Читать книгу Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - Страница 32
ОглавлениеMars, 16. Mai 2119 nach Christus, Dienstag
Die lange, strapaziöse Reise neigte sich ihrem Ende zu. Der sowohl mit chemischen Brennstoffen als auch mit Ionenantrieb sowie zwei zusätzlichen Sonnensegeln ausgestattete Raumfrachter New Horizons 8 setzte nach einer Flugzeit von viereinhalb Monaten sanft auf der Marsoberfläche auf. Von den insgesamt zehn baugleichen Passagierfrachtern waren vier bereits in den Tagen zuvor angekommen, der Rest noch in den Weiten des Weltalls unterwegs.
Der Passagierfrachter hatte die riesige Distanz zwischen den Planeten auf einer sogenannten Hohmannbahn zurückgelegt, einem energetisch günstigen Übergang zwischen zwei Bahnen um einen dominierenden Himmelskörper wie der Erde. Den guten, alten Mond hatte man für ein SwingByManöver benutzt, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Swetlana und Philipp Emmerson kramten die wenigen persönlichen Gegenstände, die sie von der Erde hatten mitbringen dürfen, aus der verschließbaren Schublade unter ihrer Doppelkoje und machten sich zum Ausstieg bereit. Sie waren angewiesen worden, paarweise zur Luke zu gehen und dort auf weitere Instruktionen zu warten.
Das heitere Szenario, wie die Paare Händchen haltend aus den Kabinen traten und, fröhlich plaudernd, in Zweierreihen den Flur entlang marschierten, erinnerte ein wenig an einen Kindergartenausflug, was Swetlana scherzhaft anmerkte.
»Oder an die Arche Noah«, lachte Philipp ergänzend. Beide platzten schier vor Aufregung, und genauso erging es auch den anderen Passagieren. Gespannte Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Sie alle begannen hier nicht nur ein neues Leben, sondern schrieben auch Menschheitsgeschichte – als allererste Siedler, die dauerhaft auf dem Mars leben und arbeiten sollten. Aus Theorie wurde nun Praxis, ein himmelweiter Unterschied.
Das Ehepaar Emmerson gehörte zu den Ältesten. Die meisten Umsiedler waren zwischen dreiundzwanzig und dreißig Jahren alt, also im gebärfähigen Alter. Da Swetlana jedoch kerngesund war und bislang noch keine Kinder geboren hatte, sollte sie die Chance bekommen. Das Los hatte am Ende zu ihren Gunsten entschieden.
»In wenigen Augenblicken ist es so weit und wir werden die Ausstiegsluke öffnen. Ab sofort wird jeder Ihrer Schritte für die Daheimgebliebenen mitgeschnitten. Ich darf Sie also bitten, sich so zu verhalten, wie es für eine Zeitzeugendokumentation angemessen ist. Wir gehen geordnet zu den Rovern, in die jeweils vier Personen einsteigen können, und bringen Sie auf dem schnellsten Wege nach und nach zu Ihren Quartieren«, befahl die Stimme aus dem Lautsprecher.
»Bitte wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen das Atmen nach dem Ausstieg ein wenig schwer fällt. Die Lungen müssen sich erst an die veränderten Druckverhältnisse und die leicht abweichende Zusammensetzung der Atemluft gewöhnen. Atmen Sie einfach ruhig weiter und hyperventilieren Sie nicht. Über die ersten Tage werden Sie sich müde, schwindelig und kraftlos fühlen. Gehen Sie zunächst lieber tagsüber nicht ins Freie. Auch Ihre sonnenentwöhnte Haut braucht einige Zeit, sich an die marsianische Lichteinstrahlung anzupassen. Machen Sie sich keine Sorgen, der menschliche Körper ist anpassungsfähig. Die Adaption wird schnell vonstattengehen.
Wie Sie alle bereits wissen, beträgt der Sol, also der Marstag, 39 Minuten und 35,244 Sekunden mehr als der irdische Tag. Es ist daher gut möglich, dass Ihnen Ihre innere Uhr ein wenig verstellt vorkommen wird. Um diesem Phänomen Herr zu werden, sind in allen Häusern klassische irdische Uhren installiert, die einfach etwas langsamer laufen, um die Zeitdifferenz auszugleichen. So fühlen Sie sich wie zu Hause. Es ist wichtig, dass Sie die Pflichtveranstaltungen pünktlich besuchen. Dazu werden Sie rechtzeitig Informationen erhalten.«
»Ein bunter Katalog an Verhaltensregeln – hoffentlich geht das nicht so weiter«, murmelte Philipp augenrollend.
Die Versiegelung der Luke wurde mithilfe von Druckluft geöffnet. Im Zeitlupentempo senkte sich eine mit rutschfesten Noppen überzogene Rampe zu Boden. Jeder der zuvorderst stehenden Passagiere versuchte angestrengt, über die Schulter seines Vordermanns hinweg, einen schnellen Blick auf die Marsoberfläche zu erhaschen. Man sah auf dem Landeplatz oxidroten Sand und ein paar Steine, sonst nichts.
Die schneeweiße Siedlung in Modulbauweise lag etwa drei Kilometer entfernt. Man hatte die fünfhundert Häuser für tausend Bewohner nach langem Hin und Her am Ufer eines uralten Flussbettes in der Aram Dorsum-Region erbaut, das sich dank der Regenfälle aktuell wieder mit Wasser füllte. Die Häuschen hoben sich in starkem Kontrast von der überwiegend rotbraunen Landschaft ab, doch waren rund um die Häuser sattgrüne Pflanzeninseln erkennbar. Auch am Flussufer zeigte sich zartes Grün.
»Da liegt sie, unsere neue Heimat. Sieht sie nicht wunderschön aus? Und schau mal, die riesengroßen Gewächshäuser. Alle schön in Reih und Glied aufgestellt«, schwärmte Swetlana ergriffen.
»Nun ja … ein bisschen karg und auf dem Reißbrett entworfen, aber besser als unsere alte Behausung«, relativierte Philipp, dessen Atemfähigkeit deutlich eingeschränkt schien. Er röchelte leicht beim Luftholen.
Der geländegängige Marsrover rumpelte hart über unebenes Gelände, fuhr durch ein Tor und hielt im Herzen der Siedlung. Eine in Kreisform errichtete Ansammlung von Gebäuden kam in Sicht. Der Fahrer drehte sich um und erklärte:
»An diesem zentralen Platz finden Sie sämtliche Gemeinschaftsgebäude, die für Versammlung, Freizeitspaß und Verwaltung vorgesehen sind. Dort drüben ist die Krankenstation. Alle Straßen gehen von hier ab, Sie können diesen Ort also nicht verfehlen. Bitte steigen Sie jetzt aus und folgen Sie der blauen Markierung in den flachen Bau links, dort werden die Wohneinheiten verwaltet. Man wird Ihnen Ihr Haus zuweisen.«
Die Emmersons leisteten der Aufforderung Folge, trabten den anderen Siedlerpaaren hinterher. Und schon schnurrte das solarbetriebene Elektrofahrzeug davon, um die nächsten Einwohner abzuholen.
Die Bürokratie im Office glich derjenigen auf der Erde, wie sie seit hunderten von Jahren nahezu unverändert funktionierte. Man musste Nummern aus einem Automaten ziehen, um irgendwann an die Reihe zu kommen. Schließlich wurde Swetlana und Philipp das Haus Nummer 144 am westlichen Rand der Siedlung zugewiesen, die man auf den Namen Phönix 1 getauft hatte.
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg. Alle Häuschen sahen gleich aus, in den kleinen Gärten zur Selbstversorgung standen exakt die gleichen Nutzpflanzen zur Verfügung. Kohlrabi, Möhren, Zucchini, Tomatenpflanzen und einen Obstbaum konnte Swetlana von weitem erkennen. Eine Bewässerungsanlage berieselte die grüne Pracht gleichmäßig.
»150, 148, 146 … dort, das hier muss Unseres sein!«, keuchte Swetlana, der der kurze Fußmarsch körperlich zugesetzt hatte. »Hier sind überall deutsche Fahnen an den Zäunen angebracht. Geht die Zuteilung nach Nationalitäten, oder was?«
Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die verantwortlichen Planer der Urbanisation hatten der Tatsache Rechnung getragen, dass sich Menschen gleicher Sprache und Herkunft stets zusammenzurotten pflegen. Auf der Erde konnte man diesen Effekt bei Migranten quer durch alle Länder beobachten. Man hoffte darauf, dass auf diese Weise schnell Freundschaften und Arbeitsgemeinschaften zustande kommen könnten, denn ohne sozialen Zusammenhalt würde das Leben im Exil für Manche zur Hölle werden.
Sie durchquerten den Vorgarten ihrer neuen Behausung. Philipp hielt seinen rechten Daumen auf das Identifikationsfeld neben der Schiebetür aus Aluminium, die augenblicklich zur Seite glitt. Neugierig lugten er und seine Frau ins Innere des quadratischen Hauses.
Weißer Kunststoff, soweit das Auge reichte. Das gesamte Gebäude, einschließlich des mit leistungsfähigen Solarkollektoren verkleideten Daches, schien aus einem Guss gefertigt worden zu sein. Das galt auch für die wichtigsten Möbel.
Schränke, Esstisch, Küchenzeile – alles war fest eingebaut, verschmolz nahtlos mit den Wänden und dem Fußboden. Das Doppelbett im Elternschlafzimmer hatte man in eine Mulde des Bodens eingelassen.
Neben jeder Tür gab es ein Glasfeld in Regenbogenfarben. Philipp wischte vorsichtig mit der flachen Hand über eines davon. Das Pad reagierte, summte leise. Gedimmtes, indirektes Licht schaltete sich ein. Je nachdem, auf welchem Teilbereich des Feldes man sich mit den Fingern befand, erstrahlten die Plastikmodule in unterschiedlichsten Pastellfarben. Man hatte diese Technik einst von der Versammlungshalle in der CydoniaRegion abgeschaut. Mit einer Innovation: Die Helligkeit des Lichtspektakels ließ sich über den jeweiligen Fingerabstand vom Pad steuern.
»Klasse Idee! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass uns das sterile Weiß bald in den Wahnsinn treiben könnte«, freute sich Philipp und spielte ein wenig mit dem Pad. Er entschied sich im Wohnzimmer für einen warmen Orangeton, der bestens mit den hellgrauen Auflagen der Couchlandschaft harmonierte.
»Auf der Erde hätten wir uns eine solche Spielerei niemals leisten können. Hier hingegen gehört sie offensichtlich zum Standard«, stellte er begeistert fest.
Das Badezimmer konnte durchaus als spektakulär bezeichnet werden. Der türkisblaue Kunststoff war hier mit glitzernden, sandfarbenen Körnchen durchsetzt, die dezent vor sich hin funkelten und den Raum größer erscheinen ließen. Der Anblick erinnerte angenehm ans Meer. An der Zimmerdecke strahlte eine stilisierte Sonne gelbliches Licht ab, während die Beleuchtung von Badewanne und Boden in sanften Wellen bläulich pulsierte. Die Optik suggerierte Bewegung, als befände man sich mit den Füßen im seichten Wasser eines Strandes.
Erfreut stellte Swetlana bei ihrem weiteren Rundgang fest, dass man bereits für zwei Kinder vorgesorgt hatte. Es gab ein relativ großes Zimmer, in dem zwei Betten frei schwingend von der Decke hingen, die sich rundum mit Plexiglas gegen Herausfallen absichern ließen. Man erreichte sie bequem über eine kunterbunte, elektrisch betriebene Aufzugkapsel an der Wand. Mehrfach probierte die künftige Mutter aus, wie man die Betten mittels einer Fernbedienung an die Kapsel andockte, so dass Kinder gefahrlos in ihre hängenden Betten umsteigen konnten. Dank dieser intelligenten Lösung blieb am Boden genügend Platz zum Spielen und Toben.
»Dann kann der erste kleine Marsmensch ja bald kommen«. Swetlana schmiegte sich glücklich in Philipps Arme.
*
Schon am folgenden Tag mussten die Emmersons feststellen, wie festgefügt und überreguliert in der Marsexklave Phönix 1 der Tagesablauf war. Es gab Schulungen in Gartenbau und Haushaltsführung, dazu einen Kurs mit albernen Rollenspielen über Konfliktbewältigung, Kommunikation und den allgemeinen zwischenmenschlichen Umgang; Teilnahme war Pflicht. Man musste feste Tageszeiten für die Gartenarbeit einhalten und durfte seine Behausung ansonsten nur nachts verlassen. Dabei hatten die Leute jedoch innerhalb des mit einer zwei Meter fünfzig hohen Mauer befriedeten Siedlungsgebietes zu bleiben.
Das Freizeitangebot umfasste ein 5D-Kino, ein hochmodernes Schwimmbad und diverse Tanzveranstaltungen, die jedoch nicht täglich stattfanden. Die Organisation wirkte reichlich chaotisch, hatte sich noch nicht eingependelt.
»Freiheit habe ich mir ein wenig anders vorgestellt«, lamentierte Philipp nach zwei Wochen Stubenhockerei. »Ich möchte gerne die umliegende Gegend erkunden und meinen Tagesablauf selber bestimmen. Die können uns doch nicht ewig an der kurzen Leine halten! Wenn das so weiter geht, bekomme ich einen Lagerkoller.«
Am Ende der dritten Woche suchte er die Verwaltung auf, um nach Sondererlaubnissen zu fragen. Mittlerweile fehlten nur noch zwei Raumfrachter, also insgesamt zweihundert Personen. Da hätte es nach seiner Ansicht doch möglich sein sollen, allmählich so etwas wie Alltagsnormalität in der Siedlung aufkommen zu lassen.
Aber weit gefehlt. Die unattraktive Dame im Verwaltungsbüro erklärte ihm, dass auf der Erde noch Verhandlungen im Gange seien, wie eventuell anwesenden Außerirdischen zu begegnen wäre. Es gebe Hinweise darauf, dass sich weitere, nicht von der Erde stammende Marsianer auf dem Planeten aufhielten. Bis das vollends geklärt sei, solle man sich ruhig und unauffällig verhalten und die Urbanisation aus Sicherheitsgründen keinesfalls verlassen.
»Das kann lange dauern«, seufzte die dürre Brünette mit dem Nasenhöcker. »Sobald mehrere Nationalitäten an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, ist eine Einigung schwer zu erzielen. Soll man sich den Fremden zu erkennen geben, wie soll man zu kommunizieren versuchen, könnten die Anderen uns womöglich feindlich gesinnt sein, wie verteidigen wir im Ernstfall unser Territorium … über solche und andere Dinge redet man sich die Köpfe heiß.
Momentan liegen die USA mit den Osteuropäern im Clinch. In nächster Zeit besteht wohl keine Chance auf eine einheitliche Gangart, tut mir leid. Ich muss Sie also bitten, sich strikt an die bestehenden Regeln zu halten.«
»Super! Und ich habe geglaubt, es gäbe hier die Möglichkeit zu einem echten Neubeginn. Dabei ist alles beim Alten. Wir haben gleich die unangenehmsten Kulturgüter der Erde hier installiert, wie es scheint«, schimpfte Philipp. Er war desillusioniert und musste sich eingestehen, dass er und seine Frau wildromantischen Vorstellungen über ein schönes Leben auf dem Mars aufgesessen waren, die mit der Realität wenig gemein hatten.
»Schlimmer noch«, erwiderte die dürre Krähe sarkastisch.
»Wir hängen trotz der riesigen Entfernung an stählernen Marionettenfäden. Hätte ich das vor meiner Bewerbung geahnt, würde ich jetzt bestimmt nicht hier auf dem Mars sitzen und meinen Mitmenschen unfreiwillig auf die Nerven gehen. Ich hatte es früher so bequem auf meinem Verwaltungsposten im Europäischen Parlament.«