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AUSNAHMEZUSTAND ZWEI

GEWITTER IM KOPF

OKTOBER 2018

SHARIEs gibt viele verschiedene Arten der Epilepsie. Mari hat von jeder etwas. Mal liegt sie da und starrt in die Luft, mal zuckt ihre Oberlippe. Wir haben schon erlebt, dass sie rhythmisch mit Armen und Beinen geschlagen hat, dass sie Schaum vor dem Mund hatte, dass sie aufgehört hat zu atmen und blau geworden ist, aber auch, dass sie einfach nur alle zwei Minuten für zehn Sekunden in eine Art »Schlaf« gefallen ist. Was diese Momente mit Mari machen, wie sie sich für sie anfühlen und was sie für Folgen haben, können wir nur erahnen. Allerdings können wir umso genauer sagen, was sie mit uns machen: Es ist schrecklich mit anzusehen und bricht uns jedes Mal das Herz. Wir werden zwar von Mal zu Mal ruhiger in unserem Handeln, aber das Gefühl der Panik verschwindet nie. Und die Panik ist uns jedes Mal ins Gesicht geschrieben – was Maris Geschwister natürlich zusätzlich erschreckt.

Wir erklären ihnen das Geschehen als »Gewitter in Maris Kopf«. Danach sei sie immer so müde »wie nach einem langen Tag im Schwimmbad«. Was wirklich in ihr los ist? Wir wissen es nicht. Leider kann Mari uns darüber ja keine Informationen geben. Sie kann nicht mit uns sprechen, das Erlebte nicht mit uns teilen oder verarbeiten.

September 2018: Unser Sohn ging seit knapp zwei Wochen in die Schule. Unser Tag startete seitdem eine Stunde früher, außerdem gab es neue Prioritäten. Denn die Schule wartet nicht, pünktlich sein ist Pflicht. Das müssen nicht nur er und ich, sondern auch die drei Schwestern lernen.

An diesem Tag lief aber alles sehr entspannt. Obwohl André schon aus dem Haus war – oder vielleicht gerade deshalb? Ich weckte ein Kind nach dem anderen, und alles lief ungewohnt geordnet und mit viel Ruhe. Der Große zog sich an, ich machte ihm sein Frühstück und genoss meinen Kaffee. Der hat sich inzwischen auch in meinen Alltag geschlichen – mit 31 Jahren bin ich auf den Geschmack gekommen und brauche ihn jetzt morgens unbedingt. Die drei Mädels kuschelten in unserem Bett.

Nachdem unser Schulkind das Haus verlassen hatte, zog ich die Mädchen an. Ich begann mit der Kleinsten. Mein Blick wanderte vom Wickeltisch runter zum Boden auf den Teppich. Die Zweitkleinste streifte sich gerade einen Pullover über und steckte den Arm durch die Öffnung, die eigentlich für den Kopf vorgesehen ist. »Wo ist eigentlich Mari?«, fragte ich sie. Ohne zu antworten, machte sie sich auf die Suche, den Pullover halb um den Bauch gewickelt. Sie ist mit ihren drei Jahren schon eine so fürsorgliche »große kleine Schwester«.

Natürlich antwortete Mari nicht auf unser Rufen. Ich setzte mir die fertig angezogene Kleinste auf die Hüfte und machte mich mit auf die Suche. »Mari-Maus, wo bist du denn?« Ich konnte sie nicht hören. Kein Wuseln, kein Kramen, kein Poltern. Als ich sie mit ihrer kleinen Schwester auf dem Arm fand, lag sie mit weit geöffneten Augen auf dem Boden ihres Zimmers. Sie bewegte sich nicht und starrte in die Luft. Keine Reaktion. Wie hypnotisiert setzte ich die Kleinste zu ihr auf den Boden und rief auch die andere Kleine dazu. »Ihr bleibt hier bei Mari, ich hole Hilfe!« Ich rannte aus dem Zimmer, raus aus der Haustür auf die Straße und von Haus zu Haus. Verzweifelt klingelte ich bei allen Nachbarn und rannte dann panisch zurück zu meinen Kindern. In meinem Rücken hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. »Ich brauche Hilfe, bitte helft mir!« Ich schrie, ohne zu wissen, wer die Tür geöffnet hatte, und stürzte zurück ins Kinderzimmer.

Wie hatte ich die beiden Kleinsten nur mit ihrer regungslosen Schwester alleinlassen können? Der Gedanke daran macht mich bis heute völlig fertig. Aber ich hatte keine Wahl. Mit den Notfallmedikamenten konnte ich Mari schnell helfen. Und die Geschwister waren dank der Nachbarschaft versorgt. Ich legte mir die völlig erschöpfte und von den Medikamenten sedierte Mari auf den Schoß und rief André an. »Guten Morgen, Schatz«, begrüßte er mich. Ich konnte ihm vor lauter Verzweiflung nicht antworten. Dass Mari einen Anfall gehabt hatte, war schlimm. Dass ich ihr nicht sofort helfen konnte und erst mal nach Hilfe gesucht habe, war noch schlimmer. Dass ihre kleinen Schwestern bei ihr sitzen bleiben und den Anfall mit ansehen mussten, brach mir das Herz. Ich weiß nicht, an welcher Stelle ich versagt habe, konnte aber in diesem Moment auch nicht darüber nachdenken, wie ich es hätte besser machen können. Eine Ausnahmesituation, die es so noch nicht gegeben hatte.

André versuchte mich zu beruhigen. »Du hast alles richtig gemacht. Du brauchtest Unterstützung und hast sie dir geholt. Wir müssen einfach darauf achten, dass wir in den nächsten Wochen niemals alleine mit Mari sind.«

Mari krampft jetzt seit einigen Wochen fast täglich. So etwas haben wir vorher noch nicht erlebt. Neben all den Anfällen, die unseren Familienalltag zum permanenten Ausnahmezustand machen, weil niemals etwas normal verläuft und man sekündlich mit allem rechnen muss, belastet uns vor allem, dass Mari nur noch erschöpft oder sediert ist. Dass sie nicht mehr die fröhliche Maus ist, die dem Leben und den Menschen entgegenlächelt und uns dadurch auch das Komplizierte so einfach macht.

»WIE MACHT IHR DAS NUR?«

NOVEMBER 2018

ANDRÉDer Status epilepticus im Kindergarten, im August, war der Auftakt einer schlimmen Reihe von Anfällen. Als Mari im Krankenwagen lag, nur noch halbseitig lächelte und einfach nicht aus diesem Status erwachen wollte, war ich mir sicher: Wenn sie das überhaupt überlebt, wird sie definitiv Folgeschäden haben.

Nach fast 80 Minuten kam sie wieder zu uns. Shari und ich saßen an ihrem Bett in der Notaufnahme, und plötzlich war ihr Blick nicht mehr starr. Sie suchte durch die halboffenen Lider etwas Vertrautes und fand: uns. Sie lächelte, wie sie es an normalen Tagen fast ununterbrochen tut. Dann setzte sie sich auf und streckte ihre Ärmchen nach uns aus. Ich nahm sie auf den Arm und drückte sie fest an mich, dann war Mama dran und dann … wollte Mari den Raum erkunden. Wir konnten es nicht fassen, und auch die Ärzte waren baff. Mari berappelte sich gerade in Rekordzeit von einem 80-Minuten-Anfall und einer unfassbaren Menge an Valiumpräparaten, die den »Sturm« aus ihrem Köpfchen vertrieben hatten.

In den nächsten Tagen folgte Anfall auf Anfall. Unzählige schlaflose Nächte hatten wir seither.

»Soll ich ihr vor dem Einschlafen CBD-Öl geben?«

Shari sieht mich an und zuckt verzweifelt mit den Schultern. Wir haben seit Monaten ein Fläschchen mit diesem Öl in unserem Schrank stehen. Viele Angelman-Eltern schwören darauf, und wir denken auch, dass es uns weiterhelfen könnte. Bisher allerdings war unser Standpunkt: »Never change a winning team (of meds).« Bis vor Kurzem sind wir gut gefahren mit der Medikation. Und nachdem wir dann in die Katastrophe geschlittert waren, trauten wir uns erst recht nicht, etwas zu verändern.

»Wir geben es ihr nicht.«

Am nächsten Morgen wache ich auf. Und sehe ungläubig auf die Uhr. Mari hat durchgeschlafen. Ohne Anfall. Hätten wir ihr gestern Nacht das Öl gegeben, hätten wir die ruhige Nacht unweigerlich darauf zurückgeführt. So viel zum Thema Korrelation und Kausalität. Das ist eines meiner Lieblingsthemen: die Verwechslung von Gleichzeitigkeit mit Ursache. Da es so wenige Studien und Erhebungen gibt zum Thema Angelman-Syndrom, der dazugehörigen Epilepsie und ergo auch der passenden Medikation, führen wir ein Tagebuch. Darin halten wir Maris Anfälle und ihren Zustand fest, so viele (denkbare) Einflüsse wie möglich – und natürlich alle Medikamentengaben. Irgendwann hat uns jemand gesagt, dass Angelman-Kinder bei Vollmond sehr schlecht schlafen. Da ich sowieso nicht an die Vollmondnummer glaube beziehungsweise sie für eine selbsterfüllende Prophezeiung halte, habe ich daraufhin unser Tagebuch ausgewertet und siehe da: Bei Vollmond schläft Mari IMMER durch. Bei uns gilt also eine statistisch belegte Korrelation, die das Gegenteil der Vollmondthese aussagt.

Auch wenn diese Nacht gut war: Wir haben in den letzten drei Monaten kaum geschlafen.

Meine Tage und Nächte waren voller Sorge und Leid. Ich musste dennoch unfassbar viel drehen, und ich hatte dabei die ganze Zeit mein Handy im Anschlag, um zu sehen, ob Shari angerufen oder mir gar die Nachricht hinterlassen hat, dass es wieder losgeht. Dass Mari einen Anfall hat.

Zweimal habe ich gedacht, dass sie dieses Mal nicht wieder aufwacht. Ich habe mich mit dem möglichen Tod meines Kindes auseinandersetzen und dann die schlimmsten Gedanken immer wieder verdrängen müssen, um fokussiert zu sein, problemorientiert, um unserem Weg weiter zu folgen, nämlich dann mit Problemen umzugehen, wenn sie da sind.

Mari hatte von August bis Oktober über 20 Anfälle. Achtmal haben wir den Notarzt gerufen. In den früheren Anfallphasen kamen wir insgesamt auf höchstens acht Anfälle.

Es hat lange gedauert, bis wir eine Idee bekommen sollten, was diese Katastrophe ausgelöst haben könnte.

Alle um uns herum sagen, dass sie sich das nicht vorstellen können. Die Leute sagen das, seit wir die Diagnose haben. Die häufigste Frage lautet: »Wie macht ihr das? Wie schafft ihr das? Wie haltet ihr das durch?«

Unsere Antwort darauf ist meistens ein schulterzuckend-lächelndes, manchmal müdes: »Was bleibt uns anderes übrig?« Wir MÜSSEN es schaffen – und wir wollen und wir können es.

Weitere typische Dialoge mit Freunden und Fremden spielen sich etwa so ab:

»Ich komme ja schon mit zwei Kindern nicht klar, aber ihr habt vier und dazu noch Maris Behinderung.«

»Die Behinderung spielt kaum noch eine Rolle, wenn nur diese verdammte Epilepsie nicht wäre. Aber: Elf Monate des Jahres läuft ja normalerweise alles super!«

Oder so:

»Und ich beschwere mich, weil ich gestern nicht gut geschlafen habe!«

»Ja, wir haben seit Monaten nicht mehr durchgeschlafen, aber muss oder kann man Leid vergleichen? Wir haben alle unsere Probleme, und jedes erscheint jedem anders. Es gibt kein größer und kein kleiner. Die Größe eines Problems ist rein subjektiv.«

Ein Fan oder (wahrscheinlich) Ex-Fan nannte uns mal »GEILVORKOMMER«. Wir haben dieses Wort derart abgefeiert, dass es zu einem festen Hashtag in unseren Instagram-Kanälen wurde. Die Frau meinte zwar eher unsere visuelle, »sozial-mediale« Selbstdarstellung in unseren Posts und Storys, aber ihre Wortschöpfung beschreibt in einem Wort etwas, das ein bis dato völlig Fremder neulich zu uns sagte, der sich unsere ganze Geschichte von vorne bis hinten angehört und auch bei uns zu Hause angesehen hat.

Er sagte in etwa, dass er es wahnsinnig toll finde, wie wir alles stemmen. Mit vier Kindern, den vielen Jobs, dem Haus, unserem Angelman-Engel Mari und unserer glücklichen Beziehung. Und nach mehreren Stunden, die er am Stück mit uns verbracht hatte, meinte er auch, dass die Wahrheit auf der Hand liege: »Ihr spielt das nicht, ihr seid das. Allerdings müsst ihr aufpassen, dass ihr in eurem Buch nicht ZU perfekt rüberkommt. Das stresst die Leute …«

Wir sind keine Künstler im Verstellen. Und gerade für einen Schauspieler bin ich verdammt schlecht im Lügen. Die Dinge sind, wie sie sind.

UND DIE WAHRHEIT IST: WIR KOMMEN OFT NICHT KLAR.

Ein bisschen mehr Normalität wäre manchmal schon ganz geil.

Wie oft rasten wir aus, wie oft sind wir unfair zum anderen, zu den Kindern, zu uns selbst, zu anderen. Wie viele Tränen fließen, wie viele böse Worte fallen uns aus dem Mund.

Wir weinen manchmal zusammen – aber im nächsten Moment packen wir es eben an, denn wir haben immer einen Plan. Und geht der in die Brüche, schmieden wir den nächsten. Das Staffelholz glüht manchmal, aber einer ist immer stark. Und wenn den die Kräfte verlassen, ist der andere zuverlässig da.

Aufgeben passt nicht zu uns. Und es geht ja auch nicht. Unsere vier Kinder zählen auf uns. Und jeder Schlag ist auch ein Neuanfang, eine neue Chance. Es gibt kein absolutes Scheitern. Es gibt immer wieder einen neuen Plan. Denn man steigt niemals zweimal in denselben Fluss. Ein paar Umstände sind immer anders. Und geben manchmal Hoffnung.

Am Ende ist der stärkste Halt immer, dass es uns beide gibt, die wir uns lieben gelernt haben. Ja, obwohl es Liebe auf den ersten Blick war, mussten wir uns lieben lernen. Alles hat gestimmt, aber vieles mussten wir uns hart erarbeiten. Zwei kompromisslose Geister, die sich ihre Vorstellungen gegenseitig ins Herz und in den Kopf ballerten – und die sich ihre Kompromisse mühsam erkämpfen. Jeden Tag. Und immer in Liebe.

Alles Liebe

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