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Tiberia, KINZeit: 13.5.15.17.4, Montag

Alanna schritt mit der Körperhaltung einer Königin durch die Eingangshalle der Sektion Archiv, Geschichte und Schrift. Lichtreflexe in verschiedenen Grünund ViolettSchattierungen fielen durch die riesigen, transparenten PlantolaanScheiben, irrlichterten über ihre makellose Alabasterhaut. Für wenige Augenblicke erstrahlte ihr schneeweißes wadenlanges Gewand, welches sie als Mitglied der Regentenfamilie auswies, in einem Farbenmeer. Wer ihr begegnete, verneigte sich tief.

Sie befand sich auf dem Weg zu Ardens Räumlichkeiten, um sich wieder einmal über den neuesten Stand der terrestrischen Geschichtsaufarbeitung zu informieren. Der Vorderste dieser Sektion musste ihr in unregelmäßigen Abständen Rede und Antwort stehen, was so an zukunftsweisenden Ereignissen auf Terra in den vergangenen zweihundert TUN abgelaufen war. Heute fand sie endlich wieder etwas Zeit, um ihm einen Besuch abzustatten.

Arden empfing die weizenblonde Schönheit mit der gebotenen Höflichkeit. Schreiber Zamor, der die Prozedere rund um den hohen Besuch schon kannte, zog sich mit einer Verbeugung zurück. Er war im Rang zu niedrig, als dass er die Regentin mit seiner Anwesenheit hätte beleidigen dürfen.

Nach etwas Smalltalk kam die Regentin ohne weitere Umschweife zur Sache. »Nun, sehr verehrter Arden, berichtet mir bitte kurz und bündig über die einschneidenden Ereignisse auf Terra. Wo waren wir bei meinem letzten Besuch stehen geblieben? Im terrestrischen Jahr 2025 nach Christus?«

»2023. Aber das nächste katastrophale Ereignis hat sich erst 2028 ereignet. Dazwischen gab es nur die üblichen politischen Rangeleien zwischen Ost und West und ein paar Terroranschläge, mit denen ich Euch jedoch nicht langweilen möchte.«

»Gut, das weiß ich zu schätzen. Und was geschah 2028?«

»Im südlichen Europa brach ein Supervulkan aus. Er verwüstete weite Teile Mittelitaliens, Tausende fanden bei dieser Eruption den Tod. Etliche Kubikkilometer Lava wurden aus der Magmakammer bis in die Stratosphäre geschleudert. In einem Umkreis von ungefähr zweihundertfünfzig Kilometern konnte durch Lavaströme und Pyroklastika nichts und niemand überleben. Dazu wurde feiner Staub um den gesamten Globus getragen, was einen sogenannten vulkanischen Winter auslöste.«

»Eine Klimakatastrophe?«

»Genau. Die Temperaturen sanken weltweit gleich um mehrere Grad. Pflanzen und Tiere starben, Ernten fielen aus, die Nahrung auf dem überbevölkerten Planeten wurde knapp. Allein dadurch reduzierte sich die Bevölkerung im ersten Jahr nach dem Ausbruch um rund fünfzehn Millionen Terraner.

Die Langzeitfolgen waren gleichwohl noch verheerender. Manche Menschen starben einen grauenvollen, elenden Tod, weil die feine Asche in die Lungen eindrang und sie mit der Zeit funktionsunfähig machte. Es kam zu einem Artensterben bei Säugetieren und fliegenden Insekten, wie zum Beispiel bei den Bienen. Diese ähneln übrigens unseren Sitargas, auch sie bestäuben die Pflanzen. Eine Reduzierung hätte hier ebenfalls katastrophale Folgen für die Landwirtschaft.

Es kam für Terra aber noch schlimmer. In den benachbarten Ländern Europas sowie den im Osten angrenzenden Gebieten brachen wegen den Missernten kriegerische Konflikte um die verbleibenden Ressourcen aus, bei denen zahllose Terraner getötet wurden. Innerhalb von zehn Jahren nach dem Vulkanausbruch hatte sich die Erdbevölkerung um fast zweieinhalb Milliarden reduziert.«

»Kleine Ursache, große Wirkung«, murmelte Alanna. »Der verdammte Vulkanismus wird uns leider auch auf dem Mars wieder in Atem halten, davor graut mir jetzt schon. Dennoch bin ich felsenfest der Ansicht, dass die Vorteile alle möglichen Nachteile überwiegen werden.«

»Darauf vertraue ich. Ihr seid für Eure Weitsicht bekannt«, schmeichelte Arden devot. Insgeheim hegte er völlig andere Ansichten, die er jedoch keinesfalls laut äußern durfte.

»Nun ja, wenigstens war Terra danach nicht mehr ganz so überbevölkert«, sinnierte die Regentin.

»Das ist zutreffend. Es gab bis 2070 übrigens noch weitere Naturereignisse. Die letzten Riffe starben ab, das Ökosystem in den Meeren veränderte sich. Man fing kaum noch Fische, die man hätte essen können. Das Meer färbte sich vielerorts blutrot, was an einer massenhaften Vermehrung von giftigen Blaualgen beziehungsweise Cyanobakterien lag. Ursache war eine Überdüngung mit Phosphat, in Verbindung mit der stetigen Klimaerwärmung, welche die Temperatur in den Gewässern exponentiell ansteigen ließ.«

»Da ist ja einiges zusammengekommen.«

»Richtig, aber das war längst noch nicht alles. Im Jahr 2093 wurde ein neu designtes Supervirus aus einem militärischen Hochsicherheitslabor im Westen der United States Of America gestohlen. Jemand hat den Erreger anschließend im Stausee Lake Mead freigesetzt, der die Wasserversorgung Südkaliforniens gewährleistet, unter anderem diejenige der Millionenstadt Las Vegas. Mit dem Wasser dieses Reservoirs werden überdies Felder in den Staaten Arizona und Nevada versorgt. Da sich das hoch ansteckende Virus nicht nur über Wasser und Nahrung sondern auch durch die Luft übertragen ließ, gab es unzählige Tote innerhalb kürzester Zeit.

Ich bin mit meiner Sichtung zwischenzeitlich beim Jahr 2101 nach Christus angekommen. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Infektionswelle seit einiger Zeit bereits überwunden gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatte man ein Gegenmittel entdeckt. Die Bevölkerung Terras betrug aber nur noch rund 4,5 Milliarden Seelen.«

»Und wer hatte dieses todbringende Virus in den See entlassen? Der alte Erzfeind Russland etwa?«, wollte die Regentin neugierig wissen.

»Das kann ich Euch nicht sagen. Bis Anfang des 22. Jahrhunderts hatte man es jedenfalls noch nicht herausgefunden. Es gab nur verschiedene Mutmaßungen und Schuldzuweisungen, die wiederum zu Spannungen führten.«

»Furchtbar«, seufzte Alanna. »Wenn ich daran denke, dass diese minderwertige Rasse ihre blutbesudelten Finger neuerdings ebenfalls nach dem Mars ausstreckt, ist mir nicht wohl zumute. Wir werden das angelandete Grüppchen dauerhaft unter unserer strengen Kontrolle halten müssen, sonst zerstören sie unseren Heimatplaneten – und unsere Kultur gleich mit.«

Arden stimmte ihr spontan zu, und dieses Mal meinte er es ernst. Auch er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Zusammenleben mit den Terranern auf Augenhöhe von Erfolg gekrönt sein konnte. Dafür hatte er bei seinen Recherchen zu viel Schlimmes gesehen, was auf deren Konto ging.

*

Kaum war Alanna vom Kurzbesuch bei Arden in den Regentenpalast zurückgekehrt, hielten sie die unguten Umwälzungen auf Tiberia wieder in Atem. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Gesuche um Verwendung in einer anderen als der bisher zugewiesenen Sektion.

Alanna gab es nur ungern zu, aber der alte Archivar Tirim hatte Recht behalten, als er eine solche Entwicklung zum Ende seiner Dienstzeit vorhergesagt hatte. Ihr schwacher, beeinflussbarer Ehegatte Kiloon hatte ja unbedingt zulassen müssen, dass der kleine Schreiber Zamor von Landwirtschaft und Versorgung zu Archiv, Geschichte und Schrift wechseln durfte.

Nun war der Unzufriedenheit Tür und Tor geöffnet, viele Tiberianer wollten sich dieselbe Freiheit herausnehmen. Und ausgerechnet ihr war seit ihrer Eheschließung mit dem Regenten die fragwürdige Ehre zuteil geworden, diese undankbaren Entscheidungen treffen zu müssen.

Genervt machte sich die Regentin daran, einen Antrag nach dem anderen abzulehnen. Nur so ließ sich die Flut nach und nach eindämmen. Das unbedarfte Volk, meist aus den Sektionen Landwirtschaft und Versorgung oder Transport und Verkehr würde mit der Zeit schon merken, dass sie nicht im Traum daran dachte, die althergebrachten Strukturen aufzuweichen. Jedenfalls nicht hier auf Tiberia.

Plötzlich schrak sie hoch. Lautes Stimmengewirr drang von draußen herein, irgendetwas aus Plantolaan splitterte mit einem hässlichen Knirschen. Wahrscheinlich ein Fenster.

Alanna sprang auf, eilte zum Ausgang und prallte im Portal ihres Arbeitsraums fast mit einem in Rot gekleideten Wachmann der Sektion Schutz und Verteidigung zusammen. Normalerweise waren die muskulösen Hünen die Ruhe selbst, doch dieser Wachmann wirkte geradezu aufgelöst.

»Wir müssen Euch sofort in Sicherheit bringen, Vorderste, da draußen tobt ein Mob«, stieß er hervor. Drei weitere Wachen erschienen, umringten Alannas Leib zum Schutz.

Die Regentin blickte zuerst ungläubig, dann wütend drein.

»Wie konnten diese Leute überhaupt bis zum Palast vordringen, habt ihr geschlafen? Ist wenigstens meine Tochter schon in Sicherheit? Ich möchte auf der Stelle mit Moros sprechen!«

»Alanna junior sitzt mit unserem Regenten bereits im Magnetzug. Wir müssen Euch nach Südosten zu der Sektion Wissenschaft und Technik im benachbarten Distrikt 2 bringen, dort herrscht noch Ruhe. Moros wird Euch am Bahnhof erwarten«, antwortete der Wachmann ausweichend. Seine aufmerksamen Frettchenaugen scannten stetig die Umgebung, das Cerepilum hielt er betriebsbereit im Anschlag.

Alanna stemmte entrüstet die Fäuste in die Hüften. »Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Über wie viele Distrikte haben sich die Tumulte mittlerweile ausgebreitet?«

»Soweit wir wissen, ist planetenweit gut ein Drittel betroffen. Also erstreckt sich die Revolte etwa auf um die hundert Distrikte, wobei sich jeweils nicht alle Sektionen in gleichem Maße an den gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen, manche auch gar nicht. Generell lässt sich feststellen: Je höher der Bildungsstand, desto weniger Interesse besteht an der Revolte. Dennoch, die Lage ist sehr ernst, Regentin. Ihr solltet die Macht der Massen besser nicht unterschätzen und sofort mit mir kommen.«

»Keinesfalls! Ich werde hierbleiben. Es wäre ja noch schöner wenn ich zuließe, dass diese Vandalen meinen schönen Palast verwüsten. Schafft mir gefälligst den Vordersten Moros hierher und sorgt dafür, dass der Magnetzug mit meiner Familie endlich abfährt! Sagt Kiloon, ich würde später nachkommen. Aber erst, wenn die brenzlige Situation hier bereinigt ist.«

Der Wachmann zögerte einen Moment, weil er von seinem Vordersten eigentlich anders lautende Befehle erhalten hatte. Dann besann er sich der Hierarchie, deutete eine Verbeugung an und griff zu seinem Kommunikator. »Wie Ihr wünscht, Regentin.«

Mit ihrem weißen Gewand, den funkelnden blauen Augen und dem wallenden langen Blondhaar, das wie ein seidiger Schleier hinter ihr her wehte, glich Alanna einem Racheengel. Sie marschierte im Stechschritt geradewegs in die Richtung, aus der die Geräusche der Zerstörung an ihr Ohr drangen. Wachmann Zandro 208/13.4.0.1.19 forderte nervös Verstärkung an. Sie mussten die Regentin um jeden Preis schützen. Das Schicksal Tiberias lag allein in ihren Händen. Insgeheim bewunderte er diese mutige, draufgängerische Frau.

Vor dem Palastkomplex wurden Sprechchöre laut. »Schluss mit der Gleichmacherei. Wir wollen persönliche Freiheit, wir wollen Familie!«, skandierten die Aufständischen frenetisch, während sie die Palastfassade demontierten.

»Ich werde eine Ansprache halten. Die war zwar erst später geplant, aber sei es drum«, entschied Alanna selbstbewusst, während rund zwanzig Wachleute auf sie zutrabten, höflich die signalroten Helme abnahmen.

Der Vorderste Moros erschien als letzter. Sie erkannte ihn schon von weitem an seinem kastenförmigen Oberkörper und der Halbglatze, die stets etwas schweißfeucht glänzte. »Eure gesamte Familie ist auf dem Weg zu Eurer alten Wirkungsstätte. Ihr hättet mitfahren sollen«, merkte er vorwurfsvoll an.

»Papperlapapp. Ich werde auf der Treppe vor dem Haupteingang eine Rede halten, sofern diese noch nicht beschädigt ist. Überprüft das, sichert diesen Bereich weiträumig und holt mich ab. Ich warte solange im Atrium. Sofern sich jemand der Räumung verweigert, hat er sein Leben verwirkt. Wir werden ausnahmsweise Recht vor Gnade ergehen lassen.«

»Ihr wollt da hinaus, mitten ins unüberschaubare Getümmel? Vollkommen unmöglich, da könnte ich für Eure Sicherheit keineswegs garantieren. Zeichnet die Rede lieber auf und wir strahlen sie über einen Holographen aus. Das Unterfangen ist auch so noch gefährlich genug. Falls es dem Mob gelingen sollte, die Reihen meiner Leute zu durchbrechen, wärt Ihr sogar hier drin in höchster Gefahr! Wurfgeschosse könnten Euch treffen, und außerdem … «

Alanna unterbrach ihn ungeduldig. »Ich wollte hier keine Diskussion Für und Wider anstoßen, sondern habe Euch einen klaren Befehl erteilt. Werdet Ihr ihn buchstabengetreu ausführen oder muss ich Euch ersetzen und wegen schwerwiegender Befehlsverweigerung zur Jagd freigeben? Die versammelte Lynchjustiz da draußen würde sich bestimmt freuen.«

Moros wurde blass, setzte sich gehorsam in Bewegung. Er bedeutete ein paar Wachleuten, mit ihm zu kommen.

Man konnte im Inneren des Palasts anhand der Geräuschkulisse verfolgen, wann er damit begann, den Treppenbereich von den Aufständischen zu räumen. Wütende Rufe, Krachund Splittergeräusche nahmen zu. Ab und an durchbrachen gellende Schmerzensschreie diese Kakophonie.

Moros‘ Männer griffen also endlich durch, machten von der gefürchteten Mikrowellenfunktion der Cerepilums Gebrauch. Diese hocheffektiven Tötungswaffen brachten die Körperflüssigkeiten eines Angreifers binnen eines Wimpernschlags zum Kochen, eine Chance zur Gegenwehr bestand somit nicht. Die Opfer krepierten unter fürchterlichen Schmerzen.

Unter dem Eindruck dieses verstörenden Anblicks stehend, zogen sich die gewaltbereiten Demonstranten vom Palastgelände zurück. Die Bewohner Tiberias waren es nicht gewohnt, dass die Dynastie mit einer solchen Härte gegen die eigene Bevölkerung vorging. Ohne ordentlich erwirkte Jagdfreigabe wurde sonst niemand körperlich angetastet.

›Zum Glück ist dieser zimperliche Feigling Kiloon beizeiten vom Ort des Geschehens getürmt. Mein werter Gatte würde niemals zulassen, dass seinen Untertanen ein Haar gekrümmt wird. Der hätte sich eher abschlachten lassen‹, dachte Alanna befriedigt.

Moros kehrte im militärischen Laufschritt zurück, flankiert von drei Wachleuten. »Ihr könnt jetzt loslegen, die Lage ist halbwegs unter Kontrolle. Wir eskortieren Euch zum Haupteingang. Zwei Techniker installieren die Übertragungstechnik, sie sind gleich fertig. Ihr müsst nur noch kurz Bescheid geben, ob Eure Rede planetenweit ausgestrahlt werden soll.«

»Aber selbstverständlich, bis in den hintersten Winkel. Meine ›lieben‹ Untertanen müssen doch wissen, woran sie sind.«

Moros bedeutete seiner Regentin, einige Schritte hinter dem Portal stehen zu bleiben. Umringt von Moros und seinen Getreuen trat sie anschließend selbstbewusst ins Freie, wo das zornige Geschrei der Menge augenblicklich verstummte. Offenbar hatte niemand damit gerechnet, dass es ein Mitglied der Regentenfamilie wagen könnte, sich zu zeigen.

Die Regentin sah sich kurz um, Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Große Teile der glänzend weißen Palastfassade wiesen Löcher auf, die Plantolaanfenster waren mit Kratzern und Bruchstellen verunziert. So viel sinnlose Zerstörung … nur gut, dass die Tage ihres Aufenthalts hier gezählt waren. Sie straffte den Rücken und gab den Technikern ein Zeichen. Ein Signal wurde freigesetzt, und die Kommunikatoren, die jeder Bewohner Tiberias um den Hals trug, sprangen an. Sie zeigten die Übertragung dreidimensional.

»Normalerweise beginne ich meine Rede stets mit den Worten: ›Verehrte Tiberianer‹ – doch heute werde ich mir diese Ehrbezeugung sparen, denn ihr habt meinen Respekt durch eure Schandtaten verwirkt«, schallte Alannas helle Stimme über den Platz. Erste Zwischenrufe wurden laut.

»Wie ihr inzwischen gemerkt habt, werden wir gegen Störer und jede Form der Gewalt mit unerbittlicher Härte vorgehen. Darüber beschweren braucht ihr euch nicht, denn ihr wart es, die sich über das geltende Recht hinweg gesetzt und es damit außer Kraft gestellt habt. Nun müsst ihr mit den Folgen leben. Wem sein Leben lieb ist, der sollte sich besser zurückhalten.«

Alanna zeigte vielsagend auf eine übel zugerichtete Leiche, die zusammengekrümmt am Fuß der Treppe lag, damit alle Tiberianer deren durch die Hitzeeinwirkung der Mikrowellen aufgeplatzten Wunden in Großaufnahme zu sehen bekamen. Ein entsetztes Stöhnen ging durch die Menge. Es stank nach gegrilltem Menschenfleisch.

»Die Regenten Tiberias lieben ihre Untertanen, obwohl sie momentan schwere Fehler begehen und sich auflehnen«, fuhr sie in weicherem Tonfall fort. »Wenn ihr den unsinnigen Aufstand beendet, könnten wir über euren Ungehorsam hinwegsehen, und niemand muss mehr zu Schaden kommen. Es gibt übrigens sehr gute Gründe, den leidigen Konflikt beizulegen. Wenn ich erst unsere Zukunftspläne erläutert habe, werdet ihr euch für den Vandalismus schämen.«

Jetzt besaß sie die volle Aufmerksamkeit. Es war so mucksmäuschenstill, dass man eine Stecknadel zu Boden fallen hören hätte können.

Auch Kiloon, der sich mittlerweile am sicheren Zielort befand, lauschte der Übertragung. Was die Regentin im Folgenden bekannt gab, ließ ihm den kalten Schweiß ausbrechen.

*

Zwei KIN später kehrte die Regentenfamilie einschließlich Kiloon und Alanna junior in den Palast zurück. Es wäre viel zu früh gewesen, von Entwarnung zu sprechen, aber die Tumulte waren an den meisten Orten halbwegs zum Erliegen gekommen. In einigen Distrikten streikten die Arbeiter von Landwirtschaft und Versorgung noch, so dass es zu Engpässen bei der Lieferung von Lebensmitteln kam, aber die Lagerhallen waren glücklicherweise gut gefüllt. Niemand musste vorerst Not leiden.

Kiloon sah sich genötigt, seine selbstherrliche Gattin sofort auf ihre ungeheuerlichen Äußerungen anzusprechen. Er traf sie an ihrem Schreibtisch an, wo sie gemeinhin die Nachmittagsstunden verbrachte. Ohne Umschweife kam er zur Sache.

»Was hast du dir dabei gedacht, der Bevölkerung ohne vorherige Rücksprache mit mir einen solchen Humbug zu erzählen, nur um die Gemüter zu beruhigen?«

Alanna lehnte sich zurück, fuhr sich mit einer aufreizenden Geste durchs lange Haar. Aufreizend vor allem deshalb, weil sie bedächtige Ruhe ausstrahlte, während Kiloon gierig auf eine Antwort wartete. Er gedachte seine lang aufgestaute Wut loszuwerden, und dieses skrupellose Weib tat, als wäre nichts geschehen.

»Ja ich freue mich auch, dich wohlbehalten wiederzusehen«, behauptete sie, scheinbar heiter gestimmt. »Und entschuldige bitte vielmals, dass ich innerhalb kürzester Zeit den Planeten befriedet und unsere nackten Leben gerettet habe, während du den Schwanz eingeklemmt und die Flucht ergriffen hast. Wo warst du denn, als ich dich dringend hier gebraucht hätte?«

Sie lächelte immer noch, wenn auch nur mit dem Mund. Die Augen fixierten ihr Gegenüber knallhart.

»Das ist wieder typisch! Ich habe unsere Tochter in Sicherheit gebracht, falls dir das entgangen ist. Das gab dir jedoch nicht das Recht, Entscheidungen von solcher Tragweite zu fällen und diese nach außen zu kommunizieren. Und Menschen ohne Jagdfreigabe töten zu lassen, das ist barbarisch!«

»Ach ja? Ich musste improvisieren, ein Exempel statuieren! Wäre es dir denn lieber gewesen, ich hätte gar nichts unter nommen, wäre dem Mob zum Opfer gefallen und hätte Tiberia dem sicheren Untergang überlassen?«, bemerkte sie spitz.

»Das natürlich nicht! Aber ein wenig mehr Besonnenheit … was glaubst du, was los sein wird, wenn die Leute merken, dass du sie nur beschwichtigt hast und in Wirklichkeit deine Versprechen, die du bedauerlicherweise in unser beider Namen abgegeben hast, nicht einhalten kannst?«

»Wer sagt denn, dass ich das nicht kann oder will! Selbstverständlich wird alles so umgesetzt. Anstatt erst wie geplant 13.5.18.17.4 mit dem Siedlungsbau auf dem Mars zu beginnen, werden wir ab sofort damit anfangen und die Bevölkerung sukzessive dorthin transferieren. Wir wissen ja, in welchen Distrikten die größten Unruhestifter sitzen. Die werden zuerst hier verschwinden, damit Ruhe einkehrt. Wir schlagen somit zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Ich meinte nicht das Siedlungsprojekt, obwohl auch da Eile keineswegs angebracht wäre! Wir wollten aus gutem Grund abwarten, inwieweit die Terraner sich auf unserem Heimatplaneten etablieren und rechtzeitig Verhandlungen mit ihnen aufnehmen. Mir liegt viel an einem friedlichen Zusammenleben. An diese Vorgehensweise fühlst du dich offenbar nicht mehr gebunden, wahrscheinlich weil der Vorschlag von mir gekommen war. Manchmal denke ich, du gehst grundsätzlich in Opposition.

Noch schlimmer finde ich dein vollmundiges Versprechen, wir würden auf dem Mars von Beginn an ein kapitalistisches System mit freier Berufswahl einführen und Familienverbände zulassen. Willst du allen Ernstes riskieren, dass unser Volk zum zweiten Mal den gesamten Planeten ruiniert? Man sieht doch auch auf Terra, wohin das führt!«

Alanna winkte ab. »Wir werden uns hüten, das Volk mitbestimmen zu lassen. Unsere Dynastie wird klare Regeln vorgeben. Wer sich weigert zu kooperieren, wird nichts mehr verdienen. Wir ziehen einfach zur Strafe das komplette Vermögen der notorischen Querdenker ein. Glaube mir … sobald es den Leuten ans Geld geht, tun sie alles, um es nicht zu verlieren. Es ist wie eine Droge, die man zwingend zum Überleben braucht. Sie macht verdammt schnell süchtig.

Und was die paar Terraner angeht … sie werden sich alledem fügen, sich am unteren Rand unserer Gesellschaft integrieren – oder wieder gehen müssen. Keiner hat sie je eingeladen, sich auf unserem Territorium niederzulassen.«

»Du willst auf dem Mars zur allein herrschenden Tyrannin mutieren und mich geflissentlich übergehen, ja?«, schrie Kiloon. Er war außer sich.

Seine Ehefrau sah ihn missbilligend an und eilte hastig zur Schwebetür, die sich soeben mit einem leisen Zischen geöffnet hatte. Da stand ihre gemeinsame Tochter. Sie wirkte wegen des lautstark geführten Disputs ein bisschen verängstigt. Alanna nahm sie schützend in den Arm.

Ein böser und zugleich triumphierender Blick aus weit aufgerissenen Augen traf den Regenten. »Da siehst du, was du mit deiner cholerischen Art angerichtet hast! Was ich unternehme, wird letzten Endes ihr zugutekommen. Sie wird uns dereinst beerben, Kiloon. Und ich sorge nach Kräften dafür, dass es da noch etwas zu erben gibt! Du mit deiner defensiven, allzu duldsamen Art würdest schon jetzt alles den Bach hinunter gehen lassen.«

Und wieder hatte die eiskalte Schlange ein verbales Duell gewonnen. Zudem gab der Erfolg ihr Recht. Kiloon resignierte und schlich wie ein geprügelter Hund von dannen.

Operation Terra 2.0

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