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Selbsterkenntnis

Selbsterkenntnis ist für spirituelle Sucher ein hoher Wert, doch im Allgemeinen fehlt uns leider der Abstand zu unseren Themen. Wir kleben gewissermaßen mit der Nase daran und bemerken deshalb nicht, wie unsere Konditionierungen und die im Umfeld herrschenden Meinungen uns eine ganz bestimmte Sichtweise aufdrängen, die möglicherweise wenig mit der Realität zu tun hat.

Das I Ging stellt unsere Frage dagegen oft in einen radikal anderen, übergeordneten Kontext. Es zeigt uns, wie die aktuelle Situation sich zum Hintergrund des Tao und der kosmischen Ordnung verhält. So hilft es uns, schwierige Situationen zu durchschauen und neue Perspektiven zu finden.

Die Welt als Spiegel

Im Alltag leben wir nach den Gesetzen dieser Welt und dieser Gesellschaft. Wir haben uns aus unseren subjektiven Erfahrungen ein persönliches Modell von der Welt konstruiert, und glauben deshalb, sie zu kennen. Diese Vorannahmen werden zu Erwartungen, die sich selbst bestätigen. So gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass wir von unserer Umwelt, den Menschen, den Ereignissen getrennt sind und uns deshalb immer wieder mühsam mit „fremden“ äußeren Umständen herumschlagen müssen.

Wenn wir nun dem I Ging Zugang zu unserer Welt verschaffen, geschieht etwas Merkwürdiges: Stück für Stück, Überzeugung um Überzeugung wird dieses Weltbild hinterfragt und langfristig aufgelöst. Das I Ging lehrt uns nämlich mit äußerster Beharrlichkeit, dass unsere Umstände sehr wohl etwas mit uns zu tun haben, dass das, was wir in der Außenwelt erleben, ein getreues Spiegelbild unserer Innenwelt ist.

Diese Lektion beginnt schon auf der semantischen Ebene des Urtextes, der keine Pronomen kennt. Das ist weit mehr als eine zu vernachlässigende Eigentümlichkeit der chinesischen Sprache, darin liegt eine tiefe, wenn auch verunsichernde Weisheit: Jeder Orakelspruch kann sich sowohl auf uns als Fragesteller beziehen, wie auch auf Personen, mit denen wir zu tun haben, und auch auf die Situation, in der wir uns befinden. Genau besehen, spielt es gar keine Rolle, wer da genau gemeint ist, denn all das gehört zu unserer Welt, die nur widerspiegelt, was in unserem Unbewussten vorgeht. Alles, was wir im Kontakt mit der Umwelt erleben, ist letztlich eine Projektion unserer inneren Prozesse.

Wenn in einer Orakelantwort etwa von einem „Gemeinen“ die Rede ist, fühlen wir uns oft erst einmal bestätigt: „Ja genau, das ist dieser widerliche Mistkerl, der mir das Leben schwer macht“… In anderen Momenten spüren wir sofort, dass wir selbst angesprochen sind – dass es um unser eigenes kleines Ich, unser Ego geht. Und je tiefer wir tiefer forschen, desto mehr wird uns klar, dass in der allerletzten Konsequenz kein Unterschied zwischen innen und außen besteht.

Für viele wird diese Idee nicht ganz neu sein – wir finden sie wieder im sogenannten Resonanzgesetz, das besagt, dass wir all das schicksalhaft anziehen, was wir selbst in uns tragen. Das tiefgründige spirituelle Werk „Ein Kurs in Wundern“ vertieft diesen Gedanken weiter. Es vergleicht unsere Welt mit einem Traum, der immer wieder zum Albtraum wird. Im Traum sind wir gleichermaßen Regisseur, wie Hauptdarsteller, und auch die Kulissen, das Wetter, die anderen Akteure - alle sind unser Werk. Doch gerade wenn wir „schlecht träumen“, ist das schwer zu akzeptieren – denn wie kann es sein, dass wir uns das alles selbst antun? Wir sind uns nicht bewusst, dass wir selbst etwas dazutun, geschweige denn, warum – und das gilt ebenso für unsere nächtlichen Träume wie für den Traum unseres Lebens, den wir am helllichten Tag träumen.

Auch in der Psychologie gibt es eine Schule - den von Paul Watzlawick begründeten Konstruktivismus - die sich damit befasst, dass die Wirklichkeit keine objektive Größe ist, sondern ganz und gar von unseren persönlichen Filterungen und Interpretationen abhängt. Unser Gehirn konstruiert die Welt mehr, als dass es uns ein zuverlässiges Abbild davon liefert. Scheinbar faktische Erfahrungen sind die kreative Leistung unseres Geistes! Im Fazit ist alles, was wir wahrnehmen und denken, gelernt und beruht auf unserer Biographie – wir sind dadurch im Grunde programmiert wie ein Computer.

Das heißt im Klartext: Es gibt also gar keine objektiv-rationale Sicht von mir selbst und der Außenwelt! So wie ich wahrnehme, interpretiere ich die Welt und so wie ich die Welt deute, nehme ich sie wahr… Solange wir diese Zusammenhänge nicht erkennen, bleiben wir in unserem Programm gefangen und halten es noch für die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass wir strampeln und strampeln und doch nicht viel zuwege bringen.

Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir uns das zugrundeliegende Programm anschauen, statt hilflos vorne am Bildschirm herumzukratzen. Wir müssen erkennen, dass wir selbst unsere Welt projizieren. Wir sind das Drama im Film unseres Lebens, wir sind die Zuschauer und wir sind die Projektoren. Wir erleiden den Film, den wir selbst gedreht haben. Wir sind die Schöpfer unserer Welt und damit verantwortlich für alles, was darin vorgeht (doch Achtung, es wäre fatal hier Verantwortung mit Schuld zu verwechseln!).

Diese Sichtweise ist radikal und nimmt uns all unsere Ausreden und Rechtfertigungen. Wir können uns nicht mehr in die Opferrolle flüchten, sondern werden glasklar mit uns selbst konfrontiert – doch nicht, um uns klein zu machen, sondern um uns von unserer unbewussten Destruktivität zu befreien! Das I Ging lässt uns die vielen Muster unseres unrealistischen Selbst- und Weltkonzepts erkennen. Es räumt auf mit Wahnbildern, geistigen Verirrungen und Selbsttäuschungen, es löst unsere Ängste und Borniertheiten. Indem es uns anleitet, liebevoll unserem Herzen zu folgen, setzt es uns wieder ins richtige Verhältnis zur Welt.

Selbstentwicklung

Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem I Ging hilft uns, tiefere Zusammenhänge zu verstehen, die unserer Beobachtung sonst entgangen wären. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit wird geschult, während all unsere Urteile und Bewertungen einer strengen Prüfung unterzogen werden.

Wie bei allen differenzierten Orakelsystemen handelt es sich auch hier um eine Methode der Selbsterforschung, die uns und unser Weltbild verändern kann. Die Orakelantwort offenbart uns, ob wir im Einklang mit dem Großen Ganzen sind und wo wir eventuell den Fluss verlassen haben. Es zeigt uns den Weg zu uns selbst.

Das übliche westliche Zielverständnis geht stets vom Ego aus: Wir meinen, durch eigene Anstrengung den Weg finden zu müssen, der uns das gibt, was wir uns vom Leben erwarten. Die östliche Weltsicht setzt dagegen voraus, dass wir von Natur aus im Kontakt mit dem rechten Weg sind und ihn nur nicht verlieren dürfen, wobei gerade das Ego uns oft auf Abwege lockt.

Ansehen, Erfolg und Reichtum spielen für das I Ging keine Rolle. Wollten wir es nur benützen, um uns im Alltag Vorteile zu sichern, würden wir langfristig wohl wenig Gewinn daraus ziehen. Zu Beginn lässt es sich vielleicht noch auf Fragen dieser Kategorie ein - wie ein geduldiger Lehrer, der weiß, dass wir Zeit brauchen. Doch allmählich zeigt es uns immer fundamentalere Hintergründe, die am Ego völlig vorbeigehen (und von ihm leicht falsch interpretiert werden).

Indem das I Ging die Zerrspiegel unserer Fantasien entlarvt und unsere Programmierung aus falschen Glaubenssätzen und irrigen Selbstbildern auflöst, gibt es uns einen Ausblick auf die wirkliche Wirklichkeit. Das wahre Ziel, zu dem es uns hinführen möchte, ist die Einheit mit dem „rechten Weg“, die Einheit mit dem, was wir wirklich sind. - Das ist der einzige Weg, der uns tatsächlich zu Erkenntnis, Zufriedenheit, Verbundenheit und Sinn führen kann.

Innere Wahrheit

Die Erfahrung der Wahrheit ist am Anfang bitter,

doch am Ende schmeckt sie süß.

Mit Illusionen ist es umgekehrt:

Sie sind am Anfang sehr süß,

doch am Ende erweisen sie sich als sehr bitter.

(Buddha)

Die Arbeit mit dem I Ging ist Bewusstseinsarbeit im höchsten Sinne. Es sagt uns immer wieder auch schmerzliche Wahrheiten, die uns geliebte Illusionen rauben. Es geht über unsere Wünsche und Sehnsüchte hinaus und durchleuchtet all die scheinbaren Gewissheiten, die uns glauben lassen, wir wüssten schon, wie die Dinge liegen. Denn genau in unseren selbstverständlichsten oder sogar „heiligsten“ Überzeugungen liegt die Ursache unseres Leidens. Sie gehören zur Welt des Ego, wo wir mal jämmerlich und minderwertig erscheinen und dann wieder großartig und genial – nur eben nie so, wie wir wirklich sind.

Manche Antworten des Orakels werden uns also sehr hart vorkommen, eine echte „Kröte“ fürs Ego, das sich eine andere Realität zurechtgebastelt hatte. Solche Lektionen gehen unter die Haut, weil sie zielsicher dahin treffen, wo unsere „Knackpunkte“ liegen. Doch wenn wir jetzt zurückzucken, müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Wollen wir die Wahrheit wirklich wissen? Können wir anerkennen, dass auch im Unangenehmen eine Wahrheit liegen kann, die uns zugute kommt?

Das I Ging steht jenseits anerzogener Vorstellungen von Moral und Vernunft, es bezieht sich auf eine höhere Wirklichkeit, auf eine innere Wahrheit, die wir tatsächlich auch fühlen können, auch wenn es manchmal schwer ist, sie einzugestehen. Es vermittelt uns einfach geistige Gesetzmäßigkeiten – die spirituellen Gesetze des Kosmos. Wenn wir uns an ihre Richtlinien halten, fließen wir ungehindert mit dem Strom des Lebens, wenn wir gegen sie ankämpfen, erleben wir Niederlage um Niederlage.

Die Antworten des I Ging sind immer relativ und auf den gegenwärtigen Augenblick bezogen. Sie sind keine Rezepte oder Regeln, die wir in ähnlich gelagerten Fällen wieder aus dem Hut ziehen können. Das Orakel zeigt uns Lösungen, die genau in diesem Moment genau für uns richtig sind. Es verbindet uns mit unserer ganz persönlichen Wahrheit, die uns spüren lässt, wie wir uns zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen verhalten können.

Und jeder Lernschritt, den wir machen, wird von neuen Lernschritten abgelöst. Schritt für Schritt werden uns immer tiefere Wahrheiten enthüllt – dann, wenn wir bereit dafür sind.

Ein spiritueller Weg

Je mehr wir mit dem I Ging arbeiten, desto mehr begreifen wir, dass wir da keinen funktionalisierbaren Mechanismus anwenden, sondern dass wir einer Respekt gebietenden Intelligenz gegenüberstehen. Dieser kosmische Lehrer leitet uns in einem kontinuierlichen Transformationsprozess, in dessen Verlauf wir unser ichverhaftetes Denken und seine Irrtümer überwinden. Wir lernen Abschied zu nehmen von Konzepten wie Schuld und Strafe, wir lernen uns und anderen zu vergeben und auf diese Weise Schicht um Schicht unser wahres Selbst herauszuschälen.

Natürlich kann niemand seine Wirklichkeitsvorstellung einfach über den Haufen werfen, und das ist auch gut so. Wenn unser altes Programm von heute auf morgen zerschlagen würde, würden wir wohl in der Psychiatrie landen. Den Traum loszulassen und aufzuwachen, ist ein Prozess, der letztlich das ganze Leben währt – und noch viel länger. Das I Ging führt uns ganz behutsam in diese Richtung. Es weiß genau, wie viel wir jeweils verkraften können, und dosiert die Wahrheit sehr feinfühlig. Wir können uns langsam, in ganz kleinen Schritten davon überzeugen, dass die Realität nicht das ist, was man uns über sie erzählt hat. Wenn wir ehrlich sind, haben wir ja schon lange den Eindruck, dass etwas damit nicht stimmen kann – denn ganz offensichtlich funktioniert diese Welt nicht richtig.

Wir müssen uns auf unserem Erkenntnisweg also Zeit lassen - Zeit, in der wir am Buch der Wandlungen reifen können, Zeit, in der seine Weisheit in uns reifen kann. Denn wir befinden uns auf einem Pfad der subjektiven Erfahrung, der nicht über den Kopf geht und nicht rational gelehrt werden kann.

I Ging

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