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PROLOG

»SOLL ICH MORGEN ARBEITEN GEHEN?«

OKTOBER 2015

ANDRÉ»Wollen Sie eine vorläufige Diagnose? Die hundertprozentige wird Ihnen ein Gentest bringen, aber ich habe eine Vermutung. Ich bin mir ziemlich sicher. Also, wollen Sie es wissen?«

Na klar wollten wir. Was sollte denn schon ein einziger Satz aus dem Mund eines fremden Mannes an unserem Leben ändern. Mari bleibt doch Mari. Wir sind doch wir!

Dieses WIR ahnte nicht, was nur Stunden später in unseren Köpfen passieren würde. Und dass dieser eine Satz sehr wohl unser bisheriges Leben und alles, was wir uns bis dahin vorgestellt hatten, komplett auf den Kopf stellen würde. Ein Satz, der uns in ein tiefes Loch stürzen ließ.

Mari war zu diesem Zeitpunkt fast zwei Jahre alt. Seit einem Jahr gärte in uns der Gedanke, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Wir waren bei mindestens 20 Ärzten. Doch keiner hatte sich zu einer Diagnose hinreißen lassen. Alle lavierten herum, händerringend darum bemüht, ihre Unwissenheit nicht zu offenbaren. Einzig unsere Freundin Isa, selbst Kinderärztin, stellte aus der Ferne, nach vielen Telefonaten, die richtige Diagnose. Es war natürlich nur eine Vermutung, die ich damals nicht wahrhaben wollte. Doch irgendwo in den hinteren Hirnregionen speicherte ich diesen prägnanten Namen des Gendefekts ab. Soweit hinten, dass mir erst viele Tage nach der Diagnose wieder einfallen sollte, dass ich ihn schon einmal gehört hatte.

Wir hatten zwei Jahre voller nicht greifbarer Furcht hinter uns – und der Hoffnung, wir seien nur die üblichen übereifrigen Eltern, die einfach nicht verstehen wollen, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat.

Heute wissen wir: Ja, jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Maris Tempo ist besonders eigen. Und eigentlich: besonders.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Shari für Klamotten trug und welche Farbe die Wand hinter der Liege hatte, auf der Mari herumkrabbelte. Aber ich kann mich noch an das Wetter erinnern. Es war sonnig und für einen Tag im späten Oktober ganz schön warm.

Irgendwo zwischen Köln und Bergisch Gladbach nimmt meine Erinnerung wieder Fahrt auf. Ich kann mich an den Klang von Sharis Stimme erinnern, an meine Gedanken, die vermeintlich geschärft, klar und rational um die nächsten Tage kreisten. Unterbewusst war ich wohl darauf bedacht, Shari und die Kinder zu schützen, indem ich versuchte, mich an der vermeintlichen Normalität festzuklammern. Unser Sohn, 20 Monate älter als Mari, wartete schließlich mit Sharis Mutter zu Hause auf uns, und unsere damals jüngste Tochter, 18 Monate jünger als Mari (ja, wir haben uns echt beeilt!), schlief in ihrem Autositz.

Shari saß mit den Mädels hinten im Auto.

»Soll ich morgen arbeiten gehen?«, fragte ich.

»Hä? Klar! Warum denn nicht?« antwortete Shari.

Ich erinnere mich daran, über die Tatsache nachgedacht zu haben, dass »Mari« im Japanischen »Wahrheit« bedeutet – und dass ich mich fragte, ob der Arzt eben tatsächlich die Wahrheit ausgesprochen hatte.

»Ihre Tochter hat mit großer Wahrscheinlichkeit einen Gendefekt namens Angelman-Syndrom.«

»Aha. Und was … bedeutet das?«

»Sie wird auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkinds bleiben. Sie wird Schwierigkeiten haben, laufen zu lernen; viele lernen es gar nicht. Und sie wird im Laufe ihres Lebens nur höchstens zehn bis zwölf Wörter lernen«, sagte er. Sein Ton: halbtrocken mit einer Note von Einfühlsamkeit.

»Dann schaffen wir 20!«, verließen vier Wörter den Mund eines unbelehrbaren Optimisten.

Wie wir zum Auto gekommen, eingestiegen und losgefahren sind … Ich erinnere mich nicht.

»Soll ich morgen arbeiten gehen?«

Ab da ist alles wieder da. Die Fahrt und das Nach-Hause-Kommen werden mir wahrscheinlich wie ein sehr bewusster Rauschzustand für ewig im Gedächtnis bleiben. Ähnlich wie dieser eine Tag 1999, als ich durch die sonnigen Straßen meines Heimatdorfs hinter dem Sarg meiner Mutter hergehe und mich dabei erwische, wie ich neben mir selbst herlaufe und denke: Das passiert doch gerade nicht wirklich. Und wenn doch, dann hör endlich auf, dich zusammenzureißen!

Shari vergleicht den Moment der Diagnose oft mit der Nachricht vom Tod eines nahestehenden Menschen. Ich habe lange gesagt, dass man das nicht vergleichen kann. Aber sie hat recht.

Heute sehe ich den Moment, die Nachbereitung und die Verarbeitung der Diagnose im selben klaren und zugleich unwirklichen Licht wie die Tage nach dem Tod meiner Mutter.

Dabei war unsere Tochter auf dem Rückweg doch dasselbe fröhliche süße kleine Ding wie auf dem Hinweg.

»Soll ich morgen arbeiten gehen?«

Wie viel Wahrheit, Abstrusität, Klarheit, Verklärung, Traurigkeit, Humor stecken in diesem Satz?

»Warum denn nicht?«

Und wie viel von alledem steckt auch in dieser Antwort?

Dieser kurze Dialog zwischen Shari und mir spricht Bände über uns, unser Leben, unsere Liebe, unsere Sicht auf die Welt und unsere Art, Dinge anzugehen. Und genau davon erzählt dieses Buch. Und zwar so, wie Erinnerung funktioniert. Nicht streng chronologisch. Denn das Leben ist eben kein Protokoll.

ICH BIN DIE, DIE UNTERGEHT . . .

OKTOBER 2018

SHARIMari ist in einem Pflegeheim. Ich bin bei ihr, und wir verbringen unsere gemeinsame Zeit in einem cafeteriaähnlichen Gebäude. Es ist unglaublich laut. Um uns herum klirren Teller, viele Menschen laufen durcheinander. Erwachsene, Jugendliche, Kinder. Menschen mit Behinderung, Menschen ohne Behinderung. sichtbare und unsichtbare Probleme. Eine beklemmende Situation.

Mari sitzt in ihrem Reha-Buggy und wirkt teilnahmslos, starrt Löcher in die Luft. Es macht mich traurig, sie so zu sehen. Ihr echtes, herzliches und unbekümmertes Lachen fehlt. Mein Kind ist nur noch eine leere Hülle. Ganz nah bei mir und trotzdem so weit weg. Ich versuche sie zu füttern, sie abzulenken. Nichts hilft.

Verzweifelt hoffe ich darauf, dass André endlich kommt. Mich unterstützt, mir hilft. In solchen Situationen ist er es, der einen klaren Kopf behält. Der weiterhin positiv denken kann. Wo ist er nur? Ich schiebe Mari durch den Raum und laufe mir Blasen an die Füße. Sie schmerzen. Von André fehlt weiterhin jede Spur. Ich brauche Hilfe, möchte Mari endlich wieder glücklich sehen.

Warum ist sie überhaupt hier? Ihre Geschwister und ihr Zuhause würden sie jetzt wieder lebendiger machen.

Nachmittags machen Mari und ich einen Ausflug mit einer Gruppe aus dem Heim. Betreuer und auch andere Kinder sind dabei. Ein kurzer Moment des Glücks. Es geht mit einem Boot übers Wasser. Wasser ist Maris Element. Neben ihren Geschwistern, ihrem Papa und ihrer Mama hat Wasser die größte heilende Wirkung auf sie.

Plötzlich kentert das Boot, es geht unter. Ich habe Angst um meine kleine Mari. Sie darf nicht untergehen! Doch ich bin es, die mit dem Boot untergeht. Ich bin Mari. Ich blicke durch ihre Augen und versuche, das Boot nach oben zu ziehen und alle anderen Kinder zu retten. Ein kurzer Gedanke geht auch an mein Handy und dass es nicht nass werden darf. Habe ich es vielleicht gar nicht dabei? Und wenn doch, ist es dann für immer verloren? Ich sehe die Sonne durch die Wasseroberfläche über mir leuchten. Ich versuche, nach oben zu schwimmen. Ich kann nicht mehr atmen und muss nach oben. Ich schaffe es nicht. Ich bin hilflos.

Alles Liebe

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