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Die Kabine auf der Fähre ist ein Witz.

Mona hat sie gebucht. Sie kann nicht gewußt haben, daß es eine Besenkammer mit zwei übereinander an einer Wand befestigten Regalen ist, die die Betten darstellen sollen. Man erkennt das an den darauf liegenden gefalteten grauen Decken. Keine Kopfkissen. Das ganze Ding erinnert an Umkleide. Nicht allein das Platzangebot. Die Wände reichen nicht bis zum Boden und nicht bis zur Decke. Sie lassen überall freie Spalten. Das ist wirklich Umkleide. Und das ganze Ding befindet sich auch noch so tief unten im Schiffsbauch, das sie im Falle einer Havarie niemals rechtzeitig durch die verschiedenen, farblich unterschiedlich gekennzeichneten Flure und dicken Schotten und Metalltreppen zurück nach oben kämen.

„Hier penne ich nicht“, sagt Frank.

„He, ist nur für eine kurze Nacht. Ich beschwer´ mich auch nicht.“

„Das meine ich nicht.“

„Was dann?“

„Das liegt zu tief. Zu tief im Schiff. Das meine ich.“

„Laß uns erst mal was trinken. Vielleicht siehst du das danach anders. Oder gar nicht mehr.“

Er lacht.

Peter will unbedingt sein erstes Pint trinken. Die Fähre ist bereits englisches Territorium. Und Peter ist Engländer. Er ist in London geboren und aufgewachsen. Mehrmals im Jahr fährt er hin, irgendwelche Leute besuchen. Deshalb ist die Anreise für ihn nichts Besonderes. Er hat schon verschiedene Fähren genommen, auch diese hier. Und hat schon in solchen Kabinen gelegen. Aber immer so zugedröhnt, das er davon nie etwas gespürt hat. Diesmal allerdings will er länger in England bleiben, sechs Monate und wird in diesem Land zum ersten Mal außerhalb der Stadt wohnen. Mona hat fast alles organisiert, was mit diesem Projekt zusammenhängt, aber um diese Wohnung in Billericay hat er sich selbst gekümmert. Er hat schon immer einmal außerhalb auf dem Land wohnen wollen. Nun ist dazu die Gelegenheit. Mona hält in der Zeit das Atelier in Hamburg am Laufen. Telefonate, Verwaltung, Abrechnungen, Termine. Und Jan, zweiundzwanzig Jahre jung, sein Zweiter Assistent, ist zuständig für die handwerkliche Ausführung der laufenden Aufträge von Lebensmittelfotografie. Peter umgibt sich gerne mit jungen Menschen.

Sie finden auf die oberen Decks, lange, niedrige, neonbeleuchtete Gänge zwischen aneinandergereihten Geschäften und Fast Food-Ecken, alles mit offenen Türen. Man kann überall hineinspazieren. Das tun auch hunderte Menschen. Großes Gedränge und Geschlendere. Andere scheinen zielstrebiger. Viele sitzen schon und essen.

Frank will hinaus.

Peter meint, daß er ihnen Sitzplätze suche. Er müsse dringend sein erstes Pint haben. Frank könne nachkommen. Er werde ihn schon finden.

Frank nickt und geht weiter an Schaufenstern vorbei. Dahinter sieht er Mädchen vor Regalen mit gefärbten Flakons an ihren Handgelenken riechen, lachen und reden. Er sieht sie an. Er stöhnt innerlich. Er hat drei oder vier Tage nicht masturbiert. Das ist immer gefährlich. In Cezannes Biographie heißt es: Sein problematisches Verhältnis zu Frauen hält ihn von Aktstudien fern. Das könnte auch auf ihn zutreffen. Mädchenkörper sind magisch. Wie kann man nicht von ihnen angezogen werden? Wie sie nicht berühren wollen? In Frank ist das immer vorhanden. Die Gier nach Haut. Nach Wärme. Nähe. Oh Gott, er darf nicht mal daran denken!

Er nimmt einen Treppenaufgang, stößt eine schwere Doppeltür auf und findet sich plötzlich draußen wieder. Auf einem Außendeck. Es regnet immer noch. Das ist die berühmte kalte Dusche, haha. Frank stellt sich mit dem Rücken gegen eine Wand, die trocken ist. Das Deck ist fast leer. Sein Blick geht auf das Fährgelände, auf ein Kai des Hamburger Hafens. Unter trübem Tageslicht. Winternachmittag. Kalt. Bald wird es dunkel. Ein paar letzte Autos fahren noch in den Schiffskörper.

Dann ist der Parkplatz leer, bis auf die, die nicht mitfahren. Die bleiben. Und winken. Irgendwann sprudelt und gurgelt Wasser auf- und abschwellend, das Schiff vibriert, die Motoren dröhnen, es gibt eine weiche Bewegung, weg von der Kaimauer, zuerst langsam, dann schneller, die Kaimauer entfernt sich, das Vibrieren pendelt sich auf einer Höhe ein, treibt nun deutlich das Schiff über das Wasser der Elbe. Die Winkenden werden kleiner.

Frank sieht sich um.

Ein alter Mann mit Kamera in Plastikfolie filmt die Abfahrt. Fünf Meter weiter zieht eine ältere Dame an einer Leine einen kleinen Hund im Mäntelchen hinter sich her. Das Viech will nicht laufen. Die Dame redet auf es ein. Und zieht wieder an der Leine. Wer richtet jetzt wen ab? Wer prägt wessen Verhalten? Frank haßt genau dies. Nicht die Hunde als Geschöpfe. Aber den Zirkus, der mit ihnen veranstaltet wird. Rituale, die entstehen.

Er wendet sich ab. Geht.

Die Entfernung zum Ufer ist größer geworden. Das Tempo der Fähre ist erstaunlich. Das ist die Strömung. Sie sind nun mitten auf der Elbe. Häuser auf großen Grundstücken ziehen vorbei. Jetzt im Winter sind sie zu sehen. Im Sommer, wenn die Bäume voller Laub sind, nicht. Das sind die reichen Vororte. Dann kommen Häuser und Höfe in der Landschaft. Die Elbe weitet sich. Die Ufer weichen noch weiter zurück. Das Land ist absolut flach. Darauf nun geduckte Höfe, miniaturisierte Strommasten, die hinter Feldern Straßenverläufe andeuten. Bleiche Wiesen. Kaum Farben. Grau, Braun, blasse Grünflecken. Und das alles hinter diesigen Schleiern.

Irgendwann öffnet sich die Elbmündung zum Übergang in die Nordsee. Man sieht den Übergang nicht. Gerade ist es noch Elbe, dann Nordsee. Offene Nordsee. Wind darüber, eiskalter Wind. Frank muß einen anderen Platz aufsuchen. Er streift die Kapuze seines Sweatshirts über, zieht die Kordel enger. Ihm ist kalt geworden. Die Jacke, die er trägt, wärmt nicht.

Durch eine Dünung, die unter ihm rollt, schwankt er beim Gehen leicht zur Reling hin. Er beugt sich darüber, sieht nach unten zu dem Geräusch, das von den Wellen verursacht wird, wo sie gegen die Schiffswand klatschen und rauschen und smaragdgrün schaumig zurückbleiben. Frank wundert das, wo die Nordsee doch grau ist, wenn man über sie hinweg sieht.

Er beugt sich weiter vor.

Die Tiefe hat einen starken Sog.

Der Wind betäubt sein Gesicht.

Er möchte fast hinunterspringen.

Aber er richtet sich wieder auf.

Er ist inzwischen naß vom Regen geworden.

Er denkt daran, daß in dreizehn Tagen Weihnachten is und er dann zum ersten Mal nicht zu Hause sein wird. Und das sein Vater das noch nicht weiß. Er weiß noch gar nichts. Frank ist weg. Und das ist ein tieferer Einschnitt als nur die Reise. Er ist aus dem ausgezogen aus dem Elternhaus. Er ist weg von Zuhause.

Seinen Vater hat er aber schon seit einem Monat nicht gesehen. An den will er jetzt allerdings nicht denken. An ihn nicht und an niemanden.

Er will gar nicht denken.

Am liebsten will er hier oben bleiben. Die ganze Überfahrt. Aber die dauert laut Auskunft zweiundzwanzig Stunden. Über Nacht. Nein, er geht zu Peter zurück. Gesellschaft ist zwar nicht Teil des Jobs, aber Teil von etwas, das er nicht benennen kann bezüglich Peter.

Außerdem ist ihm in seinen nassen Sachen kalt. Er geht deshalb einen Eingang suchen. Vor ihm öffnet sich das hintere Deck, wie ein quergelegter Tennisplatz groß, voller Pfützen, in einer Ecke ineinander gestapelten Plastikstühle, angekettet. Ein Pärchen hat sich davon einen genommen und unter einen kleinen Dachvorsprung gestellt, um geschützt zu sein vor dem Regen. Das Mädchen auf dem Schoß des Jungen. Münder aneinander. Seine Hand wie ein Facehugger für ihren Hinterkopf, in ihren Haaren. Frank macht einen Bogen um die Beiden. Und so geht er halb über das leere Deck und weiter auf das andere Seitendeck, mitten hinein in den kalten Wind und Regen.

Aber da, da ist eine Tür.

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