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Montag, 27. Mai 2002

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Stylianos-Stift, Stuttgart

Selina hockte konzentriert am Tisch und arbeitete sich durch den Stapel an Übungsaufgaben. Mathematik gehörte nicht unbedingt zu ihrem Lieblingsfach, doch zumindest hatte sie den Eindruck, dass man es mit Logik und Fleiß bewältigen konnte. Also war sie bereit, Zeit dafür zu investieren.

Inzwischen wusste sie, was sie als Erwachsene tun wollte. Die Begegnung mit dem Biologen hatte ihr gezeigt, wie sie ihre Wünsche und Sehnsüchte befriedigen konnten. Sie würde Biologin werden. Diese durften mit Spinnen arbeiten und das war, was sie wollte. Also benötigte sie ein Abitur. Zwar hatte man sie auf die Realschule geschickt, doch dies war kein echtes Hindernis. Mit Fleiß und Konzentration würde sie es schaffen, davon war sie überzeugt.

Die Tür wurde ungewohnt heftig aufgestoßen, und Lisa stürmte herein. Sie war inzwischen nicht mehr ganz so klein und schüchtern. Tatsächlich überragte sie Selina um einige Zentimeter.

„Selina“, rief sie atemlos. „Stell dir vor, hier ist auf einmal richtig was los.“

Selina sah unwillig hoch.

„Was?“, fragte sie kurz angebunden.

„Da sind so seltsame Frauen. Sie kamen auf einmal zur Tür rein und haben sich Frau Löw gegriffen. Erika hat ein paar Worte aufgeschnappt. Die suchen offensichtlich ein Mädchen zur Ausbildung und wollen jetzt alle von uns interviewen, ob eine von uns zu ihnen passt.“

Selina schüttelte unwillig den Kopf.

„Ich will keine Ausbildung. Ich werde Biologin.“

Lisa lächelte.

„Ich weiß, das sagst du schon seit ein paar Tagen. Aber ist doch egal. Vielleicht ist die Ausbildung ja spannend.“

Der Lautsprecher im Gang klang auf.

„Alle Kinder versammeln sich bitte sofort im Aufenthaltsraum. Es gibt keine Entschuldigung für ein Fernbleiben.“

Die Stimme von Heimleiterin Löw klang ungewohnt steif, doch das fiel offenbar nur Selina auf. Lisa klatschte freudig in die Hände.

„Es geht los“, strahlte sie. Selina betrachtete sie mit einem gewissen Mitleid. Sie wusste, wie sehr sich Lisa wünschte, dieses Haus zu verlassen.

„Ich wünsch dir Glück“, sagte sie leise.

Lisa lächelte dankbar zurück.

„Danke, Selina. Du bist meine allerbeste Freundin. Ich weiß, dass du das wirklich ehrlich meinst.“

Selina stand nur unwillig von ihren Aufgaben auf. Doch die Anordnung war leider unmissverständlich. Also folgte sie Lisa in den Aufenthaltsraum, wo sich bereits die meisten Kinder versammelt hatten. Aufgeregtes Getuschel klang durch den Raum.

Selina hielt wie immer den Kopf gesenkt und beobachtete ihre Umgebung aus den Augenwinkeln. Zwei fremde Frauen standen an den beiden Zugangstüren und betrachteten jedes Mädchen genau.

Selina schrumpfte innerlich. Diese Blicke gefielen ihr gar nicht. In ihr wurde es still. Wie schon so oft leerte sie ihr Inneres und suchte nach dem Gefühl des nicht Vorhandenseins.

Tatsächlich glitt der Blick der Frauen über sie hinweg und Selina trat unauffällig zur Seite in eine Nische. Hier war sie den direkten Blicken entzogen und konnte selbst beobachten.

Je länger sie die Frauen betrachtete, desto unheimlicher wirkten sie auf Selina. Sie hatten einen seltsam suchenden Blick. Keines der anderen Kinder schien dies zu bemerken, doch auch sie wichen den fremden Augen unbewusst aus.

Das erste Mädchen wurde aufgerufen. Unbehaglich registrierte Selina, dass es Janina war. Sie konnte nur hoffen, dass dieses Mädchen nichts preisgab, was sie in Schwierigkeiten bringen würde.

*

Amalie Ahrendt, Vollstreckerin der siebten Stufe, wartete gespannt auf das erste Mädchen. Sie warf einen Blick auf die Heimleiterin. Diese saß mit abwesendem Gesichtsausdruck auf einem Stuhl. Hinter ihr hatte sich eine Sucherin aufgebaut und hielt ihren Verstand unter Kontrolle. Die Heimleiterin würde sich später an nichts Reales mehr erinnern können, nur daran, dass man ihre Mädchen wegen einer Ausbildung befragt hatte.

Janina trat neugierig herein. Etwas verwundert sah sie zur Heimleiterin, die nicht bei der Sache zu sein schien. Das kam selten vor, so dass es sofort auffiel, doch schnell konzentrierte sie sich auf die großgewachsene Frau, die sich vor dem Tisch aufgebaut hatte, und sie mit einem intensiven Blick musterte.

„Hallo, Janina. Wie geht es dir?“

„Gut“, murmelte Janina.

„Hat es dir im Insektarium gefallen?“

„Nein, nicht besonders.“

„Warum?“

„Ich mag keine Insekten und so’n Zeug.“

Amalie Ahrendt seufzte innerlich. Ihre Sinne und ihre Magie verrieten ihr zuverlässig, dass dieses Kind nicht log. Janina war eindeutig nicht die Gesuchte. Doch möglicherweise konnte sie Hinweise geben.

Sie trat vor und legte eine Hand auf Janinas Stirn. Das Mädchen erwiderte mit weit geöffneten Augen ihren Blick und wirkte mit einem Mal so abwesend wie die Heimleiterin.

„Janina, was ist das Schlimmste, was dir hier passiert ist?“

Das Mädchen zögerte. Ein sicheres Zeichen, dass es nicht nur ein Ereignis gab.

„Seine Zunge und seine Hände. Und sein Ding. Es tat weh“, flüsterte Janina schließlich.

Das war nicht das, was Amalie erwartet hatte, doch es löste in ihr sofort kochenden Zorn aus.

Diese Worte konnte sie sehr wohl einordnen.

„Wer hat dir das angetan?“

„Arno“, kam die leise Antwort.

„Wo ist Arno jetzt?“

„Er ist tot.“

Diesmal lächelte das Mädchen abwesend. Amalie holte tief Luft und sah zur Heimleiterin.

„Wer war Arno?“

„Ein Erzieher.“

Mathilde Löw antwortete ohne jegliches Zeichen einer Gemütserregung.

„Wie ist er gestorben?“

„Der Arzt sagte, an einem Herzinfarkt.“

„Wusstest du von der Kinderschändung?“

„Nein.“

Die Vollstreckerin blickte wieder auf das Kind.

„Was war dein zweitschlimmstes Erlebnis?“

Dieses Mal zögerte sie nicht.

„Spinnen.“

Diesmal zuckten alle Hexen im Raum zusammen.

„Erzähl mir davon“, forderte Amalie, und Janina berichtete mit gleichmütiger Stimme von ihren nächtlichen Träumen vor ein paar Jahren.

„Weißt du, wer in diesem Haus Spinnen mag?“

„Nein, niemand. Niemand mag Spinnen.“

Amalie überlegte. Anscheinend war dieses Kind ahnungslos. Immer noch brodelte in ihr der Zorn über die Kinderschändung. Doch das musste warten. Sie hatte das drängende Gefühl sich beeilen zu müssen.

*

Als Janina den Saal wieder betrat, beobachtete Selina sie sehr genau. Ihre alte Feindin wirkte verwirrt und orientierungslos. Doch sie traute sich nicht aus ihrer Nische heraus, um Janina zu befragen. Die Augen der suchenden Frauen waren immer noch unentwegt im Einsatz. Aber sie musste wissen, was im Büro der Heimleiterin passierte!

Wie in Zeitlupe schob sie sich weiter in die Ecke, wo die Durchreiche zur Küche war. Die Klappe war zum Glück nur halbgeschlossen. Dadurch war die Öffnung zwar äußerst schmal, doch Selina kannte ihren Körper. Hochschieben war zu laut, also musste sie sich schlank machen.

Lautlos zog sie sich hoch und glitt durch den Spalt in die Küche. Dort sah sie sich wachsam um. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass draußen weitere Frauen standen. Also konnte sie das Gebäude nicht unbemerkt verlassen. Doch sie brauchte ein Versteck. Eines, das nicht so schnell gefunden werden konnte. Fünf Jahre in diesem Haus hatten ihr jeden Schlupfwinkel offenbart, und keiner würde wirklich genügen. Doch sie hatte keine Wahl.

Leise schlich sie in den Korridor und eilte zur hintersten Kellertreppe, die in den Vorratskeller führte. Wie der Wind flog sie über die Treppe hinunter. In die Schatten. In den tiefsten und dunkelsten Winkel, den das Haus zu bieten hatte.

Dort kauerte sie sich hinter einem Regal nieder und schloss die Augen. Es war vielleicht gefährlich und noch nie hatte sie ihre kleinen Freundinnen bewusst einer Gefahr ausgesetzt. Der Tod von einigen im Rachen dieses furchtbaren Mannes war nicht geplant gewesen und hatte sie für viele Tage trauern lassen. Jetzt noch spürte sie die Schuldgefühle in sich. Doch sie musste unbedingt wissen, ob sie in Gefahr war. Ihre Freundinnen würden das verstehen.

*

Amalie Ahrendt war frustriert.

Inzwischen hatte sie fast alle Mädchen befragt, und auch diese hatten ihr keine Hinweise geben können. Nur dass der Kinderschänder offensichtlich drei weitere Kinder gequält hatte.

Wieder betrat ein Mädchen das Zimmer. Es war schlank und ausgesprochen hübsch mit dunkelbraunen langen Locken.

„Wie heißt du?“

„Lisa.“

Amalie wiederholte ihre Fragen und war nicht froh zu hören, dass Lisa ebenfalls geschändet worden war. Doch als sie nachfragte, wie oft der Mann sich an der Kleinen vergriffen hatte, erfuhr sie, dass es nur einmal gewesen war.

„Warum hat er es nicht öfter getan?“

„Ich weiß nicht. Selina sagte, dass er es nie wieder tun wird. Und dann ist er gestorben.“

Amalie durchfuhr es eiskalt und sie warf einen Blick auf die Namensliste. Noch drei Mädchen standen dort zur Befragung. Eines davon war Selina Serra.

„Deine Freundin, Selina, mag sie Spinnen?“

„Ja, ich glaube schon.“

„Weißt du von Janinas Spinnenträumen?“

„Das waren keine Träume“, lächelte Lisa mit entrücktem Blick. „Selina sagt, sie waren da.“

Mehr brauchte Amalie Ahrendt nicht zu wissen.

„Du kannst gehen, Lisa.“

Kaum hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, da räusperte sich eine der Frauen.

„Vollstreckerin!“ Ihre Stimme klang angestrengt. „Etwas stimmt hier nicht. Irgendetwas ist in diesem Raum. Etwas Fremdes, und es scheint überall zu sein.“

Amalie Ahrendt schloss die Augen und nickte langsam.

Ja, sie spürte es jetzt auch. Man konnte es kaum wahrnehmen, aber es lag fein und federleicht in der Luft. Das war keine Hexenmagie. Jedenfalls keine, die sie kannte. Doch irgendetwas Magisches war am Werk.

„Zeig sie uns“, verlangte sie.

Die Sucherin hob die Augen und murmelte einige Worte, während ihre Arme einen großen Bogen beschrieben.

Urplötzlich wurde es heller im Raum und alle rissen erstaunt die Augen auf. Nur Heimleiterin Löw sah nicht, was die Frauen in Schrecken versetzte.

Silbern glänzende Fäden spannten sich über die Wände, die Decke und quer durch den Raum. Sie glitzerten und schwebten wie Seide. Unwirklich, zart und strahlend silbern.

„Heilige Mutter“, flüsterte Amalie und bekreuzigte sich unwillkürlich. „Es ist also wahr. Es gibt sie wirklich.“

„Was ist das?“ Ihre Assistentin klang leicht panisch. „So etwas habe ich noch nie gesehen!“

„Ich auch nicht“, antwortete die Vollstreckerin leise. „Kein Lebender hat dies erblickt. Das ist Spinnenmagie. Schwarze Magie. Wir müssen dieses Kind finden. Sofort! Sucht sie. Sie ist hier im Haus!“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da zerfiel das Gespinst in winzige Funken und verblasste.

„Eilt euch“, drängte Amalie und stürmte zur Tür. „Sie ist gewarnt.“

*

Selina keuchte und umschlang panisch ihre Knie. Noch nie hatte sie ihre eigenen Kräfte gesehen. Und zum ersten Mal hatte sie erfahren, dass es auch andere Menschen gab, die seltsame Kräfte besaßen. Die Worte dieser finster blickenden Frau hatten sich tief in sie eingebrannt.

Spinnenmagie. Schwarze Magie. Das klang böse.

War sie böse? Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Diese Frauen suchten sie, und sie sahen nicht freundlich aus.

Doch wo sollte sie hin?

Bebend kauerte sie sich hinter das große Regal, tief in eine dunkle Spalte gequetscht. Sie versuchte, zu verschwinden. Unsichtbar zu werden. Alle Gedanken und Gefühle aus sich zu verbannen. Nicht existent zu sein. Doch einen winzigen Funken Angst wurde sie nicht los. Er flackerte leise, tief in ihrem Innern, und verriet sie.

„Hallo Spinnenkind.“

Die Stimme ließ sie zusammenzucken, und sie versuchte, noch kleiner zu werden. Dann erst registrierte sie, dass ein Mann gesprochen hatte. Zaghaft hob sie den Blick und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen.

Eine dunkle Gestalt hockte vor ihr und ein blaues Augenpaar leuchtete seltsam schillernd auf sie hinunter.

„Es war nicht einfach, dich zu finden, und ich muss zugeben, dass ich beinahe zu spät gekommen wäre.“

„Wer, – wer bist du?“, flüsterte sie kaum hörbar.

Angst wallte wieder in ihr hoch. Die Männerstimme klang sanft, doch die Augen blickten kalt und wachsam.

„Hm, möglicherweise dein Retter. Aber das wirst du selbst entscheiden müssen.“

„Wie meinst du das?“

Immer noch wagte sie es nicht, lauter zu reden. Von ferne vernahm sie aufgeregte Stimmen, die stetig näher kamen.

„Nun, zurzeit hast du zwei Möglichkeiten. Die eine ist, hier sitzen zu bleiben und zu warten, bis die Hexenweiber dich gefunden haben. Das werden sie vermutlich in wenigen Minuten schaffen. Die Alternative wäre, mit mir zu gehen.“

In Selina schwirrte es. Hatte er wirklich Hexen gesagt?

„Was wollen die – Hexen von mir?“

Er lachte leise.

„Genau kann ich dir das natürlich nicht sagen. Aber so wie ich sie kenne, werden sie zunächst versuchen, alles über deine Magie herauszufinden. Dann werden sie dich vermutlich töten.“

In Selina breitete sich Kälte aus. War das Todesangst? Sie wusste es nicht, doch es fühlte sich furchtbar an.

„Warum?“, flüsterte sie.

„Weil sie dich fürchten.“ Sie hörte eine Spur Heiterkeit in seiner Stimme. „Sie fürchten deine Magie, Spinnenmädchen.“

„Warum nennst du mich so?“

Wieder lachte er.

„Weil du eines bist. Doch jetzt ist, glaube ich, wenig Zeit, um Fragen zu beantworten. Du musst dich entscheiden. Sobald die Hexen hier eintreten, werde ich gehen. Wir mögen uns nicht besonders und ich habe kein Interesse daran, mich mit ihnen zu streiten. Das ist nur lästig.“

Die Stimmen waren inzwischen laut, und einige Worte waren gut zu verstehen.

Er hielt ihr seine Hand hin.

„Wenn du mit mir gehen willst, dann gib mir deine Hand.“

Die Tür wurde aufgestoßen und Selina hielt unwillkürlich die Luft an.

„Sie ist hier.“

Eine Frauenstimme klang warnend auf.

„Licht!“

Amalie Ahrendts Stimme peitschte durch den Raum. Im selben Moment streckte Selina den Arm aus und griff nach dem Mann. Als der Raum in hellem Licht erstrahlte, spürte sie, wie sie vorwärts gerissen wurde und an einen harten Körper prallte. Zwei starke Arme umschlangen sie und alles wurde dunkel. Zornige Rufe klangen in ihren Ohren nach.

Dann war alles still.

*

Amalie Ahrendt stand wütend mitten im Kellerraum und ließ die Frauen jede Kiste umdrehen und jeden Spalt untersuchen.

Doch kein Mädchen war zu finden. Nur der Rest seiner silbrigen, klebrigen Magie hing noch in der Luft und verriet, wo es sich versteckt hatte. Doch wie war es entkommen?

Sie hatten nur einen dunklen Schatten gesehen, der für Sekundenbruchteile vor dem Versteck gestanden hatte. Dann war er schon verschwunden.

Auch hier spürte sie noch Magie nachklingen. Keine Spinnenmagie, doch der Hexenmagie sehr ähnlich. Ein weiterer Grund, sich Sorgen zu machen. Bisher war ihr nur reine Hexenmagie untergekommen und an diesem Tag gleich zwei fremde Magieformen.

Mit einem leisen Fluch wandte sie sich an Nadin Hofstetter.

„Ich weiß nicht, wie dieses Kind entkommen konnte, vielleicht hat ihm jemand geholfen. Wir müssen auf jeden Fall eine offizielle Warnung herausgeben. Das Mädchen hat bereits einmal getötet und ist gefährlich.“

„Immerhin hat es nicht den Falschen getroffen“, murmelte Nadin leise und erntete einen bösen Blick.

„Mir ist durchaus klar, dass dieser Erzieher den Tod verdient hat. Doch eine solche Entscheidung darf keinesfalls von einer Zwölfjährigen getroffen werden. Wer einmal tötet, tut es vermutlich wieder, und dann kann es die falsche Person treffen. Ich werde den oberen Zirkel benachrichtigen. Sie müssen wissen, dass Spinnenmagie existiert und keine Legende ist. Du kümmerst dich um die geschändeten Mädchen. Sorg dafür, dass sie der Heimleiterin von ihren Erlebnissen berichten. Das ist das Mindeste, was wir für sie tun können.“

Nadin Hofstetter nickte mit gesenktem Blick. Der Tadel ihrer Chefin war zwar berechtigt, doch trotzdem war es ein gutes Gefühl zu wissen, dass dieser pädophile Erzieher für seine Taten gestraft worden war.

Karpaten, Rumänien

Zitternd schmiegte sich Selina in die fremden Arme und presste die Augen zusammen.

Die amüsierte Stimme ließ sie zusammenzucken.

„Du kannst die Augen wieder öffnen, Spinnenmädchen. Die Hexen können dir nichts mehr antun.“

Vorsichtig hob sie den Kopf und sah sich um.

Der Ort, an dem sie sich befanden, wirkte seltsam fremd.

Sie standen in einem riesigen Raum, dessen Wände mindestens fünf Meter hoch waren und von großen Bücherregalen belegt wurden. Noch nie hatte sie so viele Bücher auf einmal gesehen. In dem Zimmer standen unzählige Tische, Stühle und Ablagen, die ebenfalls mit Büchern, Zeichnungen, Papier und Stiften bedeckt waren.

Dies war ein Zimmer in dem gelernt und gearbeitet wurde.

Selina gefiel es sofort.

Sie hob die Augen und sah in das Gesicht ihres Retters. Er hielt sie immer noch umschlungen und erwiderte ihren Blick mit einem spöttischen Lächeln.

„Es gefällt dir hier“, stellte er fest.

Sie nickte, ohne zu zögern.

„Ja. Du kannst auch hexen!“ Die Erkenntnis ließ sie schlucken. Immerhin schien er nicht zu diesen unheimlichen Frauen zu gehören. Aber jetzt, wo die Gefahr vor den Hexen zunächst gebannt schien, spürte sie deutlich, dass von diesem Mann vor ihr ebenso Gefahr ausging.

Er lachte leise und schob sie ein Stückchen von sich fort, bevor er antwortete.

„Stimmt.“

„Bist du ein Hexer?“

„Nein, Spinnenmädchen. Es gibt nur Hexenfrauen.“

„Und warum haben die Angst vor mir?“

„Weil du Teil der Spinnenmagie bist, Spinnenmädchen.“

„Aber was ist daran schlimm?“

Wieder lachte er leise.

„Ganz einfach. Spinnenmagie ist Todesmagie. Ich vermute mal, dass sie die tödlichste Form der Magie ist, die jemals auf diesem Planeten existiert hat.“

Selinas Augen wurden weit. Furcht erfasste sie. Also hatten die Hexen doch recht? Waren ihre Fähigkeiten schwarze Magie? Böse?

„Aber – du hast doch keine Angst“, wagte sie einzuwenden.

„Das habe ich nicht gesagt“, lächelte er. „Vielleicht reagiere ich nicht ganz so panisch, wie die Hexenweiber, aber auch ich habe großen Respekt vor deiner Magie. – Du hast bereits getötet.“

Sie zuckte schuldbewusst zusammen, nickte aber.

„Erzähl mir davon.“

Selina betrachtete ihren Retter genauer. Konnte sie ihm trauen? Er war schlank, hochgewachsen und hatte genauso schwarze, dichte Haare wie sie, nur dass diese ordentlich und kurzgeschnitten waren. Gekleidet war er in ein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans. Er sah gut aus, doch seine blauen Augen machten ihr Angst. Sie blickten kühl und ohne Freundlichkeit.

„Bist du ein Freund?“, fragte sie leise. Die Antwort gefiel ihr nicht.

„Nein, Spinnenmädchen. Das bin ich nicht. Aber ich bin auch nicht dein Feind. Noch nicht, jedenfalls. Das wird natürlich ein wenig davon abhängen, wie du dich entscheidest. Was für einen Weg du einschlagen wirst. Im Moment darfst du dich als meinen Gast betrachten. Doch ich muss dich warnen. Alles hat seinen Preis.“

„Ich – ich habe kein Geld.“

Besorgt kaute sie auf ihrer Lippe herum und überlegte, was sie ihrem unheimlichen Gastgeber anbieten konnte.

„Ich verlange kein Geld“, lächelte er. „Mein Preis ist höher. Doch darüber reden wir später. Jetzt erzählst du mir, wen und warum du getötet hast.“

Selina sah keinen anderen Ausweg, als ihm zu gehorchen. Flucht schien kaum möglich. Sie wusste nicht, wo sie war und daher auch nicht, wo sie hinkonnte. Und in seinen Augen las sie eine unausgesprochene Warnung. Er würde sie nicht gehen lassen, da war sie sich sicher.

Also fügte sie sich und erzählte mit stockender Stimme von Arno Stadtfeld. Er lauschte aufmerksam, ohne sie loszulassen, und stellte ab und zu ein paar Zwischenfragen. Schließlich blickte er nachdenklich auf sie hinunter.

„War es falsch, ihn zu töten?“

Ihre Frage schwang besorgt im Raum.

„Was sagt dir dein Gefühl?“

„Ich – bin mir nicht sicher. Er hat Lisa und den anderen Mädchen sehr wehgetan. Und er hätte nicht damit aufgehört. Das weiß ich, denn ich hab es in seinen Augen gesehen. Lisa war froh, als er tot war, aber ich ... Froh war ich nicht, doch auch nicht traurig. Ich habe nur um meine Freundinnen getrauert. – Bin ich jetzt böse?“

Er hob die Schultern.

„Jeder versteht unter böse etwas anderes. Ich für meinen Teil denke, dass die Welt ohne Arno Stadtfeld eine angenehmere ist. Andere sehen es vielleicht nicht so. Die Hexen sind immer parteiisch. Männer mögen sie per se nicht, und Männer, die kleine Mädchen schänden, stehen auf ihrer Hassskala ziemlich weit oben. Wärst du eine von ihnen, würden sie dich vermutlich für diese Tat feiern. Aber so bestätigst du natürlich nur ihre Furcht. Weißt du, warum sie auf dich aufmerksam wurden?“

Sie überlegte.

„Wegen dem Vorfall im Insektarium?“

Er nickte.

„Genau. Du hast einen unverzeihlichen Fehler begangen, Spinnenmädchen. Magie in aller Öffentlichkeit zu wirken, ruft sofort die Hexen auf den Plan. Jetzt wo sie wissen, dass es dich gibt, werden sie nach dir suchen. Und zwar so lange, bis sie dich gefunden haben. Sie haben da einen sehr langen Atem.“

„Und – und wenn ich es nie mehr tue?“

Leise Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Er lachte.

„Das wird dir nicht gelingen, kleine Spinne. Sag mir, wie viele von deinen Freundinnen befinden sich hier in diesem Raum?“

Selina zögerte erst, doch dann hob sie den Blick und wirkte konzentrierter. „Zweihundertsechsundsiebzig.“

Er hob die Hand und beschrieb mit ihr den Bogen, den sie auch bei der Hexe gesehen hatte. Sofort flirrte es silbern auf und mit offenem Mund staunte sie die silbernen Fäden an, die von ihr ausgingen und sich überall im Raum verteilten. Sie spürte, dass es ihre Verbindungen mit jeder einzelnen ihrer kleinen Freundinnen waren.

Der Mann wirkte genauso fasziniert wie sie.

„Wirklich kaum zu fassen“, murmelte er. „Ich hätte nicht gedacht, so etwas einmal zu sehen. Kannst du dir jetzt denken, was ich meine?“

Sie nickte. Jedes Mal, wenn sie Kontakt mit ihren Freundinnen aufnahm, würden solche Fäden entstehen. Doch ohne diese Verbindungen wäre sie allein. Einsam und unvollständig. Das würde sie niemals lange aushalten.

Langsam verblassten die silbernen Fäden, doch sie waren noch da. Nur seine Magie ließ nach, das spürte sie.

„Warum kannst du hexen, wenn du kein Hexer bist?“, fragte sie wieder. „Wer bist du? Und warum hast du mir geholfen?

Seine Hand strich wieder sanft über ihren Hals.

„Meine Magie ist - nun, sagen wir mal eine Anomalie. Eine genetische Verwirrung. Warum ich dir geholfen habe? Ich bin eine sehr neugierige Person, und Spinnenmagie fand ich schon immer faszinierend. Ich muss zugeben, dass die Motivation der Hexen meiner nicht ganz unähnlich ist. Die Gelegenheit, etwas über Spinnenmagie zu erfahren, ist einfach verlockend. Und da du deine Magie noch nicht richtig beherrschst, denke ich, dass ich das Risiko eingehen kann, mich mit dir zu beschäftigen.“

Wieder stieg Furcht in ihr hoch. Was hatte er mit ihr vor? Er grinste spöttisch, als er die Angst in ihren Augen las.

„Keine Sorge, Spinnenmädchen. Ich habe nicht vor, dich zu töten, und ich werde dir auch nicht wehtun. Zumindest, wenn es sich vermeiden lässt. Aber das bringt mich wieder zu dem Punkt meines Preises.“

Ehe sie sich‘s versah, hob er sie hoch und setzte sie auf den nächstbesten Tisch, so dass sie in etwa auf gleicher Höhe mit ihm war.

„Du weißt vermutlich nicht, was ich bin.“

„Nein.“

„Hm, das ist einerseits gut und so sollte es auch sein, andererseits fürchte ich, dass ich dir jetzt eine unangenehme Wahrheit offenbaren muss.“

Beinahe atemlos wartete sie darauf, dass er fortfuhr.

„Tatsächlich gibt es auf dieser Welt nicht nur Hexen, sondern auch das eine oder andere Monster. Eines davon bin zufällig ich.“

Selina schluckte.

„Du – du siehst aber nicht wie eines aus“, wagte sie anzumerken, woraufhin er zu lachen anfing.

„Nein, zurzeit nicht, und ich werde vermeiden, dir mein Monsteraussehen zu zeigen. Ich erschrecke ungern kleine Mädchen. Aber wie du vielleicht weißt, kommt es nicht immer auf das Äußere an. Die inneren Werte zählen auch. Und in meinem Fall hängt es ein Stück weit auch von meiner Ernährungsweise ab. Und nun wird es interessant für dich, Spinnenmädchen. Ich habe dich vor den Hexen bewahrt und dafür fordere ich dein Blut.“

Selina erstarrte vor Schreck. Als sie sich wieder fasste und zurückweichen wollte, stellte sie fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Glieder waren wie gelähmt und sie hing in seinem Blick fest, wie in einer Fliegenfalle.

„Wehr dich nicht, kleine Spinne“, lächelte er. „Ich werde vorsichtig sein. Ein bisschen wird es wehtun, doch nur am Anfang. Wenn du willst, kann ich dich dazu bringen, dass es dir gefällt. Möchtest du das?“

Das Mädchen spürte, wie die Panik in ihm anstieg. So musste sich eine Fliege in einem Spinnennetz fühlen, schoss es ihr durch den Kopf. Hilflos und voller Erwartung auf kommende Schrecken.

„Nein“, flüsterte sie. „Ich will nichts Falsches in mir.“

„Tapfere kleine Spinne“, lächelte er und beugte sich vor. Ein angstvolles Keuchen und ein leiser Schmerzlaut entglitten ihr, als seine Zähne durch ihr Fleisch stießen und sich in ihrem Hals verankerten. Seine Hände zogen sie eng an seinen Körper und umfassten sie fest, doch ohne ihr weh zu tun.

Tatsächlich ließ der Schmerz bald nach und ihre Angst verebbte etwas. Ein seltsames Gefühl entstand in ihr. Da war Furcht, gepaart mit Faszination, und doch fühlte sie sich sicher in diesen unerbittlichen Armen. Er hatte gesagt, dass er sie nicht töten wollte, und sie glaubte ihm.

Er trank nicht lange. Nach wenigen Schlucken schob er sie wieder von sich und betrachtete sie aufmerksam.

„Kompliment“, meinte er schließlich. „Du hältst dich tapfer. Ich nehme an, du weißt jetzt, was ich bin.“

„Ein Vampir“, kam die spontane Antwort. In ihr tobten widersprüchliche Gefühle. Angst, Unglaube und Faszination ließen sie erneut zittern. Aber wenn es Hexen gab und Spinnenmagie, warum nicht auch Vampire?

„So ist es. Zumindest kommt es dem landläufig bekannten Vampir sehr nahe.“

„Werde ich jetzt auch einer?“

Er grinste leicht. „Würde dir das gefallen?“

„Nein!“

Das kam sehr bestimmt und ließ sein Grinsen breiter werden.

„Ich kann dich beruhigen. Du bist ein Spinnenmädchen und ich bin ein Vampir. Und so wird es auch bleiben. Doch jetzt komm. Ich zeige dir, wo du etwas zu essen und zu trinken findest. Später reden wir darüber, wie es mit dir weiter geht.“

Er führte sie durch den Raum zu einer normal hohen Tür. Neugierig folgte sie ihm. Die Angst schob sie bewusst in den Hintergrund. Sein Biss hatte zwar wehgetan, doch ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Als sie vorsichtig an ihren Hals langte, stellte sie fest, dass die beiden Bissmale bereits verschorften.

Es war ein seltsamer Ort, an den er sie gebracht hatte. Es gab keine Fenster, nur warmes Licht aus den unterschiedlichsten Lampen und Gegenständen erhellte die Zimmer und Korridore, die sie durchschritten. Auch einige Kerzen erspähte sie, doch diese waren nicht angezündet.

Schließlich landeten sie in einer großen Küche. Diese war modern eingerichtet, mit Herd, Backofen und Kühlschrank. Sogar eine Spülmaschine war vorhanden.

Staunend sah sie sich um.

„Wozu kochen Vampire?“, fragte sie.

Wieder lachte er.

„Das tue ich nicht. Aber manchmal habe ich Gäste und diese teilen in den seltensten Fällen meine Vorlieben. Ich hoffe, du findest hier alles, was du brauchst. Lass dir Zeit. Wenn du fertig bist, komm wieder in die Bibliothek!“

Damit ließ er sie allein.

Selina stand mitten in der Küche und fragte sich ernsthaft, ob sie das Ganze nicht doch träumte. Doch dann setzte sie sich in Bewegung. Sie hatte tatsächlich Hunger – und noch viel mehr Durst. Besser sie stillte ihre Begierden jetzt. Die nächste Gelegenheit konnte lange auf sich warten lassen.

Eine Stunde später stand sie wieder in dem großen Büchersaal.

Der Vampir erwartete sie bereits.

Entschlossen stellte sie sich vor ihn hin.

„Ich heiße Selina. Selina Serra“, verkündete sie.

Er nickte amüsiert.

„Ja, ich weiß.“

„Warum nennst du mich dann immer Spinnenmädchen?“

„Namen sind Schall und Rauch. Spinnenmädchen trifft dein Wesen eher.“

„Soll ich dich dann Vampir nennen?“

Er lachte leise auf.

„Nenn mich, wie du willst. Ich hatte schon viele Namen und einer ist so gut wie der andere. Doch ich vermute mal, dass es dir angenehmer ist, wenn du einen Namen genannt bekommst.“

Sie nickte.

„Nun gut. Du kannst mich Roman nennen, oder Robert. Ganz wie du willst.“

„Roman klingt besser“, entschied sie.

„Finde ich tatsächlich auch. Und der Vollständigkeit halber: das ist der Name, den ich hier in Europa nutze. Roman Rothenstein. – Nun, Spinnenkind, den Hexen bist du vorerst entkommen. Doch wie stellst du dir deine Zukunft vor?“

„Ich will Biologin werden!“

Für einen Moment schien er irritiert, doch dann nickte er.

„Das liegt vermutlich nahe. Lass mich raten, Spinnen werden deine Favoriten sein.“

„Ich will alles über sie wissen!“

„Du meinst ihre Biologie, ihr Verhalten.“ Diesmal hörte sie seinen Spott heraus. „Kleines Mädchen, ich verrate dir ein offenes Geheimnis. Vermutlich gibt es kaum jemanden auf diesem Planeten, der mehr über diese Tiere weiß als du.“

Selina runzelte ärgerlich die Stirn.

„Das stimmt nicht. Ich kenne noch lange nicht alle Arten, wo ich sie finden kann und wie sie leben.“

„Hm, du willst also studieren. Dazu benötigst du Basiswissen. Bist du bereit zu lernen? Viel zu lernen?“

Sie nickte heftig.

„Dann lass mich dir folgendes erklären: Du hast im Prinzip zwei Möglichkeiten. Ich kann dich zu einem Ort deiner Wahl bringen. Dort kannst du dann selbst entscheiden, was du tun willst – ohne mich. Du kannst aber auch für einige Zeit hierbleiben. Diese Möglichkeit ist allerdings an Bedingungen geknüpft, die dir nicht alle gefallen werden.“

Selina begann unbewusst an ihrer Unterlippe zu kauen. Sie hatte schlichtweg keine Ahnung, an welchen Ort sie sich bringen lassen sollte. Sie kannte niemanden.

Ihre Mutter hatte ihr nie von einem Verwandten erzählt, und ihren Vater kannte sie nicht. Sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte.

Ihr war klar, dass sie kaum eine Möglichkeit hatte, offiziell zur Schule zu gehen. Sie wurde jetzt von diesen Hexen gesucht, und sobald sie wieder ein normales Leben aufnahm, würden die Hexen das mitbekommen. Straßenkinder gingen nicht zur Schule, und das würde ihr nicht gefallen. Doch die Vorstellung, bei einem Vampir zu bleiben, war genauso beängstigend, wie von den Hexen gefunden zu werden. Andererseits hatte er sie bisher fair behandelt und nicht belogen, soweit sie es beurteilen konnte.

„Was sind das für Bedingungen?“, fragte sie zögernd.

„Nun, zum einen wirst du diese Wohnung nicht ohne meine Erlaubnis verlassen. Du wirst mir aufs Wort gehorchen und mir zur Verfügung stehen, wann immer ich es wünsche. Doch das Wichtigste ist, dass du lernen wirst. Und zwar nicht nur über Spinnen.“

Er zeigte auf die Bücherwände.

„Ich kann nicht erwarten, dass du jedes Buch hier studierst, dafür ist deine Lebensspanne viel zu kurz. Doch es werden eine Menge sein, die du verinnerlichen wirst. Biologie über Spinnen steht da an letzter Stelle. Zudem erwarte ich, dass du an deiner Magie arbeitest. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich eine sehr eigennützige Person bin. Die Gelegenheit, mehr über Spinnenmagie zu erfahren, werde ich mir nicht entgehen lassen.“

Er beugte sich vor und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen.

„Spinnenmädchen. Ich will dir nicht verschweigen, dass ich einen kurzen Moment versucht war, dir deine Geheimnisse zu entreißen und dich dann zu töten. Doch du gefällst mir. Du suchst nach Wahrheiten und akzeptierst deren Konsequenzen. Das ist nicht vielen Lebewesen gegeben. Wenn du bei mir bleibst, wirst du vieles lernen. Mehr als du es in jeder Schule könntest. Doch es wird dich viel Schmerz, Blut und Tränen kosten. Ich bin ein unbarmherziger Lehrmeister, und du wirst mich nie wieder loswerden. Also überlege dir deine Entscheidung gut. Du wirst sie nicht rückgängig machen können.“

Das war heftig. Doch hatte sie wirklich eine Wahl?

„Wenn ich, – wenn ich zurückkehre und freiwillig zu den Hexen gehe, werden diese mich dann am Leben lassen? Ich will ihnen doch gar nichts tun, vielleicht kann ich ihnen das ja erklären.“

Er schien wieder amüsiert zu sein.

„Du erwartest, dass ich weiß, wie Hexen denken? Da bin ich ein schlechter Ratgeber, denn ich kann diese Frauen wirklich nicht leiden. Sie mischen sich in alles ein und wissen immer alles besser. Mein Rat wäre: Meide die Hexen. Selbst wenn du bereit wärst, dich ihnen anzuschließen, hätten sie immer Angst vor dir, und das ist nie eine gute Basis für Freundschaft. Sie werden dich mit ziemlicher Sicherheit irgendwann töten. - Oder es zumindest versuchen.“

Das hörte sich nicht gut an. Aber er war noch nicht fertig.

„Wenn du es willst, bringe ich dich zu ihnen. Doch erwarte nicht, dass ich dich noch einmal vor ihnen schütze. Im Gegenteil. Wählst du die Hexen, sind wir Gegner. Unser nächstes Treffen wird dann mit Sicherheit nicht so einvernehmlich sein wie jetzt.“

Selina holte tief Luft. Sie fühlte sich ratlos und hilflos zugleich. Woher sollte sie wissen, was die bessere Wahl war? Hexen oder Vampir? Beides war nicht das, was sie sich in ihrem Leben vorgestellt hatte. Doch bisher hatte sie ja auch nicht gewusst, dass diese Wesen existierten. Sie selbst hatte sich nie als Hexe gesehen. Tatsächlich dachte sie selten über ihre Fähigkeiten nach. Sie waren immer da gewesen. Zwar hatte sie instinktiv gewusst, dass sie besser nicht darüber redete, doch sie hatte auch nie den Drang danach verspürt. Menschen mochten keine Spinnen, sie fürchteten sie oder ekelten sich vor ihnen. Und wenn sie es recht verstanden hatte, ging es Hexen wie Vampiren genauso. Wer war gefährlicher als Gegner?

„Wie viele Hexen gibt es denn? Und wie viele Vampire?“

Jetzt brach er in schallendes Gelächter aus.

„Selina Serra. Spinnenmädchen und Taktikerin. Zählst du bereits deine Gegner?“

Noch immer hielt er ihr Gesicht umfasst.

„Es gibt weitaus mehr Hexen als Vampire. Genaue Zahlen kann ich dir nicht nennen. Wen du mehr fürchten solltest? Mich!“

„Dann ... dann habe ich keine echte Wahl, oder?“

Ihre Stimme schwankte etwas.

Er küsste sanft ihre bebenden Lippen.

„Du bist ein kluges Kind. Nein, du hast keine echte Wahl. Nur mich.“

„Aber – ich will nicht den Rest meines Lebens eingesperrt sein.“

Sie drängte die Tränen zurück, die in ihr hochstiegen. So viel Schwäche wollte sie niemandem zeigen. Seine Lippen wanderten an ihren Hals und verharrten dort.

„Das wirst du nicht, das kann ich dir versprechen. Wenn du genug gelernt hast, werde ich dich gehen lassen. Die Welt wird viel interessanter sein, wenn du deine eigenen Schritte darin machst. Ich freue mich bereits jetzt auf die Gesichter der Hexen, wenn sie feststellen, dass eine Spinnenmagierin ihre Wege kreuzt. Und zwar eine, die sich wehren kann. – Was sagst du, Selina Serra, Spinnenmädchen? Wie entscheidest du dich? Für oder gegen mich?“

Selina durchlief ein Zittern. Trotz ihrer zwölf Jahre verstand sie genau, um was es ging.

Um nicht mehr oder weniger als ihr Leben.

„Für dich“, flüsterte sie und schrie im gleichen Moment auf, als er seine Zähne wieder in sie stieß. Diesmal blieb er länger an ihr dran und sein Griff war anders. Besitzergreifend und fordernd.

Zitternd schmiegte sie sich an ihn und schloss die Augen. Sie wusste nicht wirklich, auf was sie sich da eingelassen hatte, doch er hatte seine Bedingungen klar formuliert. Also würde sie ihm gehorchen und ihm alles geben, was er forderte.

Wie hieß es in einem der Märchen, die ihre Mutter ihr früher vorgelesen hatte? Dem Teufel seine Seele verkaufen. In ihrem Fall war es wohl eher: Dem Vampir ihr Leben anvertrauen.

Seelenfresserin

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