Читать книгу I Ging - Andrea Seidl - Страница 13
ОглавлениеDas spirituelle Weltbild dieses Buches
Dieses Buch orientiert sich im Wesentlichen an der Urphilosophie des I Ging. Doch es enthält auch viele neuere Ideen, die über das alte chinesische Gedankengut hinausführen. Wie Anthony und Moog in ihrem Buch „Das kosmische I Ging“ schon anmahnen, kann es nicht der Sinn der Sache sein, alte Weisheiten, so erhaben sie auch sind, als unantastbare Heiligtümer zu behandeln. Wenn das I Ging lebendig bleiben soll, muss es auch weiterentwickelt werden – mit allen Risiken und Chancen eines solchen Prozesses. Wir müssen uns das Recht nehmen, unseren eigenen Erkenntnisweg zu finden. Wer immer nur den Fußstapfen anderer folgt, wird am eigenen Weg vorbeigehen.
Ich habe versucht, im Folgenden einige grundlegende Gedanken darzustellen, auf denen dieses Buch aufbaut. Doch wer sich damit befasst, was die Welt zusammenhält, wie unser Kosmos funktioniert und was unser Menschsein ausmacht, wird früher oder später immer an seine persönlichen und menschlichen Grenzen stoßen. Vieles wird dauerhaft geheimnisvoll und unerklärlich für uns bleiben. Anderes wiederum erfordert einen radikalen Bewusstseinswandel, auf den wir uns nur Schritt für Schritt einlassen können.
Was ist Wirklichkeit?
Die Welt ist das, was du von ihr hältst.
(Grundprinzip des Huna-Schamanismus1)
Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit bewegt mich schon lange. Ich erinnere mich noch daran, wie aufgeregt ich war, als ich siebzehnjährig die Bücher von Carlos Castaneda2 entdeckte, in denen von einer „anderen Wirklichkeit“ die Rede war. Der amerikanische Anthropologe erzählt darin, wie er bei einem Schamanen der Yaqui-Indianer in die Lehre ging und mit einer völlig fremdartigen Beschreibung der Welt konfrontiert wurde. Damals, in den Siebzigern, wurde in meinem Bekanntenkreis heiß diskutiert, ob die Erlebnisse Castanedas fiktiv oder echt waren. Ich selbst war tief bewegt, erregt, ja aufgewühlt von dem, was ich da las. Ich konnte nicht erklären, warum, aber ja, ich war überzeugt, dass mir da eine grundlegende Wahrheit begegnete. Castaneda und sein Lehrer Don Juan zeigten mir einen ersten Ausweg aus der engen Weltdeutung meiner Herkunft, die sich zwischen Katholizismus und Materialismus bewegte. Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.
Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit? Die Alltagsvernunft hält sich an das, was funktioniert und empirisch nachgewiesen werden kann: Materie ist fest, die Zeit verläuft linear von der Vergangenheit in die Zukunft, Wirkungen beruhen auf Ursachen... Von solchen „Fakten“ wird abgeleitet, was „realistisch“ sei. Dazu gehören dann auch soziale Gesetzmäßigkeiten wie „Geld regiert die Welt“ oder „Wenn du nett bist, wirst du geliebt“. Gleichzeitig sperrt sich unser materialistisch orientierter Verstand, dem, was wir fühlen und spüren, ebenfalls Realitätsstatus zuzuerkennen. Gefühle, Bedürfnisse, Intuitionen gelten als subjektiv und unzuverlässig und werden deshalb ignoriert. Auf diese Weise kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass sich oft gerade Menschen, die sich für besonders „realistisch“ halten, über ihre wahren Motive hinwegtäuschen, weil sie eben stereotyp nach draußen schauen und nur dort Wirklichkeit erkennen wollen.
Letztlich müssen wir uns fragen, ob es die Wirklichkeit überhaupt gibt, bzw. ob wir überhaupt fähig sind, sie zu erkennen. Bei näherem Betrachten entdecken wir ja, dass es offenbar viele sehr persönliche und wandelbare „Wirklichkeiten“ gibt: meine ist anders als deine, die von heute ist anders als die von gestern, die hier ist anders als die dort... Was wir normalerweise für Wirklichkeit halten, entsteht durch Geschichten – Geschichten, die uns erzählt wurden, Geschichten, die wir selbst erzählen, Geschichten über uns und die Welt, die wir von allen Seiten zurückgespiegelt bekommen. Im Grunde kommt unsere Wirklichkeit also durch Projektionen zustande. Wir sehen, was wir schon zu glauben wissen und versuchen, diese Konstruktion dann durch Rationalisierungen zu beweisen. Doch so leben wir an dem, was wirklich ist, vorbei.
Wir müssen lernen, Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Je mehr wir unsere Bilder von der Welt in Frage stellen, umso mehr wird sich die Fata Morgana auflösen, die wir für die Realität gehalten haben – um Platz zu machen, für das, was einer Überprüfung standhält.
Auf der tiefsten Ebene hat unsere Wirklichkeit eine mystische Dimension. Wir wissen nicht wirklich, wer und was wir sind. Die beschränkte Kapazität unseres Denkens kann die Größe unserer Existenz nicht fassen. Wir sind etwas anderes und viel mehr als man uns gelehrt hat. Doch was, können wir nur selbst herausfinden...
Wenn die Welt, die wir wahrnehmen, unsere eigene Konstruktion ist, was ja auch von den modernen Neurowissenschaften bestätigt wird, dann sagt sie mehr über uns selbst als wahrnehmendes Subjekt aus, als über das Objekt unserer Betrachtung. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg schlachtete schon vor fast einem Jahrhundert die heilige Kuh der traditionellen Naturwissenschaften, indem er auf der Quantenebene feststellte, dass objektive Beobachtung unmöglich ist, weil jede Beobachtung das Beobachtete schon verändert. Möglicherweise gibt es gar keine objektive Welt, nur die Welt unserer subjektiven Erfahrungen, in der sich all unsere verborgenen Motive und Überzeugungen spiegeln. Die Spiegelfunktion der Welt enthüllt uns auch, dass es im Grunde gar kein Ego gibt, dass das Ich die fundamentalste aller Illusionen ist – und auch da stimmt die Hirnforschung zu. Das soll nicht heißen, dass wir uns nur einbilden würden, da zu sein, sondern es heißt, dass wir nicht als individuelle Persönlichkeit, nicht getrennt von unserer Welt und den anderen Menschen existieren, dass wir gewissermaßen auch sie sind… Und da schließt sich der Kreis zwischen neuester Forschung und alter spiritueller Weisheit. Die indische Philosophie hat das ganz schlicht zusammengefasst: Tat twam asi oder: Ich bin du.
Das Ego
Über das Ego wird im spirituellen Kontext viel geredet, und auch in diesem Buch spielt es eine große Rolle. Allerdings bleibt dieser Begriff oft unscharf und verwirrend. Deshalb möchte ich kurz definieren, was ich mit Ego meine.
Das Ego ist unsere falsche Vorstellung von Trennung und Besonderheit. Solange wir unbewusst fest daran glauben, dass wir ein vereinzeltes Wesen sind, fühlen wir uns abgetrennt und verlassen, ausgesetzt in einer feindlichen Welt. Diese Isolation erzeugt quälende Angst und damit Leiden, Konflikte und Kampf. In unserem Inneren klafft ein Abgrund, den wir gut vor uns selbst zu verbergen wissen. Wir kompensieren unser geheimes Grauen mit dem schmeichelhaften Mythos, dass wir etwas ganz Besonderes und Individuelles seien: schon als menschliche Gattung wollen wir ja die „Krone der Schöpfung“ verkörpern und auch unter Unseresgleichen versuchen wir herauszuragen – als müssten wir unsere Daseinsberechtigung erst beweisen. Wenn wir nämlich nichts „Besonderes“ vorweisen können, droht uns das Ego rasch damit, dass wir „nichts“ seien, wertlos, nichtig. Daraus entsteht ein endloser aufreibender Wettlauf und Überlebenskampf mit den anderen, die wir als Konkurrenten wahrnehmen: Wir müssen uns anstrengen, um „jemand“ zu sein, wir zweifeln, ob wir „gut genug“ sind, wir müssen nach „oben“ – egal, ob wir da oben Geld, Intellekt, Karriere oder Gott hinprojizieren. Um unser gähnendes Selbstwertloch nicht anschauen zu müssen, entwickeln wir unechte Selbstbilder. Wir klammern alles Mögliche aus unserer Persönlichkeit aus, was wir gelernt haben, als wertlos zu betrachten. Zugleich identifizieren wir uns mit Eigenschaften, die allgemein als wünschenswert gelten: Wir legen uns also eine Maske zu, ein falsches Selbst.
Diese archetypische Dynamik hat C.G. Jung als das untrennbare Paar von Persönlichkeit (Persona) und Schatten beschrieben. Sie gehört zwangsläufig zu unserer Sozialisation, wir können ihr nicht entgehen, doch wir dürfen auch nicht dort stehen bleiben. Solange wir uns nur mit einem Bruchteil von dem identifizieren, was wir sind, werden wir niemals sicheren Boden unter den Füßen spüren. Das Leben wird irreal und anstrengend, weil wir unser künstliches Selbstbild ständig kontrollieren müssen. Und wenn wir einmal locker lassen, müssen wir schon befürchten, dass die verdrängten Schattenanteile wieder nach oben drängen und wer weiß was anstellen.
Unsicher und ängstlich wie es ist, braucht unser falsches Selbst äußere Anerkennung, um sich zu stabilisieren - und davon gibt es immer zu wenig. Da es in einem ewigen Mangelgefühl lebt, will es immer mehr, mehr, mehr...
Wenn wir im Ego sind, denken wir in Gegensätzen und vergleichen ständig: richtig-falsch, gut-böse, schön-hässlich. Nach Möglichkeit wollen wir besser abschneiden als andere, was aber oft misslingt. Und selbst wenn es glückt, stellt sich die ersehnte innere Sicherheit nicht ein. Das Ego sieht sich selbst immer als Opfer, und es meint, permanent kämpfen zu müssen. Doch alle Lösungsvorschläge, die es uns macht, alle Geschichten, die es uns über die Welt erzählt, führen immer tiefer in die Angst. Sie müssen scheitern, da der Fehler an der Wurzel sitzt, in der Weltdeutung des Ego, im grundlegenden Programm der Getrenntheit.
Das kollektive Ego
Das Ego hat zwei Erscheinungsformen: eine auf der individuellen Ebene, eine andere macht sich im Kontakt mit der Umwelt bemerkbar. Hier summiert sich die Gesamtheit der Illusionen über das Wesen des Kosmos in einem Konzept, das Moog und Anthony als „kollektives Ego“ bezeichnen. Dazu gehören die Mythen der Welt, die sozialen Grundstrukturen und die dualistische Struktur von Denken und Sprache. Sie alle sorgen für eine Deutung des Universums, die von der Wirklichkeit wegführt. Dieses geistige Konstrukt schlägt sich nieder in politischen und religiösen Ideologien, aber auch im Normalitätsbegriff der Psychiatrie oder in der naturwissenschaftlichen Welterklärung.
Im Grunde ist das kollektive Ego ein „Super-Ego“, und es weist tatsächlich auch viele Parallelen zum freudschen Über-Ich auf. Es ist der Wahrheitsanspruch, das Paradigma einer Gesellschaft, das von jedem individuell erfahren wird und für jeden ein anderes Gesicht hat. Das kollektive Ego ist jene Autorität, die hinter einem „Das tut man nicht“ oder „Das weiß doch jeder“ steht. Es ist die Macht der Mehrheit, der Herdentrieb, ein geistiger Virus, der uns suggeriert: Hier bist du sicher; wenn alle so denken, dann muss es stimmen!
Solange wir uns in seine Regeln fügen, bedenkt uns das Kollektiv mit Streicheleinheiten und Belohnungen in Form öffentlicher Anerkennung. Viele von uns werden geradezu süchtig nach dieser Bestätigung, die wie alle Drogen keine echte Befriedigung schenkt, sondern nach immer mehr verlangt. Sollten wir es aber wagen, aus der Reihe zu tanzen, droht uns das kollektive Ego mit Sanktionen: sein Repertoire reicht von subtilen Vorwürfen, die sich in Form von quälenden Schuldgefühlen beim „Dissidenten“ niederschlagen, bis hin zur effektiven Ausstoßung aus der Gemeinschaft.
Allerdings dürfen wir nicht den Fehler machen, das kollektive Ego als von uns unabhängige, „böse“ Kraft oder Energie zu sehen. In letzter Konsequenz ist es wie das individuelle Ego auch ein substanzloses Konstrukt ohne kosmische Wirklichkeit, das nur davon lebt, dass wir daran glauben und ihm dadurch Macht verleihen.
Programmierung
Anfang der 2000er Jahre lief in den Kinos ein verstörender Film: „Matrix“, der das grausige Szenario einer vollkommen versklavten Menschheit entwirft, in deren Gehirnen eine Pseudorealität erzeugt wird, die alle für wahr halten, bis dann einer, Neo, die Lüge durchschaut und aus dem Programm aussteigt. Der Film wäre wohl nicht so fesselnd, wenn wir nicht spüren würden, dass er eine zentrale Wahrheit anspricht:
Wir alle sind mental programmiert - von unserer Gesellschaft, unserer Kultur, von familiären Werten. Wie die Menschen in „Matrix“ machen wir uns vor, frei zu entscheiden, und folgen dabei wie ferngesteuert einem inneren Programm, einem unbewussten Drehbuch, von dem wir nichts wissen. Dabei kommt oft das unbehagliche bis verzweifelte Gefühl auf, gefangen zu sein, die Ahnung, dass etwas nicht stimmt, dass dieses Leben uns nicht entspricht, nicht dem, was wir im Kern wirklich sind…
An der Basis dieses Programms steht ein verselbständigter Verstand, der sich vom authentischen Fühlen abgetrennt hat und dafür selbst künstliche (Ego-)Emotionen erzeugt. Wir denken den lieben langen Tag und können nicht mehr aufhören damit. Sobald wir glauben, dass das Denken unsere Identität ausmacht, wird dieses vormals nützliche geistige Instrument zu einer Krankheit. Dann erhebt ein kleiner Teil von uns den Anspruch, das Ganze zu vertreten: Der Diener schwingt sich zum Herren auf und erzeugt auf diese Weise eine verdrehte Welt.
Ein zentrales Mittel zur Aufrechterhaltung dieser irrealen Parallelwirklichkeit ist die Sprache, die ja die Strukturen unseres Denkens bestimmt. Nirgendwo wurde der Missbrauch der Sprache deutlicher vorgeführt als in George Orwells Klassiker „Neunzehnhundertvierundachtzig“. Totalitäre Regimes von damals und heute zeigen uns in schauriger Weise, dass verhängnisvolle sprachliche Verdrehungen nicht nur in der Literatur zuhause sind. Weit davon entfernt, harmlos zu sein, erschaffen sie eine gemeinsame „Wirklichkeit“ (einen kollektiven Traum), in der das Ungeheuere normal und angemessen erscheint.
Sprache erschafft Realität. Weil wir nur in Gegensätzen denken können, glauben wir, das Universum müsse ebenfalls so strukturiert sein. Wenn alle Welt von Opfern und Tätern spricht, muss es sie wohl geben. Wer Gott und das Gute beschwört, muss doch wohl selbst gut sein, oder?... Und so wie wir auf die Propaganda äußerer Verführer hereinfallen, so fallen wir auch auf unsere innere Ego-Propaganda herein, die uns immer als Opfer der Umstände sieht, die unsere weniger angepassten Motive vor uns selbst verschleiert und im gleichen Zuge die Verantwortung für alles Negative nach draußen projiziert.
Ein weiteres problematisches Element unserer Programmierung ist ein Wir-Denken, das einer primitiven Stammes-Mentalität entspringt. Wir verbrämen es oft als verbindenden sozialen Geist, doch bei genauerem Hinsehen verführt es uns, unsere Einzigartigkeit zu missachten. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe scheint uns stark zu machen, doch sie ist auch eine Einladung zur (aggressiven) Abgrenzung von anderen Gruppen: „wir“ gegen „die“. Sobald wir uns mit einer Gemeinschaft identifizieren (Familie, Freundeskreis, Firma, Partei, Vaterland…), fordert sie unsere Loyalität: wir sollen uns den Gruppennormen unterwerfen. Das kann uns in schlimme Konflikte stürzen. Denn wir können uns selbst nur treu bleiben, wenn wir zuweilen bereit sind, unsere Gruppe zu „verraten“ – mit der Konsequenz quälender Schuldgefühle.
Haben wir uns erst einmal vollkommen mit dem unbewussten Programm identifiziert, können wir es nicht mehr von unserem wahren Selbst unterscheiden. Dann spricht das Programm in unserer Psyche als „ich“ und wir verteidigen es als unsere Identität, obwohl wir doch fremdbestimmt handeln. Solange wir Sklaven dieses Programms sind, ist unser oft beschworener „freier Wille“ nicht mehr als ein schönes Märchen. Solange wir unbewusst und reaktiv leben, bleiben wir im System, im Programm gefangen und verkennen unsere wahren Entscheidungsmöglichkeiten.
Es ist möglich, auszusteigen, doch einfach ist es nicht. Denn dieses Programm durchtränkt alle unsere Überzeugungen und Vorstellungen, so dass wir sie für unsere eigenen halten. Darüber hinaus gibt es eingebaute Sicherungskomponenten, die dafür sorgen, dass das Programm nicht überprüft wird. Hierzu zählt alles, was wir als tabu empfinden. Werden diese unausgesprochenen Verbote übertreten, wird das scharf geahndet und zu Schuld und Sünde erklärt. Sobald wir rebellieren, müssen wir also mit Sanktionen rechnen, von innen und von außen. Allerdings funktioniert dieser Mechanismus nur, wenn wir auch daran glauben. Versagen wir einer Ideologie, einem Glaubenssystem, einem Paradigma erst einmal unseren Glauben, erscheinen sie nach einer Weile nur noch wie krause Geschichten, von der wir uns erstaunlicherweise einmal haben einfangen lassen.
Das Programm zu löschen, heißt zuerst einmal, alle diese Fragen zu stellen, an denen uns offene und versteckte Tabus hindern wollen, also Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, ohne die Angst, dann als „dumm“ zu gelten. Wir müssen immer wieder penetrant die Frage stellen, auf die Byron Katie sich in der von ihr entwickelten Methode3 zur Selbsterkenntnis fokussiert: „Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Kann ich hundertprozentig sicher sein, dass das stimmt?“ Und wir können noch weiterfragen: Woher glaube ich das zu wissen? Wer sagt das? Von wem stammen die Sätze, die ich in meinem eigenen Inneren höre? Normalerweise stellen wir diese Fragen nicht, sie scheinen überflüssig oder nicht zu beantworten. Und: sie verunsichern uns, sie zeigen überdeutlich wie dünn das Eis der Pseudorealität ist, auf dem wir uns bewegen. Wir glauben frei zu sein, doch es gibt in uns kaum einen Gedanken, kaum eine Geste, Meinung, Gefühlsregung, die nicht von anderen stammt. Dieses Etwas, das wir Ich nennen, scheint nichts als eine Anhäufung vergangener Ideen und Erfahrungen zu sein, ein unbewusstes Programm.
Das wahre Selbst
Niemand ist ohne das Ego und sein Programm, es gehört zu unseren Daseinsbedingungen als Mensch. Und dennoch: in Wahrheit ist dieses Ego nicht mehr als ein virtuelles Gebilde, eine Fantasie. Das Ich ist eine Erfindung unseres Geistes, die eine persönliche Willensfreiheit und Kontinuität vorgibt, die nie da waren.
Hinter dieser Mogelpackung steht, was wir wirklich sind. Unsere wahre Identität kann zwar überlagert, aber niemals zerstört werden. Sie ist die liebevolle, unschuldige, heilige Essenz unseres Wesens, die nach wie vor eins mit dem Göttlichen ist. Dieses unser wahres Selbst kennt weder Trennung, noch Tod, noch Schuld. Das wahre Selbst ist nicht unser Selbst, da es alles andere auch einbindet. Wenn wir uns erst einmal selbst erkannt haben, können wir uns in allem wieder finden. Unser wahres Wesen will nichts anderes, als in voller Bewusstheit seine Einzigartigkeit leben. Es hat keinen Charakter, keine Ideale und keine Moral, es will nichts erreichen. Es ist einfach in jedem Augenblick ganz präsent, ganz frei. An diesen unseren authentischen Wesenskern richtet sich das I Ging. Indem es ihn von den hässlichen Schlacken des Egos befreit, führt es uns nach Hause in die Einheit mit dem Großen Ganzen.
Wenn wir mit unserem wahren Selbst verbunden sind, sind wir „in unserer Mitte“ und können wir uns klar spüren. Diese innere Wahrheit drückt sich in Gefühlen und Körperempfindungen aus und hat nichts mit den Normen, Weisheiten und Richtigkeiten der Gesellschaft zu tun. Sie kann sogar im heftigen Widerspruch dazu stehen. Unsere innere Wahrheit ist weder absolut noch übertragbar: sie gilt nur für uns und für diesen besonderen Augenblick, diese einzigartige Situation. Auch wenn uns dieses intuitive Gespür zwangsläufig in Konflikt mit dem kollektiven Ego bringt, zeigt es uns den Weg, der für uns persönlich richtig ist.
Allerdings ist der Zugang zu dieser klaren Wahrnehmung bei den meisten Menschen verschüttet. Dem kollektiven Ego ist unser wahres Selbst nämlich äußerst verdächtig, es riecht ihm zu sehr nach Anarchie. Deshalb hat uns die Gesellschaft – zunächst über unsere Eltern und Lehrer – erfolgreich eingeredet, dass unsere innere Stimme, unsere Intuition, unsere Gefühle nicht zählen, ja dass wir ihnen misstrauen müssten. In gewisser Weise wurden wir zur Selbstverstümmelung angeleitet, um dafür umso erfolgreichere Marionetten am Gängelband des Kollektivs zu werden.
Handeln und Nichthandeln
Das Tao wirkt nicht durch Tun,
dennoch bleibt nichts ungetan.
(Laotse)
Eine Marionette handelt nicht selbständig, auch wenn es vordergründig so aussieht. Sie reagiert nur, völlig unbewusst und jenseits von Selbstverantwortung. Wir tun etwas, weil irgendwo in unserem Unbewussten ein anderer die Fäden zieht, weil jemand unsere „Knöpfe“ drückt. Wir verhalten uns wie ein programmierter Roboter und täuschen uns noch selbst, dass wir angeblich wollen, was wir tun. Diese Art zu reagieren kann unter Umständen sehr gefährlich werden. Mit freiem, bewusstem, selbstverantwortlichem Handeln hat sie nichts gemeinsam.
Auf den ersten Blick wirkt eine aktive Willkürhandlung wie das Gegenteil passiv-reaktiven Verhaltens. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sich dieselben Automatismen, nur dass die Motive tiefer verborgen liegen. Der Geist unserer Kultur fordert ja von uns, wir müssten aktiv sein und uns holen, was wir wollen. Passivität gilt als Trägheit, als Faulheit, als Verantwortungslosigkeit. Durch solche Bewertungen wird ein Klima geschaffen, das uns zum forcierten Handeln drängt. Was dabei herauskommt, sind Gewaltakte, die uns selbst und die Dinge auf ihre Spur zwingen wollen. Die dahinter stehende Mentalität ist einerseits höchst anmaßend, da sie unserem Ego eine Macht zuschreibt, die ihm nicht zusteht. Andererseits überfordert sie uns mit ihrem unrealistischen Anspruch auch maßlos: Wie sehr wir uns auch anstrengen, es wird uns nie gelingen, alles in den Griff zu bekommen.
Das I Ging empfiehlt uns ein ganz anderes Handlungsideal, das die taoistischen Philosophen in vielen Gleichnissen beschrieben haben. Sie nannten es „Wu wei“ oder „Handeln durch Nichthandeln“. Dieser rätselhaft-paradoxe Begriff zielt auf ein Verhalten, das mit allen Informationen aus der Innen- und Außenwelt übereinstimmt. Wenn wir Wu wei praktizieren, lassen wir zu, dass das Leben durch uns handelt. Wir gehen mit den Dingen mit, tun, was ansteht und was sich natürlich ergibt, ohne Zwang und Eigenmächtigkeit. Dieses intuitive, absichtslose Handeln wird in den alten Texten mit dem Lauf des Wassers verglichen. Das Wasser kommt immer zu seinem Ziel. Es erreicht das Meer zwar nicht auf dem kürzesten Weg, aber im schönsten Einklang mit sich und der Umwelt. Seine völlig gewaltfreie Bahn führt immer dort entlang, wo der Widerstand am geringsten ist.
In Konfliktsituationen, gerade wenn wir in der Außenwelt auf Gegenwehr stoßen, heißt das Gebot der Stunde deshalb oft, dass wir erst einmal unsere inneren Hausaufgaben machen müssen, statt zwanghaft und möglicherweise sinnlos irgendetwas zu tun. Bevor die Dinge sich im äußeren Leben wieder stimmig konstellieren können, ist inneres Handeln nötig: die Auseinandersetzung mit unseren Gefühlen, die Abkehr von falschen Glaubenssätzen und die Hinwendung zu etwas Größerem als wir selbst. An dieser Stelle werden die Weichen gestellt, die es möglich machen, dass unser Handeln in der Außenwelt zum Ziel führt. Solange diese grundlegende innere Arbeit versäumt wird, können wir uns draußen abmühen wie wir wollen, wir werden keinen durchschlagenden Erfolg haben.
Zum inneren Handeln gehört vor allem die schicksalhafte Entscheidung, was wir als wahr glauben wollen, und was wir als falsch zurückweisen. „Ein Kurs in Wundern“ nennt es die Wahl zwischen dem Ego und dem Heiligen Geist. Wir sollten uns genau anschauen, wozu wir Ja oder Nein sagen, und wir sollten mit unserem ganzen Wesen dahinter stehen. Allerdings wusste schon Pythagoras, dass gerade diese beiden ältesten und kürzesten Wörter Ja und Nein das stärkste Nachdenken erfordern.
Anthony und Moog haben in diesem Zusammenhang den Begriff des inneren Nein eingeführt. Dieses innere Veto ist der stärkste Trumpf, um die Fehlprogrammierung unserer Persönlichkeit aufzubrechen. Wir unterbrechen damit all die inneren Einbahnstraßen, die uns zu gefügigen Marionetten der herrschenden Meinung machen. Wir gewinnen damit wieder Macht über uns selbst.
Bei diesem inneren Nein handelt es sich nicht etwa um ein scharfes Verbot oder eine aggressive Zurückweisung (das wäre die Sprache des Ego), sondern um ein entschiedenes: „Das stimmt nicht!“ oder „Da mache ich nicht mit“, verbunden mit einer bewussten Hinwendung zu Liebe und Vergebung.
Wir kennen ja alle Situationen innerer Zerrissenheit: ein Teil von uns sagt „Ja“, ein anderer „Nein“. In solchen Momenten müssen wir herausfinden, welche Stimme aus unserem Wesenskern kommt und welche aus dem Ego spricht, das sich irgendwelche Vorteile ausrechnet (doch Achtung: manchmal kommen beide Stimmen aus dem Ego, während unsere höhere Oktave ungehört verhallt).
Wenn wir unser tiefstes Ja oder Nein bewusst machen und ausdrücklich bestätigen, bekommt es eine verblüffende Macht, die selbst alte Verkrustungen sprengen kann. Es ist jene weltbewegende Kraft, die entsteht, wenn unsere Entscheidungen vom Fluss des Kosmos getragen werden.
Der Kosmos
Alles, was du da über deinen Gott denkst und sagst,
das bist du mehr selber als er,
du lästerst ihn,
denn, was er wirklich ist,
vermögen alle jene weisen Meister in Paris nicht zu sagen. Hätte ich auch einen Gott, den ich zu begreifen vermöchte, so wollte ich ihn niemals als meinen Gott erkennen.
(Meister Eckhart)
Das Wort „Gott“ ist so abgegriffen, dass ich immer wieder zögere, es überhaupt zu verwenden. In den Hexagrammtexten habe ich weitgehend darauf verzichtet und lieber den Begriff „Kosmos“, „das Große Ganze“, das „Universum“ oder auch das „Tao“ verwendet. Aber was ich damit meine, ist natürlich doch: Gott. Nur kein persönlicher Gott, der außerhalb von uns angesiedelt ist und uns von dort aus beobachtet und in unser Leben eingreift. Sondern das allumfassende Göttliche, die übergeordnete Wahrheit, eine mystische, für unseren diskursiven Verstand nicht greifbare Größe. Der Kosmos darf nicht damit verwechselt werden, wie die traditionellen Religionen Gott beschrieben haben. Er hat nichts mit dem eifersüchtigen, rachsüchtigen Gott des Alten Testaments zu tun, der letztlich nur die Fratze eines exzessiven Ego zeigt. Der göttliche Kosmos dagegen kennt weder Schuld noch Bestrafung oder Tod, sein Wesen ist allumfassende Liebe. Obwohl er nur den einen Wunsch hat, dass wir endlich nach Hause kommen in die allumfassende Einheit, hat er mit unseren Verirrungen doch grenzenlose Geduld.
Wenn wir mit dem I Ging arbeiten, kommunizieren wir mit einer höheren Intelligenz, mit einer göttlichen Präsenz, die uns an die Hand nimmt. Dieser kosmische Lehrer entspricht dem, wie „Ein Kurs in Wundern“ den Heiligen Geist beschreibt: eine Stimme, die ganz und gar mit dem Göttlichen verbunden ist, die aber auch in die Belange unserer Menschlichkeit eingeweiht ist – eine Brücke zu Gott. Diese heilige Stimme in uns hilft uns, die richtigen Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, die unsere Irrtümer und Fehlurteile aufheben, die das trennende Ego als Illusion durchschauen und uns an unseren göttlichen Kern erinnern.
Damit wird die Idee von Gut und Böse, ein emotional hoch aufgeladenes Konstrukt des kollektiven Ego, in einen neuen Rahmen gestellt. Es gibt nicht das absolute Gute oder Böse, das uns manche Politiker oder religiöse Führer einreden wollen. Wer so argumentiert, missbraucht die realitätsschaffende Macht der Sprache in besonderem Maße. Denn wer sich selbst „gut“ wähnt und seine dunkle Seite leugnet, projiziert seine unerkannten Schattenseiten auf andere und muss sie dort als „böse“ bekämpfen – notfalls „mit schonungsloser Härte“, wie die Geschichte immer von Neuem zeigt. Gerade das moralische Urteil öffnet destruktiven Tendenzen Tür und Tor. Im Grunde kommt „das Böse“ in die Welt durch wahnhafte Überzeugungen mit totalitärem Anspruch, durch Ideologien, die über das Leben gestellt werden. Und wenn man tief genug gräbt, findet man darunter wieder die Urlüge und den Urschmerz des Ego, dass wir getrennt voneinander seien.
Meiner Meinung nach können wir auf den Begriff des „Bösen“ ganz verzichten und ihn besser durch „Fehler“, „Irrweg“, „Illusion“ ersetzen – Worte, die den Weg frei machen für Mitgefühl und Verzeihung. Statt einer polarisierenden Moral zu folgen, können wir das Gute neu definieren: als alles, was unserem Wachstum dient, was uns nach Hause zu uns selbst bringt, als alles, was verbindet statt zu trennen.
Natürlich fragt sich, inwieweit wir tatsächlich auch fähig sind, zu erkennen, was uns weiterbringt. Nur allzu oft müssen wir ja im Rückblick eingestehen, dass das, wogegen wir erbittert angekämpft haben, sich schließlich als unser Glück herausgestellt hat. Doch auch wenn es im Einzelfall schwierig ist, in dem, was uns widerfährt, einen Sinn zu erkennen, können wir doch jede Situation unseres Lebens als spirituelle Aufgabe ansehen und daraus lernen, und ihr auf diese Weise einen konstruktiven Sinn geben.
1 vgl. Serge Kahili King, der Stadtschamane, Lüchow Berlin, 2003
2 Carlos Castaneda, Eine andere Wirklichkeit, Fischer, Frankfurt 1973
3 Byron Katie, Lieben was ist, Goldmann München, 2002