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Dienstag, 15. Juni 1999

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Stylianos-Stift, Stuttgart

Selina beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Tischnachbarn. Vierundzwanzig Kinder, so wie vier Erwachsene hockten an zwei langen Tischen und hielten die Hände zum Tischgebet gefaltet.

Selinas Gedanken waren nicht bei der Sache. Gebete hatten ihr noch nie gefallen. Sie erinnerte sich an die Versuche ihrer Mutter, sie abends zu einem Gutenacht-Gebet zu bringen, doch irgendwann hatte sie aufgegeben. Ihre Tochter verweigerte sich, indem sie einfach die Lippen zusammenpresste und die Hände offen auf die Bettdecke legte.

Hier im Heim würde sie das natürlich nicht tun. Nicht auffallen war wichtig, das hatte sie in den letzten zwei Jahren gelernt. Also faltete sie die Hände und hielt still. Ihr entgingen nie die anderen Augenpaare, die desinteressiert über den Tisch blickten. Gebete waren nicht nur ihr ein Gräuel. Doch sie vermied es, Blickkontakte herzustellen.

Es gab nur eine Person, der sie erlaubte in ihre Nähe zu kommen, und das war Lisa, ihre Zimmergenossin. Alle anderen waren unwichtig. Ein Jahr hatte es gedauert, bis die anderen Kinder dies begriffen hatten.

Selina Serra war keine Freundin. Sie war auch keine Feindin, solange man sie in Ruhe ließ. Sie verpfiff niemanden und hetzte niemanden auf. Sie ergriff keine Partei und hielt sich aus allem heraus. Manchmal schien es, als sei sie nicht existent. Nur wenn es um Lisa ging, stand sie da. Wachsam und präsent. Selbst Janina hatte gelernt, sich ihr gegenüber zurückzuhalten.

Die Erwachsenen waren noch einfacher zu händeln. Selina widersprach nicht. Sie redete überhaupt sehr wenig und wenn, dann nur leise und unaufgeregt. Nichts schien sie aus der Ruhe zu bringen und sie hielt sich immer am Rand der Wahrnehmung.

Die einzige Unruhe, die durch sie entstand, war vor etwa einem Jahr passiert. Ein Ehepaar wollte ein Mädchen adoptieren, und Selina war in die nähere Auswahl gekommen.

Stumm und mit gesenktem Kopf hatte sie vor dem großen Gesprächstisch im Büro der Heimleiterin gestanden. Das Ehepaar Danzig hatte ebenfalls dort gesessen und sie freundlich angelächelt. Sie erzählten ihr von ihrem großen Haus, dem schönen Garten, und dass sie viele Reisen unternahmen.

Selina lauschte schweigend und betrachtete die fahrigen Hände der Frau. Sie waren langgliedrig und gepflegt, doch sie wirkten unruhig. Beinahe hektisch.

Plötzlich schrie die Frau erschrocken auf und ihre Hände zuckten panisch zurück. Eine große Spinne lief quer über den Tisch, schnell und lautlos. Die Heimleiterin sprang erschrocken auf und der Mann griff nach einer Zeitschrift, die in der Mitte des Tisches lag.

Selina beobachtete Frau Danzig, wie sie mit ängstlichem und angewidertem Gesicht zurückwich. Als die Zeitschrift auf den Tisch knallte, hatte die Spinne bereits den Kurs gewechselt und fiel auf Selinas Seite über die Tischkante. Die Heimleiterin kam herumgelaufen und sah suchend auf den Boden. Doch das Tier war nicht mehr zu sehen.

„Wo ist sie hin?“

„Weg“, kam die ruhige Antwort von Selina, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

Ruhe kehrte wieder ein. Nach einigem hin und her kam dann die Frage von Frau Danzig, auf die Selina ungeduldig gewartet hatte.

„Und Selina? Könntest du dir vorstellen, es mit uns zu versuchen?“

„Nein!“

Die Antwort kam ruhig und entschieden. Das Ehepaar Danzig starrte sie perplex an.

„Aber, - warum denn nicht“, fragte Frau Danzig fassungslos. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet.

Selinas schwarze Augen trafen die ihren.

„Ich mag Sie nicht.“

Die Frau schnappte nach Luft. Heimleiterin Löw sah sie ärgerlich an.

„Selina! Das war nicht sehr höflich!“

Das Mädchen blickte nun sie an.

„Aber es ist die Wahrheit.“

Mathilde Löw stieß einen lauten Seufzer aus.

„Mag sein, aber man kann so etwas auch netter sagen.“

Selina schwieg und wartete darauf, dass sie endlich hinausgeschickt wurde.

Als sie irgendwann im Korridor stand, schritt sie zügig nach draußen in den kleinen Innenhof. Dort sah sie sich wachsam um und bückte sich. Aus dem Hosenbein kletterte die Spinne und erklomm ihre ausgestreckte Hand.

Selina hob sie dicht an den Mund.

„Danke, Wahrheitsfinderin“, flüsterte sie dem Tier zu und setzte es hinter einer Mülltonne auf den Boden.

Seit dieser Episode war sie nicht mehr gefragt worden und das war ihr nur recht. Heimleiterin Löw hatte ihr eine Standpauke in Sachen Anstand gehalten, der sie natürlich aufmerksam zuhörte. Höflichkeit und Unehrlichkeit lagen gemeinsam in einer Grauzone, hatte sie den Worten entnommen, und beschlossen, dass sie diese Grauzone nicht mochte.

Besser, sie kam ohne sie aus.

Nun, ein Jahr später, hatte sich ihre Meinung diesbezüglich immer noch nicht geändert. Sie fand es schwierig, Höflichkeit von Unehrlichkeit zu unterscheiden, und blieb lieber bei der Wahrheit. Da diese aber häufig zu Ärger bei den Erwachsenen führte, versuchte sie, alle Situationen zu vermeiden, die Höflichkeit erforderten. Meistens gelang es ihr.

Doch das Tischgebet war ein unangenehmer Kompromiss. Es widerstrebte Selina, so zu tun, als wäre ihr das Gebet wichtig. Doch dieses Ritual war in den Hausregeln fest vorgeschrieben. Es anzuzweifeln, würde langwierige Diskussionen und möglicherweise auch Bestrafung nach sich führen – und viel zu viel Aufmerksamkeit auf sie lenken.

Nach dem Mittagessen zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück.

Hausaufgabenzeit.

Selina liebte die Phase der Ruhe und Konzentration. Dies war die einzige Zeit im Haus, in der es wirklich still war. Danach kamen Hausarbeit und Gartenarbeit an die Reihe, und die Lautstärke schwoll üblicherweise deutlich an.

Selina beschwerte sich nicht. Die Aufgaben waren nicht schwer und altersgemäß verteilt. Meistens musste sie in der Küche helfen und ab und zu den Hof fegen oder ein Beet von Unkraut befreien. Die Arbeit an der frischen Luft gefiel ihr am besten, doch da sie nicht die Einzige war, kam sie nicht allzu häufig dran.

Heute musste sie den Hof fegen und das steigerte ihre Laune etwas. Doch als sie danach wieder ihr Zimmer betrat, fand sie Lisa zusammengerollt auf ihrem Bett liegen.

Das war ungewöhnlich.

Sie hockte sich auf ihr eigenes Bett und sah zu ihrer Zimmergenossin.

„Bist du krank?“

Nur ein kaum wahrnehmbares Beben erschütterte den schmalen Körper. Selina sah genauer hin. Lisa weinte.

Langsam stand sie auf und trat zu ihr hin. Sie legte eine Hand auf Lisas Arm.

„Was ist los?“

Lisa krümmte sich noch mehr in sich zusammen und ein leises Schluchzen drang aus ihrer Kehle.

Selina setzte sich auf die Bettkante und wartete geduldig.

Es dauerte sehr lange, bis ein leises Flüstern an ihr Ohr drang.

„Er hat mir wehgetan.“

„Wer?“

„Arno.“

Der Name war nur gehaucht.

Selina runzelte die Stirn. Arno war der einzige männliche Betreuer in diesem Heim. Sie mochte ihn nicht besonders, hatte aber nur wenig mit ihm zu tun. Einmal hatte er sie lächelnd gefragt, ob sie ihm einen Gefallen tun wollte, und sie antwortete ihm mit Nein. Er war erst verdutzt, dann ärgerlich geworden, sprach sie dann aber nie mehr an.

„Was hat er getan?“

„Er – er hat mich angefasst. Da unten. Und mit seinem Mund. Und – und dann hat er sein Ding in mich gesteckt. Es hat so wehgetan.“

Stockend, und von vielen Schluchzern unterbrochen, erzählte Lisa, was ihr an diesem Nachmittag widerfahren war.

In Selinas Innerem wurde es immer kälter.

Auch mit neun Jahren wusste sie, was ihrer Freundin angetan worden war. Sexualität war ein offenes Thema unter den Heimkindern. Und dass es Erwachsene gab, die Kindern damit Gewalt antaten, war auch ihr zu Ohren gekommen. Einmal im Jahr wurde es von den Betreuerinnen thematisiert. Meistens kommentierten die Kinder diese Belehrungen mit Kichern und blöden Witzen, doch Selina hatte den Ernst, der dahinter stand, verstanden. Und jetzt, wo sie die bebenden Schultern ihrer kleinen Freundin sah, kroch Zorn in ihr hoch. Das würde sie nicht zulassen. Nicht noch einmal!

Sanft legte sie die Hand auf Lisas Stirn.

„Er wird es nicht wieder tun“, versprach sie leise und zog sich dann zurück. Sie musste nachdenken. Wie konnte sie Arno dazu zwingen, Lisa in Ruhe zu lassen, ohne ihre Freundin in Schwierigkeit zu bringen? Wenn sie die Heimleiterin darauf ansprach, würde Lisa mit Sicherheit ausgefragt werden, und das war nicht akzeptabel. Arno war noch nie auffällig geworden, und die Gefahr, dass man sie zu einer Lügnerin abstempelte, war groß. Nein, in diesem Fall musste sie sich eingestehen, dass die Wahrheit wenig hilfreich war. Arno musste verschwinden, ohne dass ein Zusammenhang mit Lisa hergestellt wurde. Doch zunächst wollte sie sicher sein. Sicher, dass Arno wirklich eine Gefahr für Lisa und andere Mädchen war.

Sie legte sich auf ihr Bett und schloss die Lider. Sie brauchte Informationen, und da gab es für sie nur eine Möglichkeit. Freundliche, hilfsbereite Augen.

*

Arno Stadtfeld seufzte genüsslich, während seine Hand über die zarten Pobacken strich, die sich vor ihm aufreckten. Langsam glitt sein Finger in die schmale rosa Spalte.

„Gefällt dir das, meine Süße?“

„Ja!“

Die Antwort war leise und zittrig, und ein Beben erschütterte die schmalen Oberschenkel. Arno beugte sich vor und tauchte seine Zunge tief in das süße Nass.

„Mir auch“, seufzte er und öffnete langsam seine Hose. „Glaub mir, es wird noch viel schöner für uns beide. Und wenn du brav bist, verspreche ich dir ein riesiges Eis mit allem, was dazu gehört.“

Er schob sich über den zuckenden kleinen Körper und versenkte sich tief in ihn. Die gedämpften Schreie nahm er kaum wahr. Sie waren Lustgewinn und steigerten seine Euphorie nur noch. Wieder und wieder stieß er vor und trieb sich in eine Ekstase, die so berauschend und beglückend war. Seine Hände strichen über die glatte nackte Haut, die sich unter ihm wand und zuckte. Dies war Glückseligkeit und Droge in einem.

Kleine aufmerksame Augen glitten die Wand entlang. Sinneshaare waren aufgestellt und registrierten jede Erschütterung, jede Schallwelle, jede Bewegung. Kleine Körper, die durch Schatten huschten und jede Deckung nutzten. Lautlos und unbemerkt. Sie erkundeten das Zimmer, und erst, als sie das tränennasse Kindergesicht registriert hatten, verschwanden sie wieder.

Arno Stadtfeld schloss zufrieden seine Hose und tätschelte ein weiteres Mal den nackten Kinderpo.

„Brave kleine Janina“, lächelte er. „Du hast dir dein Eis wirklich verdient. Aber vergiss unsere Abmachung nicht. Kein Wort zu irgendjemand. Du weißt, was sonst passiert!“

Janina nickte hastig und griff nach ihrer Hose, doch Arno hielt ihre Hand fest.

„Moment, meine Kleine. Lass mich noch einmal etwas Nachspeise genießen.“

Wieder beugte er sich vor und spreizte ihre Beine weit auseinander.

Janina schloss die Augen und stellte sich vor, dass sie weit, weit weg war. Weit weg von diesem Zimmer, von diesem Mann und dieser feuchten, gierigen Zunge, die tief zwischen ihren Beinen leckte und sie auszusaugen schien.

Nichts konnte schlimmer sein. Nicht einmal Spinnen.

*

Es war weit nach Mitternacht, als Arno Stadtfeld die Augen aufschlug. Irgendetwas hatte ihn aufgeweckt, doch kein Lärm war zu hören. Schläfrig lauschte er nach der Störquelle, bis er registrierte, dass es kein Geräusch war, das ihn geweckt hatte. Ein ungewohntes Kribbeln war auf seiner Haut.

Huschende Bewegungen, die er nicht sah, nur spürte.

Gänsehaut überzog seinen Körper und langsam tastete er nach der Nachttischlampe. Als das Licht aufglomm, fiel sein Blick auf seinen Arm und er erstarrte. Dunkle, krabbelnde Körper mit langen gliedrigen Beinen klammerten sich an ihm fest und färbten den Arm schwarz. Mit einem entsetzten Schrei fuhr er hoch und sah, dass der Albtraum noch weitaus schlimmer war. Sein Bett war dunkel von einer bewegten Masse. Kleine wimmelnde Körper bedeckten nicht nur die Bettdecke, sondern krabbelten an seinem Leib herum.

Spinnen, erkannte er, hunderte, ja tausende von Spinnen in allen Größen kletterten an ihm hoch. Wieder stieß er einen Schrei aus, der aber sofort erstickt wurde. Nacktes Entsetzen packte ihn, als sein Mund sich füllte. Chitinige, kratzige, winzige Klauen hakten sich in der Mundschleimhaut fest und drängten sich nach innen, tief in den Rachen.

Arno Stadtfeld röchelte in Todespanik. Ein flammender Schmerz durchfuhr seine Brust und ließ den Atem stocken. Wimmernde Laute drangen aus seinem Mund und die Hände fuhren hoch, schlugen panisch um sich. Dann senkte sich die Dunkelheit vor seine Augen und er sackte in sich zusammen.

Die schwarze Flut an Spinnenleibern zog sich zurück und verteilte sich, drängte durch jede Ritze und jeden Spalt nach draußen. Keine Minute später war nichts mehr von ihnen zu sehen. Nur Arno Stadtfeld lag mit weit aufgerissen Augen und geöffnetem Mund zusammengesunken auf seinem Bett.

Sie fanden ihn am frühen Vormittag, und der eilends herbeigerufene Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.

„Verdacht auf Herzinfarkt“ schrieb der Arzt in sein Formular und niemand zweifelte es an. Arno Stadtfeld war mit zweiundfünfzig Jahren zwar nicht alt, doch sein Beruf war anstrengend. Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen forderte einem Erzieher so einiges ab, das wusste jeder. Keiner hielt es für nötig, näher hinzusehen und so fand auch niemand die chitinigen Leiber in seinem Hals, die es nicht mehr nach draußen geschafft hatten.

Ihr Tod wurde betrauert, doch sie waren gerne gefolgt.

Mathilde Löw und ihre Kolleginnen trauerten ihrem freundlichen Kollegen noch lange nach. Die Botschaft in den Augen einiger Mädchen entging ihnen. Diese glitzerten erleichtert, und in den nächsten Wochen wirkten sie gelöster und entspannter als sonst.

Seelenfresserin

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