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AUSNAHMEZUSTAND DREI

DAS WIRD-SCHON-GEN

SEPTEMBER 2018

SHARIHeute ist Hochzeitstag. Nicht unserer, aber der von einem Freundespaar. Sie heiraten heute. Und sie haben sich wahnsinnige Gedanken gemacht, um diesen Tag mit viel Liebe zum Detail zu etwas ganz Besonderem zu machen – für sich genauso wie für uns und alle anderen Gäste. Seit Monaten freuen wir uns auf diesen Tag. Auch, weil wir so viel dafür vorbereitet haben: Filme gedreht und geschnitten, Songs einstudiert. Und weil wir diese Hochzeit mit all unseren Freunden und endlich auch mal wieder nur als Paar genießen wollen. In schönen Kleidern, mit leckerem Essen, ohne Kinder. Einen ganzen Tag lang.

Bei der Vorbereitung auf solche Tage muss ich auch immer an unsere eigene Hochzeit denken. Es war so romantisch! Auf einem Schloss, mit allen Menschen, die uns wichtig waren, mit allem, was dazugehört. Ein ganz besonderer Tag, an dem wir frei waren. Nur Shandré. Jetzt ist alles anders. Wir sind andere Menschen. Wir tragen so viel Verantwortung. Und sind trotzdem noch glücklicher.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte diesen Tag noch ein zweites Mal erleben. Weil ich heute einen ganz anderen Blick auf meinen Mann habe. Weil ich heute so viele Menschen gerne dabeihätte, auf andere wiederum verzichten könnte. Und auch, weil ich einfach Lust hätte, dieses wahnsinnige Fest noch ein zweites Mal bis ins Detail zu planen und zu feiern.

Und dann gestern Abend das: »Leute, wir hatten eben den Worst Case! Mari hatte einen sehr schlimmen Anfall. Wir müssen den Morgen abwarten und schauen dann. Eventuell komme ich nur zur Probe und zur Trauung. Shari schicke ich auf jeden Fall zu euch.« Andrés Nachricht in die Videodrehsingundsang-Gruppe. Eine Gruppe, in der wir alle Hochzeitsvorbereitungen mit unseren Freunden geregelt haben. Und wir anderen haben uns natürlich sofort gefragt: »Wie sollen wir einen Song ohne André singen, der die tragende Rolle spielt beziehungsweise singt?«

Gestern Abend hätten wir nicht geglaubt, dass wir Mari heute irgendjemandem anvertrauen oder sie überhaupt jemals wieder in fremder Obhut lassen könnten. Der Anfall war so schlimm, dass wir den Notarzt rufen mussten. Wir waren so verzweifelt, dass wir die Ärzte aus der Nachbarschaft verrückt gemacht haben, weil wir Angst hatten, der Notarzt würde zu lange brauchen.

Heute sind wir wieder etwas optimistischer. Wir stehen hier im Park – es ist eine freie Trauung unter riesigen, alten Bäumen –, um mit dem Freundeskreis Stand by me zu singen. Wir versuchen uns heute zu entspannen. Paar zu sein, ohne zu viel darüber nachzudenken, was zu Hause alles schiefgehen könnte. Aber unsere Gedanken drehen sich ständig um Mari. Und um die anderen Kinder. Denn nicht nur wir als Eltern machen uns wahnsinnige Sorgen, auch in Maris Geschwistern steckt die Angst, die täglich in uns brodelt.

»Fragst du dich nicht auch manchmal, ob du auch allen Kindern gleichermaßen gerecht werden kannst? Ich habe nur zwei Kinder und stelle mir diese Frage fast täglich.« André und ich sitzen auf Koh Phangan oder auch: an Tisch 16. Eine runde Tafel am Rande eines riesigen Festsaals, auf einer deutsch-asiatischen Hochzeit, dekoriert mit Blumen, Glückskeksen und asiatischen Sonnenschirmchen. Bei uns sitzen drei andere Paare, die wir allerdings alle nicht gut kennen. Eine interessante Konstellation von Menschen auf einer Hochzeit, auf der 20 meiner engsten Freunde eingeladen sind. Wir sprechen über unsere Jobs, woher wir das Brautpaar kennen, über unsere Kinder, wo wir leben. Oberflächliche, aber sehr nette Unterhaltungen. Und jetzt diese Frage von einer Frau neben mir, die mir auf Anhieb sympathisch ist. Das Gespräch bekommt plötzlich eine bedeutende Tiefe.

»Ob ich allen Kindern gerecht werden kann? Hab ich mich bewusst noch nie wirklich gefragt.« Ich überlege kurz. »Bestimmt bekommen Kinder in einer Eins-zu-eins-Betreuung mehr Aufmerksamkeit. Sie haben mehr Möglichkeiten, unterschiedlichste Hobbys auszuprobieren und Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Aber unsere Kinder geben sich untereinander so viel, dass ich mich manchmal nur wie eine Randfigur fühle, die die Richtung vorgibt und begleitet, am Ende aber nur Raum schafft, damit sich die vier spielerisch und intellektuell befruchten können. Sie sind offensichtlich glücklich. Und sie kennen es ja auch nicht anders. Aber ich habe im Alltag ehrlich gesagt auch keine Zeit, mir diese Frage zu stellen oder sie tiefgründig zu beleuchten.«

Ich bin Mutter von vier Kindern. Von Klein- bis Schulkind, Junge und Mädchen, behindert und gesund. Und ich habe nur zwei Hände. Und was bedeutet »gerecht werden«? Das zu erfüllen, was die Außenwelt von mir erwartet? Lange und in Ruhe stillen? Ausgiebig basteln, vorlesen und beschäftigen – und das alles ausgewogen und mit jedem Kind gleich oft? Wenn das die Definition ist, kann ich glasklar antworten: Ich kann ihnen nicht gerecht werden. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie ich es vor der Geburt des ersten Kindes dachte, tun zu müssen.

Beim ersten Kind überlegt man noch genau, welche Creme man verwendet, wann man mit dem Brei startet, gegen was und wann man impft. Ob die Party zu laut, der Besuch zu anstrengend für das Kind ist. Beim zweiten Kind denkt man über so etwas schon viel weniger nach. Das dritte Kind kann dann froh sein, wenn es überhaupt noch mal Zeit mit den Eltern alleine hat. Und ja, das vierte Kind bekommt mit sechs Monaten seine ersten Pommes gereicht und mit sieben Monaten gemeinsam mit dem großen Bruder das erste Mal Die unendliche Geschichte vorgelesen.

Ich möchte da sein, Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen, kann das aber nur begrenzt schaffen. Ich kann nicht allen immer gerecht werden. Allerdings bin ich nicht allein: Wir sind eine Familie, und alle tun, was sie können. Wir als Eltern, die Geschwister, Omas, Tanten und Freunde. Jeder tut, was er kann. Alle reichen uns und mir ihre unterstützenden Hände.

Zwei Stunden später. Es ist Mitternacht und André und ich machen auf der asiatischen Hochzeit einen polnischen Abgang. Wir wollen unsere freie Nacht nutzen, um … Schlaf nachzuholen. Im Auto mache ich mir erneut Gedanken über das Gerechtwerden. Und dabei denke ich weniger an unsere Kinder als vielmehr an den Mann neben mir, der die Augen bereits geschlossen, den Kopf im Nacken und den Mund weit geöffnet hat. »Es war ein toller Tag mit dir, mein Schatz.« André kann mir jetzt auch nicht gerecht werden. Er schläft bereits tief und fest. Den Reisschnaps hat er sich heute aber auch wirklich verdient. Ich fahre das Auto und spreche meine Gedanken laut aus – im Wissen, dass André wahrscheinlich nichts davon zur Kenntnis nimmt. »Ich stelle mir nicht die Frage, ob ich allen Kindern gerecht werden kann. Mit Sicherheit dreht sich in letzter Zeit viel um Mari, und die anderen drei müssen Rücksicht nehmen und verzichten. Dafür kann Mari aber ihre Bedürfnisse nicht aussprechen und muss sich anpassen, weil sie sich nicht artikulieren kann. Und ist es nicht toll, dass unsere Kinder von klein auf lernen, dass wir aufeinander achtgeben und Kompromisse eingehen müssen, damit wir als Familie funktionieren können?«

Und wir als Paar? Können wir einander noch gerecht werden? Eine berechtigte Frage an einem Tag, auf den wir seit Monaten hingearbeitet, auf den wir uns bestens vorbereitet haben – und an dem wir dann unentwegt auf unsere Handys gucken, an unsere Kinder denken und um Mitternacht abhauen müssen. Trotzdem: Wir können! Ich nehme Andrés Hand, wohl wissend, dass er davon wohl nicht mehr viel mitbekommen wird. »Der Wille ist da. Wir möchten unseren Kindern und uns gerecht werden. Wir geben uns als Familie das Gefühl, dass wir alles geben, dass wir füreinander da sind. Und mit der Größe unserer Familie ist auch unsere Gelassenheit gewachsen. Wir wissen doch, dass alles irgendwie laufen wird.« André drückt meine Hand. Und im Radio läuft das Lied, das wir heute gemeinsam gesungen haben ... stand by me.

DIE AUSNAHMESITUATION BESTÄTIGT DIE REGEL

SEPTEMBER 2018

ANDRÉDie Anfallphase ist noch nicht vorbei. Man lernt mit dem Chaos und der Angst zu leben und Ausnahmesituationen als normal hinzunehmen. Aber sind es dann überhaupt noch Ausnahmesituationen?

Ja!

Du weißt nie mit Sicherheit, wie es dieses Mal enden wird, und ziehst alle Möglichkeiten in Betracht. Ein paar Türen sind bereits aufgestoßen und man hat bereits einen Blick auf das geworfen, was dahinter auf einen wartet. Ein paar andere Türen sind noch verschlossen – und das dürfen sie auch gerne bleiben.

Diese ständige Angst macht einen wahnsinnig. Was, wenn sie nachts einen Anfall bekommt, in einen Status epilepticus rutscht und wir es nicht mitbekommen? Was, wenn sie erbricht und sich nicht mehr zur Seite drehen kann? Anstatt zu schlafen, stellen wir das Babyphon mit Videoüberwachung neben unser Bett und schauen alle fünf Minuten drauf. Bei uns im Bett würde Mari nicht schlafen. Wenn sie unruhig ist, wechseln Shari und ich uns normalerweise ab. Wobei ich in diesen Nächten meistens sowieso nicht pennen kann und freiwillig Maris Überwachung übernehme. In den ruhigen Phasen der Nächte lese ich alles über GABA, Epilepsie und Angelman, was ich finden kann, und versuche alles logisch zu sortieren.

Zwischendrin kommt mir immer wieder ein Gedanke: Wie kann es sein, dass es im Jahre 2018 nicht möglich ist, mit unseren Problemen zu einem Arzt zu gehen, der Antworten auf unsere (wohlgemerkt sehr genauen) Fragen hat? Warum müssen wir uns alles selbst erkämpfen? Und warum gibt es keine feststehende Medikation für Menschen wie Mari?

In einer Nacht habe ich unser Tagebuch quasi auseinandergenommen und versucht, alles zu analysieren, was wir darin festgehalten haben.

Vor einem Jahr hatte Mari bereits einen Status epilepticus. Danach haben wir die Medikation umgestellt. Basierend auf Tipps von Evelyn und Christel vom Angelman-Verein und Professor Thibert vom MassGeneral Hospital for Children in Boston dessen Forschungsergebnisse um Lichtjahre von den Empfehlungen entfernt sind, die in Deutschland ausgegeben werden und die zuletzt wahrscheinlich 1992 aktualisiert worden sind. Und es hat funktioniert. Genau ein Jahr komplett ohne Probleme. Dann der erneute Status. Mit über 20 Anfällen statt acht.

Wir sind sicher, dass der Schlüssel die Medikation ist: Wann und warum geben wir was und wie viel? All das mussten wir hart erlernen und uns selbst zusammenreimen. Und nur durch diese schlimmen Phasen und die langsamen Entwicklungsschritte konnten wir letztlich auch unser aktuelles Problem lösen.

Wenn Mari in der Epilepsie gefangen ist, wirken unsere Probleme aus der Vergangenheit, der Zeit vor Shandré, belanglos. Damals allerdings waren sie existenziell.

Alles Liebe

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