf den riesigen Mann, der grinsend vor ihm stand und die Waffe hochhielt.
„Wenn du die hier suchst - ich kann die Dinger nicht leiden. Die machen so unschöne Löcher in hübsche Pelze und Frauen.“
Sean spürte, wie in ihm die Panik hochstieg. Dieser Kerl sah aus, als wäre er einer Motorradgang entsprungen. Hünenhaft groß, Schultern wie ein Schrank, am Hals tätowiert und komplett in schwarzes Leder gekleidet. In dieser Wildnis wirkte er völlig fehl am Platz.
Mit einer lässigen Bewegung schleuderte der Hüne die Waffe in den Wald. Dann hob er Seans Gewehr und schlug es mit einer blitzartigen Bewegung gegen einen Felsen. Fassungslos beobachtete Sean, wie es zersprang.
Der Riese sah wieder zu ihm und grinste.
„Darf ich dir zwei gute Freunde vorstellen?“
Ein Knurren ließ Sean herumwirbeln. Vor ihm standen zwei schwarze Wölfe. Der eine war unfassbar groß und der andere zwar deutlich kleiner, aber immer noch weitaus größer und kräftiger als ein normaler Wolf. Beide starrten ihn mit einer solchen Intensität an, dass seine Beine nachgaben. Mit einem Keuchen sackte er auf die Knie. Zwei große Hände legten sich von hinten auf seine Schultern und fixierten ihn.
„Das sind Tucker und Mort. Mort, der große Zottel rechts, ist per se auf Wilderer nicht gut zu sprechen. Genauso wenig mag er Kerle, die auf wehrlose Frauen schießen. Das Gleiche gilt natürlich auch für Tucker. Aber der ist, gelinde gesagt, richtig sauer. Ihr habt nämlich versucht, zwei von seinen Welpen zu töten, und das kann er überhaupt nicht leiden. Mit anderen Worten, du hast ein echtes Problem. Zumal du die Fallen aufgestellt hast.“
„Das war ich nicht“, stammelte Sean. „Das war Stans Idee, ich ...“
Die Hände umklammerten seine Schultern so schmerzhaft, dass er aufstöhnte.
„Halt‘s Maul“, knurrte der Mann hinter ihm und klang dabei selbst fast wie ein Wolf. „Die Eisen stinken nach dir und die Spuren an den Stellen, wo wir sie gefunden haben, waren auch von dir. - Jetzt würden wir gerne wissen, wie viele du noch ausgelegt hast.“
Sean flimmerte es vor den Augen vor Schmerz. Die Hände an seinen Schultern hatten nicht einen Deut nachgegeben.
„Zehn“, stammelte er. „Ich habe zehn verteilt.“
„Und wo?“
Der Griff verstärkte sich. Sean heulte auf.
„In meinem Rucksack ist eine Karte. Da sind sie eingezeichnet. Oh Gott, hör auf! Bitte!“
Der Griff löste sich und Sean sackte zu Boden. Die Wölfe hatten ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Er sah, wie der Lederkerl zu den Rucksäcken schritt und ohne zu zögern nach seinem Sack griff. Wenige Sekunden später hatte er die Karte gefunden und klappte sie auf. Zufrieden nickte er und sah zu Sean.
„Du kannst es dir aussuchen: auf die schnelle oder auf die spaßige Art.“
Sean sah ihn verständnislos an. Der Mann wies mit dem Kinn zu Joe, der inzwischen still und mit starren Augen zur Seite gerutscht war.
„Das ist die schnelle Art. Aber wenn du willst, kannst du dir auch die Beine vertreten. Immerhin bist du ja ein Jäger.“ Er grinste bösartig. „Und die laufen ja bekanntlich gerne nachts durch die Wälder.“
Sean war kalkweiß geworden. Entsetzt sah er zwischen Joe und den Wölfen hin und her.
„Keine Sorge“, meinte der Riese. „Sie lassen dir auch einen Vorsprung.“
Der Wilderer richtete sich torkelnd auf. Der Hüne grinste ihn spöttisch an. „Viel Spaß.“
Sean floh. Panisch rannte er in die Nacht. Sofort klang rings um ihn herum Heulen auf. Schatten kamen in Bewegung und trabten hinter ihm her.
Sie trieben ihn nach Norden, immer weiter, und bescherten ihm die längste und letzte Jagd seines Lebens.
Nur dass diesmal er selbst die Beute war.
Tag 20
Nördliche Wälder, Minnesota
Als Hannah die Augen aufschlug, dämmerte es bereits. Ächzend richtete sie sich auf und sah sich um.
Die zwei großen Pelzträger waren verschwunden, nur der Jungwolf lag noch dicht an ihren Körper gedrängt und blinzelte sie schläfrig an. Hatte sie die Wölfe nur geträumt?
Von den Leichen war ebenfalls nichts mehr zu sehen, aber die angetrockneten Blutlachen auf dem Boden verrieten, dass der Alptraum Realität war.
Hannahs Blick fiel auf ihren geheimnisvollen Beschützer und sie erstarrte. Neben ihm saß ein weiterer Kerl. Dieser war noch größer und breiter, allerdings ganz in schwarzes Leder gehüllt, und grinste sie an.
„Hallo Hannah, ich bin Henry. Wie gehts?“
Sie räusperte sich und suchte nach einer passenden Antwort.
„Äh, danke, könnte besser sein. Mir fehlt wohl die Matratze. - Haben Sie sich verlaufen? Irgendwie passen Sie eher in einen Gangsterfilm.“
Er lachte lauthals, was ihn deutlich ungefährlicher wirken ließ. Aber sie gab sich keinen Illusionen hin. Vor ihr saßen die gefährlichsten Männer, denen sie je begegnet war, da war sie sich absolut sicher.
„Nein, ich habe mich nicht verlaufen. Ich hatte nur keine Zeit mich umzuziehen. Cathal trägt da eindeutig das passendere Outfit.“
Er grinste den anderen Mann an. Der verzog nur das Gesicht.
„Was ... was ist mit den Wilderern?“
Sein Grinsen verschwand.
„Keine Sorge. Die werden niemanden mehr jagen. Keine Wölfe mehr und keine Hannahs.“
Sie schluckte hart. Ihr war durchaus klar, was er damit andeutete. Sie würde noch darüber nachdenken müssen, ob sie das akzeptieren konnte oder nicht. Im Moment war sie jedenfalls erleichtert.
Sie sah auf ihr blutverschmiertes Bein und versuchte es zu bewegen. Der Schmerz schoss sofort durch sie hindurch und ließ sie die Lippen zusammenpressen. Aber die Schulter schmerzte eindeutig mehr. Es war sehr mühsam, aufrecht sitzen zu bleiben.
Der kleine Wolf winselte. Hannah lächelte ihn verzerrt an.
„Keine Sorge, kleiner Mann, das wird schon wieder.“
Sie langte nach ihrem Rucksack und suchte die Schmerztabletten.
Cathal reichte ihr wortlos seine Trinkflasche.
Als sie sich versorgt hatte, hielt der andere ihr einen Schokoladenriegel entgegen.
„Essen Sie! Wir haben noch ein paar Meilen vor uns.“
Hannah schlang den Riegel heißhungrig hinunter. Normalerweise hielt sie es problemlos länger ohne Nahrung aus, aber die Verletzungen zehrten eindeutig an ihren Reserven. Kaum hatte sie fertig gegessen, da richteten sich die Männer auch schon auf. Als Hannah es ihnen gleichtun wollte, schüttelte der Mann namens Henry den Kopf.
„Vergessen Sie’s. Mit den Verletzungen kommen Sie keine zehn Meter weit. Wir werden Sie tragen.“
Er bückte sich zu ihr hinunter und nahm sie mühelos auf die Arme.
Hannah keuchte unwillkürlich auf, als die Schmerzen durch ihre Verletzungen jagten, biss sich dann aber auf die Lippen.
„Geht’s?“
Sie nickte konzentriert. Um nichts in der Welt wollte sie die Männer mit jammern nerven. Er sah zu dem kleinen Hund (oder doch Wolf?).
„Du bleibst genau hinter mir! Wag es ja nicht, auch nur eine Pfote danebenzusetzen oder einen Laut von dir zu geben!“
Der Schwanz des Kleinen war nicht mehr zu sehen. Unter anderen Umständen hätte Hannah über so viel Unterwürfigkeit gelacht, aber im Moment war sie mehr darum bemüht, bei Bewusstsein zu bleiben.
Als die beiden losliefen, brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie waren schnell und zielstrebig. Henry versuchte offensichtlich, sie möglichst vorsichtig zu tragen, aber ihre Schulter und ihr Bein flammten vor Schmerz.
Hannah verlor jedes Zeitempfinden. Die Qual vernebelte ihr die Sicht und ließ sie immer wieder wegsacken. Die Landschaft zog an ihr vorbei, Bäume, Felsen, Farben, Schatten.
Vorneweg lief Cathal, das Gewehr in den Händen. Hinter ihnen trabte der kleine Wolf. Nur nebenbei wunderte sie sich, dass er so offensichtlich keine Probleme mehr mit der Schusswunde hatte. Aber ihre Gedanken trieben schnell wieder fort.
Irgendwann stoppten sie und die Männer wechselten die Position. Cathal hielt sie genau so fest und sicher in den Armen wie Henry. Wieder schwankte sie zwischen Schmerz und Ohnmacht hin und her. Zwischendurch nahm sie Bewegungen neben sich wahr, wusste aber nicht, ob sie sich das einbildete. War es ein Wolf? Er war so groß, nahezu riesig. Ein gigantischer, schwarzer Zottelwolf. Das war unmöglich Realität. Ein Traum. Sie lächelte und driftete wieder in eine Ohnmacht.
Noch einmal sah sie den Riesenwolf. Diesmal lief er vorne, bei diesem Henry. Zwei Riesen nebeneinander. Ein passendes Pärchen. Der Wolf drehte den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Grün, das hätte sie sich ja denken können. Wieder lächelte sie und sackte weg.
Sie träumte von grünen Augen und Wölfen, unterbrochen von Schmerz und Wasser auf ihren Lippen.
„Es geht ihr nicht gut.“
Die Stimme drang wie von fern an ihr Ohr. Erneut spürte sie Wasser an ihrem Mund und trank.
„Kein Wunder. Aber wir müssten gleich da sein. Mia ist schon gelandet. Wir können dann also sofort starten. Hast du die Kugeln herausbekommen?“
„Die aus der Schulter. Sie saß nicht besonders tief. Die Kugel im Bein ist ziemlich nah am Knochen. Der Messerstich ist schlimmer.“
„Ärgerlich, aber ich glaube, Tucker hat eine gute Ärztin. Komm weiter.“
Wieder fühlte Hannah, wie sie hochgehoben wurde, und die Zeit verschwamm.
„Hannah!“
Sie blinzelte und sah in Henrys grüne Augen.
„Wir sind da. Bald sind Sie in Sicherheit.“
Sie schaffte es, zu lächeln.
„Das bin ich doch schon“, murmelte sie. Er grinste breit.
„Danke, das werte ich mal als Kompliment. Jetzt werden Sie leider noch einmal etwas durchgeschüttelt. Mia fliegt zwar fantastisch, aber Hubschrauber sind ziemlich ruppig.“
Hannah sah in die Richtung, in die er zeigte.
Vor ihnen stand ein großer Helikopter auf einer Lichtung. Cathal trug sie darauf zu. Wieder blinzelte Hannah. In der geöffneten Tür des Hubschraubers hockten zwei Gestalten, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Mann war noch riesiger als Henry und genauso in Leder gekleidet wie er. Schwarze Zottelhaare hingen ihm ins Gesicht und er wirkte eher mürrisch.
Neben ihm saß eine kleine Gestalt mit einer roten Wuschelfrisur. Hannah schätzte das Mädchen auf höchstens Anfang zwanzig. Im Gegensatz zu ihrem Sitznachbarn machte sie einen äußerst gut gelaunten Eindruck und winkte ihnen zu.
„Fein dass ihr endlich da seid. Ich hocke hier schon über eine Stunde rum.“
Henry trat auf sie zu und packte sie vorne an ihrem Hemd. Mühelos zog er sie hoch, bis sich ihre Köpfe auf einer Höhe befanden. Dann drückte er ihr einen Kuss auf den Mund. Sie schlang die Arme um den breiten Männernacken und erwiderte ihn. Als sie sich voneinander lösten, ließ er sie los und sie plumpste auf die Füße.
„Schmeiß die Kiste an, Süße. Die Lady hier braucht dringend einen Arzt.“
Die junge Frau sah neugierig zu Hannah und riss erschrocken die Augen auf, als sie das bleiche, vom Schmerz gezeichnete Gesicht und die blutigen Verbände sah.
„Oh Mist, geht klar.“
Sie sprang in den Hubschrauber. Der schwarze Hüne stand auf und kletterte ihr hinterher. Cathal hob ihm Hannah entgegen. Wieder fühlte sie sich von starken Armen ergriffen und sah in grün irisierende Augen. Sein Blick ging ihr durch und durch. Er war stahlhart und schien sie zu sezieren.
„Lass sie in Ruhe, Mort“, erklang Henrys Stimme. „Sie hat genug durchgemacht. Cathal, reich mir den Welpen rein.“
Hannah fühlte den harten Stahlboden unter sich. Der Riese hatte sie überraschend vorsichtig abgelegt und schob eine Decke unter ihren Kopf. Dann breitete er eine Zweite über ihr aus.
Mit einem Winseln kroch der Welpe an ihm vorbei und drängte sich an Hannahs Körper. Beruhigend legte sie eine Hand auf sein Fell.
„Schon gut, Kleiner“, murmelte sie. „Das sind doch die guten Jungs.“
Er schob die Schnauze unter die Decke auf ihren Bauch.
Der Hubschrauber startete und dröhnte schmerzhaft laut in ihren Ohren. Als er abhob, schwanden ihr wieder die Sinne.
Dark Moon Creek
Hannah kam erst zu sich, als der Helikopter zur Landung ansetzte.
Die Kabinentür wurde aufgeschoben und frische Luft drang herein. Henry beugte sich zu ihr hinunter.
„Wir sind in Dark Moon Creek, Hannah. Die Ärztin hier wird Sie versorgen. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Hannah lächelte ihn dankbar an.
„Vielen Dank.“
Sie sah zu Cathal.
„Ihnen auch ein großes Dankeschön. Für alles.“
Er nickte nur.
Henry grinste und nahm sie wieder hoch.
„Cathal ist kein Freund vieler Worte“, erklärte er. „Aber er mag Sie.“
Hannah überlegte, was das bedeuten sollte, doch wieder übermannte sie der Schmerz und ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Draußen wurde sie von anderen Armen in Empfang genommen und auf eine Trage gelegt. Sie erkannte Theos besorgtes Gesicht. Neben ihm stand Tucker, der finster auf sie heruntersah.
„Mort!“
Ein begeisterter Schrei erreichte ihr Ohr und sie sah eine Gestalt vorbeiflitzen, die zum Hubschrauber rannte und dem schwarzen Hünen an den Hals sprang. Ihre Arme und Beine umschlangen ihn und sie schien in den Mann hineinkriechen zu wollen. Der Riese legte seine Arme um sie und küsste sie mit einer Leidenschaft, die Hannah bisher selten gesehen hatte. Dann trug er die Frau fort.
Hannah blinzelte. Ein schwarzhaariger, mürrischer Riese mit einer blonden, hübschen Frau. Das Leben trieb wirklich bunte Blüten. Ein schönes Motiv. Das musste sie sich merken. Ihr Blick wanderte wieder zu Tucker, der sie immer noch grimmig betrachtete.
„Sie machen wirklich nur Ärger“, knurrte er.
„Ich?“
Hannah glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Ihre Stimme klang krächzend und irgendwie fremd. Aber ihre Empörung war nicht zu überhören.
„Ich war wandern! Dass hier Wilderer herumlaufen, ist nicht meine Schuld!“
Sie fing an zu husten und stöhnte auf, als ihre Schulter sich wieder meldete. Na super, jetzt hatte sie sich auch noch eine Erkältung eingefangen.
„Bringt sie zu Hallie“, befahl Tucker. Hannah sah nur noch, wie der Welpe auf eine Frau zusprang, die ihn in die Arme schloss. Dann schwanden ihr die Sinne.
*
Tucker O’Brian sah ihr hinterher, bis sie in der Krankenstation verschwand. Dann wandte er sich Henry zu.
„Was hat sie gesehen?“
Henry sah zu Cathal und hob die Schultern.
„Wölfe.“
„Die Wunde von dem Welpen“, brummte Cathal. „Aber das schien sie nicht aufzuregen.“
„Diese Frau regt sich über nichts auf“, knurrte Tucker. „Aber ich bin mir sicher, dass sie mehr sieht, als sie zugibt.“
„Was willst du mit ihr anstellen?“, fragte Henry.
„Ich habe keine Ahnung“, gab O’Brian zu. „Aber sie ist verletzt und vielleicht gibt sie jetzt endlich auf und verschwindet von hier.“
Henry betrachtete ihn aufmerksam.
„Und wenn nicht?“
O’Brian hob genervt die Hände.
„Weiß der Geier. Sie ist gerade mal drei Wochen hier und hält mein ganzes Rudel auf Trab.“
„Na, das belebt doch den tristen Alltag“, grinste Henry. „Aber wenn ich das alles hier richtig verstanden habe, solltest du ihr dankbar sein. Immerhin hat sie zwei deiner Welpen beschützt.“
Tucker schnaufte unwillig und sah erneut zu dem Haus, in das Hannah getragen worden war.
„Da ist leider was dran. Wie sind diese Kerle überhaupt auf die Idee gekommen, hier jagen zu wollen?“
„Das ist eine gute Frage. Aber wir haben ihre Namen, da wird sich was rauskriegen lassen. Bis dahin solltest du deinen Kids sehr nahelegen, die Wälder zu meiden.“
„Keine Sorge“, knurrte O’Brian. „Denen werde ich dermaßen die Leviten lesen, dass sie sich das nächste halbe Jahr nicht mehr raus trauen.“
Henry grinste.
„Da wäre ich gern dabei. Soll ich dir Cathal oder Mort zur Verfügung stellen? Die beiden machen immer mächtig Eindruck.“
„Sehr lustig. Nein danke, dass krieg ich auch alleine hin.“
„Ich weiß, Tucker, das sollte tatsächlich ein Witz sein.“ Er nickte ihm zu. „Wir verschwinden jetzt. Sobald wir was Neues wissen, hörst du von uns.“
Er stiefelte zum Hubschrauber, wo Mort immer noch die Frau umschlungen hielt. Er klopfte ihr auf die Schulter.
„Hallo Sara, ich fürchte, ich muss dir deinen Ehemann wieder entreißen.“
Sie ließ Mort los und sah ihn lächelnd an.
„Hey Henry. Das macht nichts, ich hab eh nicht mit euch gerechnet. Stimmt es, dass ihr die Wilderer erwischt habt?“
Er nickte. Ein zufriedenes Leuchten ging durch ihre Augen. „Sehr gut. Dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr um die Kids machen.“
„Da wäre ich noch vorsichtig. Wir müssen erst noch rauskriegen, warum die hier aufmarschiert sind. Kennst du diese Hannah?“
Sara schüttelte den Kopf.
„Nein, sie war erst zweimal hier im Dorf und das nur kurz. Aber sie soll ganz nett sein. Geht es ihr gut?“
„Nein, es hat sie ziemlich erwischt. Tu mir einen Gefallen und krieg raus, wie sie tickt - und was sie weiß.“
Sara runzelte die Stirn.
„Ich soll sie aushorchen?“
„So in etwa.“
„Henry, ich ...“
„Pschsch.“ Er hielt ihr einen Finger auf die Lippen. „Keine Panik, ich habe nicht vor, ihr etwas anzutun. Sie ist eine taffe Frau und hat sich zwischen die Wilderer und den Welpen gestellt. Aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Das weißt du.“
Saras gute Laune war verschwunden, aber sie nickte.
„Gut, ich werde mit ihr reden.“
Sie wandte sich wieder an Mort und reckte sich hoch, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
„Mach‘s gut. Und melde dich!“
Damit flitzte sie wieder los. Die Männer wandten sich dem Hubschrauber zu und kletterten hinein. Henry setzte sich nach vorne zu Mia und klopfte ihr auf die Schulter.
„Flieg los. Wir haben noch zu tun.“