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Virus

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~10~

*** 06:07 Uhr ***

*** Kap Rosa, Sektor C, Tower 3 ***

Vor der Shuttle-Bay für Nahverkehrsgleiter auf Ebene 35 entfaltete sich die Hektik der Rushhour. Lester Benx wurde Teil des Menschengewühls, das die Ein- und Ausgänge der Abfertigungshallen in dem geschwungenen Tower-Flur umspülte.

Drinnen quetschten sich die Ankommenden und Abfliegenden durch eine Batterie von Laufgängen, deren MindCell-Kontrollpunkte von Sol Guard-Wachpersonal und Kristalldetektoren ergänzt wurden. Besonders die Minenarbeiter waren aufgrund der strengen Sicherheitsauflagen an den Abgleich ihrer Flüge mit dem Schichtplan gebunden, und erst nachdem die Stadt-KI Selene die Genehmigung erteilt hatte, durfte ein Arbeiter passieren. Lesters Rang als Chief-Officer gestattete ihm hingegen das schnellere Vorankommen durch ein Gate, welches dem Personal vorbehalten war.

Gegenüber im Ankunftsbereich bildete sich ein Stau. Eine Einheit Patrol-Officers der POE überprüfte zwei Zivilisten. Anscheinend hatte das Pärchen versucht, sich ohne Landeerlaubnis oder Fluglizenz an den Signatur-Scannern vorbei zu mogeln. Der junge Mann diskutierte aufgebracht mit den Cops, während seine Begleiterin, eine Asiatin, vor lauter Nervosität von einem Fuß auf den anderen trat.

Lester kümmerte sich nicht darum. Alltagslappalien gehörten kaum zu seinem Ressort, und aufhalten konnte er sich damit nicht. Es erschien ihm zwar merkwürdig, dass die drei Polizisten die Kontrolle des Pärchens nicht den Leuten seiner Firma überließen. Doch hauptsächlich beschäftigte ihn im Moment Allison Vangristen, die ihm hier irgendwo auflauerte. Die Leiterin der ISGA hatte ihn vor wenigen Minuten kontaktiert und war nicht davon abzubringen gewesen, ihn hinunter in Mine C zu begleiten, zum Tatort und der Frauenleiche.

Gerade als Lester zwei Staff-Officers mit einem Kopfnicken grüßte und die Kollegen von ihrem Terminal aus zurück nickten, aktivierte sich sein Holo-Visier.

Mona informierte Team 1 über das Droiden-Kommando, das bei der Wohnung Antonio Cabrallos eingetroffen war. Der Wartungstechniker hatte allerdings sein Türkraftfeld blockiert und sich der Verhaftung widersetzt. Weitere Minuten würden vergehen, in denen die Roboter schweres Gerät vor dem Quartier installierten, um es mit Gewalt zu öffnen. Der kritischste Punkt war jedoch die Ortung des Mannes, die laut Mona verloren gegangen war – vielleicht befand er sich bereits auf der Flucht.

Lester nahm den Bericht mit Sorge zur Kenntnis. Wenn sich ein Bürger durch die Manipulation der Kraftfeldverriegelung dem Zugriff der Behörden entzog, machte er sich strafbar. Jemand bei klarem Verstand riskierte keinesfalls seinen Job auf die Weise. Er gab Mona den Befehl, den Ermittlungen den Sol-Red-Status zu erteilen und die Zugriffspriorität für den Miner anzuheben. Außerdem sollte die KI die Verhaftung durch weitere Droiden-Kommandos forcieren und die Ebenen 44 bis 46 abriegeln lassen. Verschärfte Kontrollen galten ab jetzt für alle Shuttle-Plattformen des Towers.

Als der Chief-Officer das Terminal passierte und sich über das Ausbleiben von Coffees MindCell-Daten zur Spurensicherung in der Mine zu wundern begann, erreichte ihn ein weiteres Gesprächssignal. Simon Isherhill leuchtete in seinem Visier auf. Das Gesicht des stellvertretenden Chefs der Sol Guard wirkte verändert, die Anspannung der letzten Stunden nagte an seiner britischen Gentleman-Gelassenheit.

»Guten Morgen, Lester. Wie Sie bereits erfahren haben dürften, ist der Inspektor der Company bei uns eingetroffen. Er hat Ihren Befehl annulliert, alle drei Ebenen abriegeln zu lassen. Nur Ebene 44 wird durch zusätzliche Einheiten gesperrt, der Sol-Red-Status des Falles bleibt aber bestehen.«

»Aus welchem Grund, Sir?«, erkundigte sich Lester und verspürte bereits jetzt eine Abneigung gegen jenen Inspektor. »S-R-S alleine reicht nicht aus. Die MindCell-Ortung der Zielperson ging verloren, und wenn sie sich bereits abgesetzt hat, können wir …«

»Ich weiß!«, unterbrach ihn der Senior-Chief of the Guard barsch. »Edwin Duquette ist der Meinung, dass wir mit der Abriegelung einer Ebene genug Chaos wegen eines Zivilisten verursachen und wir unsere Ressourcen besser disponieren sollten. Des Weiteren hat er angeordnet, Cabrallo sofort nach der Festnahme in eine Sonderverhörzelle bringen zu lassen. Niemand darf Kontakt zu dem Verdächtigen aufnehmen, bis er selbst mit ihm gesprochen und uns danach den Befehl für die Vernehmung erteilt hat.«

Lester schüttelte den Kopf – er konnte es nicht fassen. Die Sturheit der Company gehörte zur Tagesordnung, doch jetzt behinderte sie offen die Arbeit der Sol Guard.

»Mit Verlaub, Sir … das ist Bullshit! Antonio Cabrallo ist inzwischen der Hauptverdächtige bezüglich des Sicherheitsbruchs in Mine C und hat womöglich etwas mit der Toten zu tun. Wir können es uns nicht leisten, das Verhör des Mannes auf die lange Bank zu schieben. In wessen Interesse handelt der Inspektor eigentlich?«

Isherhill fuhr ihn an: »Befolgen Sie einfach meine Anordnungen, Lester! Auch ich habe mich im Augenblick nach den Befehlen von Duquette zu richten, denn er hat die Befugnisse. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und ich wünsche keine Diskussionen über seine Vorgehensweise. Unsere Firma steht zurzeit durch Skyrock auf dem Prüfstand … wenn wir nach den Regeln spielen, sind wir Inspektor Duquette in zwei Tagen wieder los und behalten unsere Jobs. Denken Sie daran. Ende.«

Das Gesicht des Senior-Chiefs verschwand.

Lester zog die Stirn in Falten. Die Vorgänge in der Chefetage strotzten vor Unlogik. Wenn Cabrallo für Duquette so wichtig war und er ihn abgekapselt befragen wollte, wieso setzte der Inspektor nicht alles daran, ihn so schnell wie möglich zu arretieren? Welche Gründe gab es überhaupt für ein Sonderverhör? Und wieso war Isherhill der Befehlsgewalt eines Außenstehenden unterworfen? Oder vielmehr, aus welchen Gründen hielt sich sein Boss dermaßen strikt an unsinnige Weisungen? Das passte nicht zu ihm.

Der Sol Guard-Officer beschleunigte seine Schritte.

Ein flaues Gefühl nistete sich in seiner Magengegend ein, als er hinter den Kontrollpunkten den Abflugbereich betrat. Hätte doch frühstücken sollen.

Da sah er in zehn Metern Entfernung Allison Vangristen in der Biegung des Flurs stehen. Sie wartete bei einer Reklametafel auf ihn und winkte ihm zu. Wegen ihrer Penetranz ignorierte er sie zunächst, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie in dem weißen Licht der Tafel ganz nett aussah. Sie besaß ein attraktives Äußeres, das ihm vorher nie …

Er würgte den Gedankengang ab. Die Frau konnte sich auf Ärger gefasst machen.

Lester näherte sich dem Computerterminal, das die Starts genehmigte und seinen Dienstgleiter aus dem Parkdeck beordern würde. Prompt ließ das nächste Gesprächssignal sein Visier aufleuchten.

Diesmal war es Coffee. Endlich!

Sein Teamkollege offenbarte ihm, die ersten Untersuchungsergebnisse in Form von MindCell-Daten übermittelt zu haben, jedoch waren sie aufgrund möglicher Computerfehler nie der Info-Datei des Falles hinzugefügt worden. In heller Aufregung berichtete Coffee ihm von den Vorgängen, die sich in Mine C vor weniger als zwei Stunden abgespielt hatten und von seiner Theorie, dass die Frau, deren Leiche in der Reinigungszelle lag, per Teleportation dort hinein gelangt war.

Plötzlich riss die Verbindung ab. Sogleich zeigte sich dem verblüfften Chief-Officer Monas Gesicht.

»Lester, wir haben Probleme. Jeglicher Kontakt zu unserem Personal in Mine C ging soeben verloren. Ich habe noch keine Erklärung dafür, doch wahrscheinlich fand ein illegaler Zugriff auf meine Subsysteme statt, die für die Kommunikation und die Team-Überwachung zuständig sind. Sämtliche Abteilungen befinden sich im Alarmzustand. Ich leite eine Diagnose des Sicherheitsnetzes ein, aber das wird meine Kapazitäten ans Limit treiben und Verzögerungen in der Koordination der Außeneinsätze nach sich ziehen.«

Der Sol Guard-Mann verspürte ein Schwindelgefühl. Irritiert bestätigte er: »Verstanden, Mona. Überprüfe auch die MindCell-Datenbank, da kam es laut Coffee zu Aufzeichnungsfehlern.«

Mit einem Gedankenbefehl rief er die Ergebnisse seiner Team-Mitglieder Patricia und Warren ab, die momentan in der Werkszentrale ermittelten. Die Daten waren ordnungsgemäß eingegangen, warfen aber weitere Fragen auf. Nachdem die Unbekannte am Tatort erschienen und durch den Kristallsplitterwirbel getötet worden war, hatte sich die Reinigungszelle nicht auf Befehl des Personals deaktiviert, sondern durch einen Fremdcomputerzugriff. Lester vermutete einen Zusammenhang zu der Attacke auf Mona, konnte aber die Theorie nicht weiterverfolgen, da er unter Konzentrationsschwierigkeiten litt.

Und die … und …

Lag es am Schlafmangel?

Teleportation?!

Sollte er seinem Freund und Kollegen Coffee zu Hilfe eilen oder sich zur Wohnung des Wartungstechnikers begeben? Möglicherweise hatte ein Virus Monas Systeme befallen und der Hauptverdächtige entkam in dem Durcheinander. Wenn Cabrallo wirklich auf so brisante Weise bis zu der Reinigungszelle vorgedrungen war und es geschafft hatte, das Energieherz der Frau aus der Förderanlage zu schmuggeln, fiel die Entscheidung zwar schwer, aber die Prioritäten lagen auf der Hand.

»Mona … ich fliege nicht zur Mine, sondern kümmere mich persönlich um Antonio Cabrallo. Er muss um jeden Preis gefasst werden. Coffee, Patricia und Warren benötigen jedoch schnelle Unterstützung. Lass Mine C stilllegen und … und evakuieren. Mir ist egal, was Skyrock dazu sagt, ich übernehme die Verantwortung. Die Auswertungen der Überwachungsberichte und Coffees Nachforschungen bestätigen eine … Sicherheitslücke, die größer ist, als wir bisher annahmen. Schicke zehn Einheiten runter, aber nur Droiden. Falls alle Stricke reißen, will ich keine … weiteren menschlichen Verluste verbuchen müssen.«

Lester stützte sich an der Wand ab. Ihm war speiübel.

»Außerdem brauchen wir … wir brauchen mehr Leute vor der Wohnung des Technikers. So viele Staff-Officers wie möglich … auf Ebene 44 mobilisieren. Unbedingter Zugriff ist erforderlich. Ich begebe mich jetzt … ebenfalls dorthin. Die … die Festnahme dieses Mannes hat … Vorrang …«

Ein Schwindelanfall packte ihn. Sein Anzug meldete außergewöhnliche Biowerte und versuchte ihn zu stabilisieren.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Mona voller Sorge. »Deine Werte sehen nicht gut aus. Ich empfehle dir dringend, dich zur nächsten Krankenstation zu begeben.«

»Nein … ich …«

»Soll ich ein anderes Team mit der Festnahme beauftragen?«

»Negativ!«, wiegelte Lester ab. »… keine Zeit dafür. Es wird schon … wird bestimmt gleich besser. Muss die Verausgabung der letzten Tage sein. Ich mache mich auf den Weg nach Ebene 44 und melde mich, sobald ich Cabrallos Quartier erreicht habe. Ende.«

Der Chief-Officer versuchte weiterzugehen, stolperte und fing sich gerade noch ab. Er blieb an der Wand stehen und keuchte. Simon Isherhill tauchte auf seinem Visier auf. Panik beherrschte seine Stimme.

»Lester, wir können unmöglich Mine C stilllegen lassen! Das hat in wenigen Wochen Energieknappheit für Teile des Sonnensystems zur Folge. So eine drastische Maßnahme kann ich nicht rechtfertigen!«

»Rechtfertigen? Sir … es geht hier um … um mein Team. Sie haben Schwierigkeiten, die Rettung von Menschenleben vor Inspektor Duquette zu ›rechtfertigen‹? Wenn dem so ist, dann sollten … Sie ihn aus … aus … unserer Zentrale entfernen lassen. Der Mann handelt grob fahrlässig … Ihre Verantwortung … ist das … das Wohlergehen der …«

In Lesters Kopf drehte sich alles. Die Reaktion Isherhills entglitt seinem Blick.

Während er in Richtung der Stühle des Wartebereiches taumelte, spürte er beißende Kälte die Beine hinaufsteigen. Funken tanzten vor seinen Augen. Verschwommen registrierte er, dass Allison Vangristen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz stand, sondern den Flur entlang auf ihn zulief.

Als er sich hinsetzte, durchzog das Kältegefühl auch seine Arme und den restlichen Körper.

EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018)

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