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Jäger und Beute

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~13~

Coffee rann der Schweiß an den Schläfen hinunter, während er mit gezogener Waffe auf den Gang vor der Reinigungszelle trat. Sein Schutzanzug befand sich im Alarmzustand und steigerte seine Wahrnehmung in allen Bereichen. Da er sich für den Tarnmodus entschieden hatte, blieb der Energieschild deaktiviert.

Auf dem Visier liefen Scan-Sequenzen nach Gefahrenquellen in der Umgebung ab. Im Falle einer akuten Bedrohung würde das LiSi-Gewebe das Nervensystem seines Trägers stimulieren und die Muskeln unterstützen, um ihm blitzschnelle Reaktionen und größere Körperkräfte zu verleihen.

Doch vor der Zelle und dem einsehbaren Teil des Gangs war niemand zu entdecken. Durch die Tarnung für das bloße Auge unsichtbar, schlich der Sol Guard-Mann an den Reinigungszellen vorbei Richtung Ausgang.

06:12 Uhr. Fieberhaft versuchte er noch immer, eine Erklärung für die Geschehnisse zu finden. Für die Frauenleiche und für das Fehlen ihres Herzens, für Antonio Cabrallos Genmutation, die es dem Mann ermöglicht hatte, jenes hochenergetische Herz zu stehlen. Und für das Gespräch zwischen Cit und der Computerintelligenz namens Ambrosia, die allem Anschein nach die Fäden zog.

Wie auch immer diese KI unser System infiltrieren konnte … Mona wird ihr hoffentlich Paroli bieten können. Sonst sehe ich schwarz für die Stadtsicherheit!

Coffee wurde durch ein Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Es kam von vorne und klang wie ein Sturmheulen.

Als er um die Gangbiegung schlich, erblickte er ein groteskes Ding, das er zunächst nicht zuordnen konnte. Schließlich identifizierte er es als Kreatur, die an der Decke hing und sich in einem Stadium der Beschleunigung zu befinden schien. Ihre Bewegungsabläufe rasten, sodass ihre Umrisse ausfransten und verschwammen. Ihm drängte sich der Eindruck auf, ein Rieseninsekt im Zeitraffertempo zu beobachten.

Plötzlich reagierte sein LiSi. Reflexartig hechtete er zur Seite, weil das Wesen mit wahnwitziger Geschwindigkeit an der Wand entlang schoss und sich neben ihm herunterfallen ließ.

Der Master-Officer schnellte außer Reichweite, aber das Ding setzte nach und befand sich sofort wieder neben ihm. Trotz seiner Unsichtbarkeit.

Es sieht mich!

Die Kreatur stieß einen Schrei aus, der durch die Gänge schrillte.

Coffee riss in einer Abwehrhaltung die Waffe hoch.

Im selben Moment traf ihn ein Hagel Klauenhiebe. Wie von einer Riesenfaust getroffen, wurde er in die Richtung zurück geschleudert, aus der er gekommen war. Er prallte am Boden auf, rutschte meterweit und sprang sogleich auf die Füße. Sein Anzug hatte ihn vor Verletzungen bewahrt, die Tarnung war allerdings ausgefallen. Zudem kämpfte das goldene Gewebe im Brustbereich mit Beschädigungen, die von den Hieben herrührten. Das Visier deutete ihm die schwarzen, wabernden Stellen als eine Nanobot-Infektion, die der Anzug einzudämmen versuchte und dafür hohe Energiemengen aufbringen musste. Fatalerweise neutralisierte das Virus diese Energie beinah vollständig, wodurch die Schutzschildfunktion ebenso nicht mehr zur Verfügung stand.

Und wieder fegte die Kreatur heran.

Aufgrund ihrer Schnelligkeit vermochte der Sol Guard-Mann abermals nur auszuweichen. Diesmal jedoch hatte er die Waffe bereits auf das Ziel gerichtet und betätigte im gleichen Sekundenbruchteil den Abzug, in dem sein Gegner neben ihm zum Stehen kam.

Als das Projektil in den fremdartigen Körper eindrang, hob die Kreatur zu einem mehrstimmigen Kreischen an, das wie zerreißendes Metall klang. Gleichzeitig verlangsamten sich ihre Bewegungen und sie taumelte zurück gegen die Wand. Dadurch erkannte Coffee zum ersten Mal, mit welchem Widersacher er es zu tun hatte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

Cit!

Obwohl der Junge einer extremen Mutation zum Opfer gefallen war, zweifelte der Master-Officer nicht an der Identität seines ehemaligen Begleiters. Vor ihm lehnte ein über zwei Meter großes Geschöpf an der Wand, dessen aschgraue Haut Geschwüre bedeckten. Der muskulöse Körper ging in einen haarlosen Kopf über, und das Maul war nicht mit Zähnen, sondern fingerlangen Fühlern ausgestattet. Doch die violetten Facettenaugen des Wesens fielen am meisten auf. Es starrte nach unten und betastete mit seinen Klauenhänden die qualmende Schusswunde, die in seiner Brust klaffte. Diese schloss sich bereits.

Noch während Coffee die Monstrosität angaffte, bildete sich um das Einschussloch ein schwarzer Schleier, der die zerstörte Haut und das Fleisch innerhalb weniger Augenblicke erneuerte. Ein weiterer Schuss brüllte aus seiner Pistole, aber der Leib des Wesens schluckte das Projektil, ohne eine Wirkung zu zeigen. Bevor er auf den Kopf schießen konnte, stieß sein Gegner ein Kreischen aus, schlug ihm die Waffe aus der Hand und packte ihn am Hals.

Der Sol Guard-Mann griff ebenso mit beiden Händen zu und drückte die Pranken von sich weg. Zentimeter für Zentimeter. Die Muskelkraft, die ihm das auf Hochtouren arbeitende LiSi-Gewebe gewährte, reichte normalerweise aus, es mit einer ganzen Gruppe von Männern aufzunehmen. Doch in dem Fall sorgte sie lediglich für ein Kräftegleichgewicht zwischen ihm und seinem Kontrahenten.

Nur Droiden … besitzen eine solche Stärke!

Unvermittelt beschleunigte das Geschöpf wieder.

Krallenhände gruben sich in Coffees Schutzanzug, hoben ihn hoch und katapultierten ihn wie einen Spielball den Gang hinunter bis vor die Reinigungszelle, in der die Frauenleiche lag.

Beim Aufprall stieß er einen Schrei aus – der LiSi schützte ihn aufgrund der Schäden nur noch lückenhaft. Zufälligerweise lag seine Waffe an der Schwelle der Rampe. Er bekam sie zu fassen, drehte sich und gab im Liegen mehrere Schüsse ab. Die Projektile, die mit der Zielsuchfunktion seines Visiers gekoppelt waren, fauchten davon, explodierten aber an den Wänden und hinterließen glühende Löcher.

Der Master-Officer rappelte sich hoch und nahm einen Schemen wahr. Da flog er bereits die Rampe hinab und krachte gegen die Schleusentür. Die Pistole wirbelte ihm erneut davon. Sein Helm löste sich auf.

Sofort war die Kreatur bei ihm und bombardierte ihn mit Schlägen.

Coffee spuckte Blut. Die Energiereserven des Anzugs waren fast aufgebraucht beziehungsweise von dem Virus neutralisiert worden, auf dem flackernden Visier konnte er jedoch ablesen, dass die Nanobot-Infektion unter Kontrolle war. Das Gewebe hatte die mikroskopisch kleinen Maschinen isoliert und begann bereits mit der Regeneration.

Im nächsten Moment wurde er wieder gepackt und durch die Schleuse in die Reinigungszelle geworfen. Glücklicherweise stand dort Lockdown-Droide LD-U20-3 auf seinem Posten und fing ihn mit einem Kraftfeld ab. In einer fließenden Bewegung setzte die Maschine den Sol Guard-Officer beiseite und eröffnete das Feuer auf die Kreatur. Diese befand sich nun zwischen den Schleusenschotts, vermochte aber wegen der breit gefächerten Hochgeschwindigkeitsgeschosse des Droiden nicht in den Raum vorzudringen.

Coffee richtete sich auf. »Barriere! Rasch!«

Während die Maschine ihr Dauerfeuer fortsetzte, bewegte sie sich auf das Schott zu und verschloss keine drei Sekunden später die Öffnung mit einem Energieschild. Im selben Augenblick, in dem der Beschuss stoppte und der Schild platziert war, donnerte die Cit-Kreatur von außen dagegen. Das grünliche Kraftfeld glühte auf, hielt ihrer Attacke aber stand. Sie versuchte es zwei weitere Male und verschwand schließlich in den Tiefen der Gänge.

Höllische Schmerzen durchpulsten Coffee. Er rang nach Atem.

»Alles in Ordnung, Sir?«, schnarrte der Roboter.

»Nichts ist in Ordnung!«, presste er zwischen den Zähnen hervor und wischte sich das Blut von der Lippe. »Dieses abgefuckte Ding hat mich fast gekillt!« Der Medic-Droide, der ebenso in der Reinigungszelle gewartet hatte, schwebte heran und kümmerte sich um seine Verletzungen.

»Um welchen Typus von Lebewesen handelte es sich, Sir? In meiner Datenbank finden sich weder Informationen darüber noch besaß es eine Signatur.«

Coffee keuchte noch immer. Er befühlte die Prellungen an seinem Kiefer und Kopf, wobei ihm Kristallstaub aus dem Kraushaar und dem Dreitagebart rieselte. Bei der Bemerkung des Lockdown-Droiden aber hielt er inne. Ihm kam die Erleuchtung. »Keine Signatur … das ist es, LD-U20-3! Genau wie Antonio Cabrallo! Das Wesen bewegt sich mit einer absurden Geschwindigkeit … auch das passt zu Cabrallo. Wie sonst hätte es der Miner unbemerkt bis in die Zelle schaffen können? Es erklärt außerdem die sonderbaren Aufzeichnungen der MindCell-Kontrollpunkte im Gang.«

Der Master-Officer berichtete der Maschine, wie er den Beginn der Verwandlung von Cit Leisman in die Facettenaugenkreatur miterlebt hatte. »Und ich sage dir, 20-3, Cabrallo ist vor zwei Stunden dasselbe passiert. Für die Veränderung beider Männer kann es nur einen Auslöser geben.«

»Sie spielen auf die Computerintelligenz Ambrosia an, mit der Sie sich unterhielten?«, kombinierte der Droide und half ihm auf die Beine.

»Exakt, sie steckt hinter den Vorgängen! Die Frage ist nur, wie eine KI den menschlichen Körper mutieren lassen und ihrem Willen unterwerfen kann?«

Die Antwort drängte sich Coffee wie von selbst auf.

»Garantiert übt sie ihre Kontrolle über die Nanobots aus, die ich an der Leiche fand und mit denen das Cit-Wesen meinen Anzug infizierte. Die Bots gehören keiner bekannten Klasse an und haben einen Großteil meiner LiSi-Energie aufgesaugt. Nur warum hetzte Ambrosia den Jungen auf mich? Das Energieherz befindet sich längst in ihrem Besitz. Warum macht sie sich die Mühe, mich aufzuhalten? Dafür müsste es …«

Sein Blick fiel auf die Frauenleiche am Ende des Raumes, und alles ergab einen Sinn. Die Tote war von einem blauen Leuchten umgeben. Zudem ging ein Summen im tiefen Frequenzbereich von ihr aus.

Coffee stieß den Medic-Droiden beiseite. »Das ist die Antwort! Scheinbar haben wir ein fettes Problem. Vergleichsanalyse. Sofort!«

Er und der Lockdown-Droide starteten Sekunden später ihre Scans bei der Leiche. Sie strahlte eine spürbare Hitze aus.

»Sir«, schloss der Roboter mit seiner sachlichen Elektronikstimme, »wenn ich die Ergebnisse richtig interpretiere, befindet sich der Körper in einem Zerfallsstadium. Das Material, aus dem er besteht, regt das Roh-Brymm zu einer geo-energetischen Reaktion an, einer Art Kristallschmelze, die keine Pyrofusion, sondern eine heiße Kernfusion zur Folge hat. Ein Vorgang, der vor wenigen Minuten noch nicht ersichtlich war und sich beschleunigt. Selbst die Kristallsplitter am Boden reagieren bereits. Die sich aufbauenden Energien münden laut meiner hypothetischen Expansionskurve in einen Spitzenpunkt, den man als Explosion bezeichnen könnte. Und zwar genau in …«

»In sieben Minuten und vierzig Sekunden!«, fiel Coffee der Maschine ins Wort. Er dunkelte sein wieder funktionierendes Visier ab – der blaue Lichtschein blendete ihn. »Zu dem Ergebnis komme ich auch. ›Problem‹ war untertrieben … wir stecken bis zum Hals in der Scheiße! Und nicht nur wir. Die Sensoren des Minensicherheitssystems ordnen diese Art der Kristallschmelze entweder nicht als Notfall ein, oder das System wird von jemandem blockiert. Wie auch immer … wenn sich die Nanokarbonstahl-Panzerschotts nicht schließen und eine solch starke Energiequelle zwischen dem Roh-Brymm freigesetzt wird, dann entsteht eine Kettenreaktion, bei der die ganze Mine weggefegt wird. Das wäre die Katastrophe für Kap Rosa! Ist es das, was die größenwahnsinnige KI plant? Einen Anschlag auf die Stadt? Oder wollte sie verhindern, dass wir die Leiche an die Oberfläche bringen und obduzieren?«

Der Droide zog anhand der Fakten einen logischen Schluss. »Letzteres, Sir. Die Intelligenz ist nach eigener Aussage nicht an Brymm in seiner gewöhnlichen Form interessiert, doch es ist ihr wichtig. Somit liegt es nicht in ihrem Interesse, eine Mine zu vernichten. Dennoch hat der Frauenkörper für sie oberste Priorität, den sie als ihr ›unartiges Kind‹ bezeichnete. Möglicherweise kam es zwischen beiden zu einem Konflikt, bei dem es der KI um das Herz der Frau ging, welches von ihrem Agenten Antonio Cabrallo gestohlen wurde. Die Attacke durch den anderen Agenten Cit Leisman auf Sie, Sir, diente vermutlich dazu, den Verbleib des Körpers hier unten so lange wie möglich zu sichern, bis er vernichtet ist.«

Coffee nickte anerkennend und wurde auf einen Kristallsplitter am Boden aufmerksam, über den das blaue Blut der Toten gelaufen und der dadurch verändert worden war. Instinktiv hob er den glimmenden Splitter auf.

»Ich sollte dich öfter bei der Aufklärung eines Falles dabei haben, 20-3. Scheint so, als ob sich die Frau aus freien Stücken hierher teleportiert hat, weil sie Ziele verfolgte, die denen der KI zuwider liefen. Vielleicht gehört die Explosion ja nicht zum Plan von Ambrosia, sondern wäre ohnehin durch die Frau ausgelöst worden. Wozu auch immer ihr Herz aus hochkonzentriertem Brymm verwendet werden kann … es befindet sich jetzt im Besitz der Intelligenz, für die das Verschwinden des Körpers in einer Minenexplosion ein willkommener Nebeneffekt ist.«

»Offensichtlich, Sir. Die Kernfusion ist tatsächlich nicht mehr aufzuhalten … der Zerfall des Körpers und seine Reaktion mit dem Brymm ist irreversibel.«

Weil die Zeit drängte, fasste der Sol Guard-Mann einen Entschluss. »Du musst hier raus und Kontakt zur Minenzentrale herstellen, 20-3, damit die den Notfallalarm auslösen und sich die Schotts schließen. Mir ist das unmöglich … dieses Monster würde mich ohne mein Schildmodul in der Luft zerreißen.«

»Sir, es bestünde die …«

»Keine Widerrede, 20-3! Cit hat es nur auf mich abgesehen, deshalb wird er dich nicht aufhalten. Ich bleibe hier, lenke ihn ab und genieße meinen Heldentod zwischen Bestie und Bombe.«

»Galgenhumor ist die falsche Strategie, Sir«, korrigierte ihn der Roboter emotionslos. »Meine Sorge gilt auch Ihrer Sicherheit. Ich schlage deshalb vor, wir senken das Kraftfeld vor der Schleuse und verlassen so schnell wie möglich die Mine, indem Sie mich als Transportmittel benutzen.«

»Und das soll funktionieren?«, zweifelte Coffee.

»Es liegt von der Zeit her im Bereich des Möglichen. Ich dehne meinen Schutzschild auf uns beide aus, der uns vor den Angriffen der Kreatur schützen kann. Wenn Sie es jedoch vorziehen, weiter zu diskutieren, gehe ich wirklich alleine, Sir.«

Coffee steckte den aufgehobenen Kristallsplitter in eine LiSi-Tasche. »Du hast ja doch Sinn für Humor, 20-3.« Er zog eine grimmige Miene und kletterte auf den Rücken des Droiden. »Also los! Uns bleiben knappe sechs Minuten für die Rettung vieler Menschenleben in Kap Rosa. Zeigen wir’s dem Biest!«

EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018)

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