Читать книгу Seelenfresserin - Ana Marna - Страница 15
Montag, 11. Juli bis 16. Juli 2011
ОглавлениеLittle Rock, Arkansas
Eine Woche später hockte Marie-Sophie tatsächlich in dem riesigen Lesesaal der Universitätsbibliothek und war fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Größe, allein die schiere Menge an Büchern, war erschlagend. Doch gegenüber der Bibliothek in ihrem Hexen-Haus herrschte eine Lautstärke, die sie als störend empfand. Zudem gingen so viele Leute ein und aus, dass sie ständig abgelenkt wurde.
Aber sie war zuversichtlich, sich daran zu gewöhnen. Ohne Zeit zu verlieren, begann sie sofort mit ihrer Suche. Sie war die Erste, die kam und die Letzte, die ging.
In einem weiter entfernt liegenden Hotel hatte sie Unterschlupf gefunden. Es war klein, ungepflegt und roch ein wenig unangenehm. Dafür war es billig. Schlafen wollte sie hier sowieso nicht. Die Nachtstunden nutzte sie, um ihre Funde zu sortieren und zu durchdenken.
Den zweiten Tag begann sie genauso, doch gegen Mittag geschah etwas, das ihre ganze Planung durcheinanderbrachte.
Sie bemerkte kaum, dass sich jemand ihr gegenüber setzte. Als sie dann doch den Kopf hob, blickte sie in hübsche blaue Augen, die unter einem zotteligen braunen Haarschopf hervorblitzten.
„Hallo.“
Seine Stimme war angenehm und freundlich.
Marie-Sophie hielt unwillkürlich die Luft an. Noch nie war sie von einem männlichen Geschöpf angesprochen worden. In den Hexenhäusern lebten keine Männer, und Knaben wurden schon früh zu ihren Familien geschickt. Nur wer das Haus verließ, traf auf Menschenmänner, doch gewöhnlich hielt man sich von ihnen fern. Das wurde so erwartet.
Der junge Mann vor ihr lächelte verschmitzt.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht verschrecken. Ich habe dich schon gestern beobachtet. Machst du eigentlich nie eine Pause?“
Marie-Sophie errötete sofort.
„Also – nein, ich hab nicht viel Zeit und möchte so viel wie möglich schaffen“, erklärte sie etwas lahm. Er nickte.
„Das kann ich verstehen. Aber irgendetwas essen musst du doch sicherlich. Gleich ist es Mittag. Wir könnten zusammen in die Mensa gehen.“
Marie-Sophie schluckte. Mit so etwas hatte sie nun gar nicht gerechnet. Wie sollte sie sich verhalten? Engerer Kontakt mit Menschen war ihr verboten, doch zählte gemeinsam essen gehen dazu? Andererseits war sie offensichtlich schon dadurch aufgefallen, dass sie nicht essen ging. Und oberste Devise war immer, sich anzupassen.
„Ähm, na ja, warum nicht“, murmelte sie und erwiderte zaghaft das Lächeln. Er zwinkerte ihr zu.
„Prima. Wie wäre es in einer halben Stunde?“
Sie nickte und zwang sich, wieder auf das Tablett zu sehen. Diese blauen Augen waren seltsam anziehend, genauso wie das freundliche Lächeln.
Eine Stunde später saß sie in der Universitätsmensa und erfuhr, dass ihr neuer Bekannter Joshua hieß. Er war Medizinstudent und begeisterter Fahrradfahrer.
Marie-Sophie brauchte nicht lange, um ihn zu mögen. Joshua war gutaussehend, witzig und eindeutig an ihr interessiert. Außerdem schien er intelligent und sehr wissbegierig zu sein.
Eigenschaften, die ihr gefielen. Ehe sie sich‘s versah, hatte er sie auch für den Abend eingeladen. Zunächst war sie verzweifelt. Wie sollte sie diesen jungen Mann auf Abstand halten, ohne ihn zu verärgern?
Und überhaupt, wie verhielt man sich Männern gegenüber?
Joshua Woods schien damit überhaupt keine Probleme zu haben. Er übersah ihre Verlegenheit und lockte sie mit Witz und Charme aus der Reserve.
Marie-Sophie Levine hatte keine Chance.
Innerhalb kürzester Zeit war sie bis über beide Ohren in den jungen Mann verliebt. Was das für Konsequenzen haben konnte, verdrängte sie. Sein erster Kuss ließ sie entflammen und seine Hände und sein sehr zielgerichteter Körpereinsatz versetzten sie in einen Zustand der Glückseligkeit. Niemals hätte sie gedacht, dass ein Mann solche Gefühle in ihr wachrufen konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstieß sie gegen eine Regel des Hexenzirkels – und fühlte sich glücklich dabei.
Die Ernüchterung trat ein, als die Woche sich dem Ende zuneigte. Wenn sie nach Hause zurückkehrte, würde sie ihre erste große Liebe nie wieder sehen. Das war ihr klar.
Doch was wäre die Alternative? Bleiben und sich damit dem Zorn des Zirkels aussetzen?
Sie wusste, dass es Hexen nur im Zuge der Fortpflanzung erlaubt war, mit Männern zu verkehren. Echte Liebesbeziehungen waren verpönt. Ab und zu kam es vor, doch das Leben solcher Beziehungen gestaltete sich reglementiert und unfrei. Die Hexe verlor sämtliche Ämter, und ihr Mann wurde ständig überwacht und regelmäßig einer Wahrheitsfindung unterzogen. Und auch die Kinder einer solchen Ehe wurden streng überwacht.
Die Hexen überließen nichts dem Zufall. Ihre Existenz durfte nicht enthüllt werden. Die Hexenverfolgungen im Mittelalter hatten gezeigt, dass nichts wichtiger war, als unerkannt zu bleiben. Und dafür war dem Hexenvolk jedes Mittel recht.
Marie-Sophie hatte sich nie viele Gedanken darüber gemacht. Männer und erst recht Sex mit Männern waren immer weit weg gewesen. Doch jetzt schoben sich diese Regeln in den Vordergrund und verursachten in ihr ein beklemmendes Gefühl. Die Vorstellung, dass ihr süßer Joshua so behandelt wurde, gefiel ihr überhaupt nicht. Aber ihn nie wiederzusehen war genauso furchtbar.
Sie saß am letzten Tag ihres Urlaubs in der Bibliothek. Es war Nachmittag und trotz aller Bemühungen gelang es ihr kaum, sich auf die Arbeit konzentrieren.
Joshua hatte sie für abends auf eine Studentenfete eingeladen. Für sie war das der Anlass, sich zu entscheiden. Wenn sie mit ihm dort hinging, würde sie am nächsten Morgen nicht rechtzeitig im Hexen-Haus erscheinen, und das hätte mit Sicherheit Konsequenzen. Doch wenn sie nicht hinging und stattdessen wie ursprünglich geplant abreiste, würde sie ihn nie mehr wiedersehen.
In ihr wuchsen Verzweiflung und Pein. Wofür sollte, wofür musste sie sich entscheiden?
Dieses Mal entging ihr nicht, dass sich ihr jemand gegenüber setzte.
Hexe!
Erschrocken hob sie den Kopf. Vor ihr saß eine dunkelhaarige Frau und musterte sie mit durchdringendem Blick. Ihre magische Ausstrahlung war so präsent, dass Marie-Sophie am liebsten aufgesprungen und geflüchtet wäre. Doch der Blick hielt sie auf ihrem Sitzplatz.
Sucherin, schoss es ihr durch den Kopf. Sie ist eine Sucherin.
„Hallo Marie-Sophie.“ Die Stimme der Sucherin war ruhig, aber ohne Freundlichkeit.
„Sei gegrüßt, Sucherin“, flüsterte sie leise. Diese beugte sich leicht vor.
„Du weißt, warum ich hier sitze!“
Das war keine Frage, sondern eher eine Anklage. Marie-Sophie schluckte und wurde bleich. Da die Sucherin offensichtlich eine Antwort erwartete, nickte sie und überlegte, wie sie sich aus dieser unangenehmen Lage herauswinden und gleichzeitig Joshua schützen konnte.
Aber die Hexe gab ihr keinerlei Chance.
„Du wirst dich hier und jetzt entscheiden. Für oder gegen diesen Mann. Die Konsequenzen kennst du!“
Marie-Sophie starrte mit großen verzweifelten Augen auf ihr Gegenüber.
„Ich ... ich will nicht, dass ihm etwas passiert“, flüsterte sie.
„Das liegt nicht in deiner Hand!“
Die Stimme klang unbarmherzig und kalt.
„Bitte, er weiß nichts! Gar nichts!“
Leise Panik schlich sich in ihr Herz.
„Es liegt nicht in deiner Hand“, wiederholte die Hexe. Doch dann lächelte sie überraschend.
„Marie-Sophie. Ich weiß, was du denkst und empfindest, und ich verrate dir ein offenes Geheimnis. Du bist nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein, die der Versuchung erliegt. Entscheidend ist, dass du deine Verfehlung erkennst und in den Schoß deiner Familie zurückkehrst. Niemand wird dich deswegen tadeln. Nicht beim ersten Mal.“
Marie-Sophie fühlte sich überhaupt nicht beruhigt. Ihre Angst und ihre Sorge um Joshua stieg noch mehr.
„Bitte tu ihm nichts“, flüsterte sie.
„Fahr nach Hause, Marie-Sophie. Fahr nach Hause und vergiss ihn. Er ist es nicht wert, dass du dein Leben für ihn wegwirfst.“
Und genau das bezweifelte Marie-Sophie. Ihr war durchaus klar, dass ihre erste Verliebtheit ein Resultat ihrer Hormone und ihrer Empathie war. Doch genauso klar war auch, dass Joshua ein liebenswerter junger Mann war, dessen einziges Vergehen war, sich in sie verliebt zu haben.
„Bitte“, flehte sie leise. „Bitte. Ich werde heimkehren, doch bitte tu Joshua nichts an. Er weiß nicht, wer und was ich bin. Und er weiß auch nicht, wo ich herkomme. Er ist keine Gefahr für uns! Bitte!“
Flehend sah sie der Sucherin in die Augen.
„Ich werde ihm nichts tun“, erwiderte diese völlig ruhig. „Aber du wirst ihn nicht mehr sprechen.“
„Das werde ich nicht“, versprach Marie-Sophie erleichtert.
„Gut. Ich vertraue dir. Aber du solltest wissen, dass ich dich trotzdem nicht aus den Augen lassen werde. Solltest du dich nicht an unsere Abmachung halten, nehme ich das sehr persönlich.“
Marie-Sophie blickte in die kühlen Augen und schluckte.
„Ich – ich werde dich nicht enttäuschen“, versprach sie und versuchte, die Kälte in ihrem Innern zu verdrängen. Sie hatte die Drohung, die aus der Sucherin geklungen hatte, durchaus verstanden, und die Angst um Joshua flammte wieder hoch. Nur mühsam schaffte sie es, ihre Sorge zu verstecken.
Die Sucherin stand auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Marie-Sophie saß wie erstarrt. Nur ihre Gedanken jagten hin und her. Sie war nicht dumm. Und sie war selbst eine Hexe. Zwar fehlte ihr die Kaltblütigkeit und Kompromisslosigkeit der Sucherin, doch sie wusste natürlich, nach welchen Regeln sie lebten und dachten.
Die Sucherin hatte zwar versprochen, Joshua nichts anzutun, doch das schloss nicht aus, dass dies andere tun würden.
Aber wie sollte sie so etwas verhindern?
Wie konnte sie ihn schützen, wenn sie unter ständiger Überwachung stand?
An weitere Recherche war nicht mehr zu denken. Sie starrte blicklos auf das Tablet und versuchte, Ordnung in ihr gedankliches Chaos zu bringen. Doch nichts Brauchbares fiel ihr ein. Keine hilfreiche Idee, nicht ein Funken Hoffnung glomm in ihr auf.
Schließlich erhob sie sich und packte ihre Sachen zusammen. Während sie zu dem Bus schritt, der sie zum Hotel bringen würde, sah sie sich verstohlen um, doch die Sucherin war nirgendwo zu entdecken. Aber das hatte sie auch nicht angenommen. Sucherinnen fand man nicht so leicht. Das Gegenteil war der Fall. Diese Hexen fanden andere.
Die folgenden Stunden waren ein einziger Alptraum. Mechanisch erledigte sie alles Nötige für ihre Abreise, fuhr mit dem Bus zum Bahnhof und von dort aus weiter, bis sie spät in der Nacht beim Hexen-Haus ankam. Nach außen hin wirkte sie ruhig und gefasst, doch innerlich war sie zerrissen von Leid und Angst.
Nichts war klar. Nichts war sicher.
Erst recht nicht das Leben von Joshua Woods.