Читать книгу EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018) - Andreas Bulgaropulos - Страница 9
Unter null
Оглавление~2~
Knapp eine Stunde vorher eilte Antonio Cabrallo durch den Flur von Tower 3 und betrat sein Quartier mit der Nummer C-T3 44/76 auf Ebene 44.
Vor Zorn feuerte er seine Tasche in die Zimmerecke. Dort traf sie das Tischchen, auf dem der altmodische Bilderrahmen mit dem Foto seiner Verlobten Carmen umkippte und auf den Teppich fiel.
Die Schicht in der Mine war beschissen gelaufen. Er konnte sich nicht erinnern, je so gedemütigt worden zu sein. Sektionsleiter Bricksville, sein Vorgesetzter, hatte ihn zum Gebet zitiert und zur Schnecke gemacht. Hatte rumgebrüllt, wie miserabel seine Leistungen wären, und dass er sich seine Entlassungspapiere abholen könne, sollte er sich in den nächsten Tagen einen einzigen Fehler erlauben.
So ein Dreckschwein … Menschentreiber … Arschloch!
Antonio hatte diesem pockennarbigen Sadisten nochmals die Gründe für das Problem zu erklären versucht, aber Bricksville schaltete wie immer auf Durchzug: Aufgrund eines Arbeitsunfalls war Antonio nicht mehr in der Lage, seinen Dienstplan mit voller Effizienz zu erfüllen, da ihm eine Fräsenexplosion die linke Kopfhälfte weggerissen hatte. Die Ärzte hatten ihm einen synthetischen Ersatz verpasst und ein Drittel seines Gehirns durch ein Gyronics-Nano-Implantat ersetzt – Technik der neuesten Generation.
Erst mithilfe der Gewerkschaftsanwälte hatte er seinen Arbeitsplatz vor wenigen Monaten zurück ergattert. Denn die Company war bei dem Rechtsstreit mit dem offiziellen Statement angetreten: »Durch die bekannte Problematik funktionieren Gehirnimplantate in den Minen nicht einwandfrei. Es ist unverantwortbar, Herrn Cabrallo und seine Arbeitskollegen einem derartigen Risiko auszusetzen.«
Bullshit!
Ihr inoffizieller Grundsatz war, sich einen Dreck um das seine oder das Wohl irgendeines Menschen zu scheren. Natürlich funktionierten Nano-Gehirne bei laufendem Minenbetrieb nicht einwandfrei, genauso wenig wie die von Droiden. Und natürlich litt Antonio da unten an Konzentrationsschwäche und vermochte seine Bewegungen nur schwer zu koordinieren.
Dennoch. Laut Vertrag war der Ausbeuterverein von Skyrock dazu verpflichtet, einem Unfallopfer entweder Invaliditätsabfindung zu zahlen – womit sie seiner Meinung nach viel zu billig weggekommen wären – oder ihm eine andere Tätigkeit unter adäquaten Konditionen zu verschaffen. Da er nicht mehr an der Fräse arbeiten konnte, war ihm nach Prozessgewinn jene Ersatztätigkeit bei der Reinigungszellenwartung zugesprochen worden. Gemäß dem neuen Vertrag gewährte man ihm eine begrenzte Reparaturquote, nur durfte die nicht unter ein Limit fallen.
Doch die Ratte von Sektionsleiter hatte ihn auf dem Kieker und gab ihm die Aufträge, die kaum ein gesunder Arbeiter in der Zeitvorgabe schaffen konnte. Die Company schmierte ihn hundertprozentig dafür. So schafften sie sich den lästigen Angestellten vom Hals und mussten ihm nicht mal die Abfindung in voller Höhe zahlen. Gegen »minderwertige Leistungen« war auch die Gewerkschaft machtlos.
Was für ein hinterfotziges System!
Nachdem Antonio am Nahrungsverteiler ein Getränk geordert hatte, ließ er sich wütend aufs Sofa fallen. Die Schwierigkeiten mit der Nanotronik in seinem Schädel traten immer deutlicher zu Tage. Vorhin, während der Schicht, hatte sich das Problem verschärft: Ihm fehlten sechs Minuten seines Lebens. Gedächtnisverlust! Und ausgerechnet, als er eine defekte Zelle begutachten sollte. Er erinnerte sich daran, wie er aus dem Lift getreten war, ihn plötzlich Schmerzen und Schüttelfrost übermannten und dann … Blackout.
Nur Fragmente schwirrten in seinem Kopf herum, irgendetwas getan zu haben. Etwas Sonderbares … aber was? Alles lag hinter einem Schleier verborgen. Sechs Minuten später war er an derselben Stelle im Gang wieder zu sich gekommen und machte sich auf den Rückweg. Er wusste nicht, ob er die Zelle repariert hatte oder was sonst vorgefallen war. Sicherheitshalber meldete er sich persönlich in der Zentrale, bekam aber von seinem Chef zu hören, dass der Vorfall Konsequenzen nach sich ziehen würde und er nicht wiederzukommen bräuchte. »Das hat ein Nachspiel für Sie, Cabrallo. Jetzt sind Sie raus. Für Krüppel hat die Company keine Verwendung!«
So ein mieser … ach, ist jetzt auch egal! Manchmal wünschte Antonio, er hätte die Abfindung genommen und sich den ganzen Ärger erspart.
Er fühlte sich nicht gut. Auch erst seit vorhin. Ein Druck lastete auf seinem Inneren, schnürte ihm die Lunge ein. Mit ein paar Handgriffen öffnete er den Kragen. Das half.
Er atmete tief ein und seufzte. Sein Körper wurde zur immer größeren Belastung. Doch welche Alternative war ihm damals nach dem Unfall geblieben, außer mit einem Hirnimplantat zu leben? Überdies hatte man ihn vorgewarnt. Nach der Operation hatten ihm die Ärzte eine Verschlechterung seines Geisteszustands innerhalb weniger Jahre prophezeit.
Letztendlich war er heilfroh, noch am Leben zu sein, und seine Verlobte natürlich auch. Sie wollten nächsten Monat heiraten, aber wenn er seinen Job verlor, waren das schlechte Voraussetzungen. Ihre Familie war sehr auf Traditionen bedacht. Und ein anderer Beruf kam für Antonio nicht in Frage. MindCell-Updates, die praktische Erfahrungen enthielten, konnte er sich nicht leisten und eine konventionelle Fortbildung nahm Zeit in Anspruch. Zeit, die er offensichtlich nicht mehr hatte, denn nun war es soweit: Seine gekittete Welt geriet aus den Fugen.
Warum mache ich mir überhaupt Sorgen um die Zukunft, wenn ich bald als brabbelnder Idiot am Fenster sitze und Löcher in die Gegend starre? Es tat ihm nur um seine zukünftige Frau leid. Hoffentlich besaß sie im schlimmsten Fall der Fälle die Courage, ihn zu verlassen.
Antonio Cabrallo erhob sich und schob das Glas zurück in den Verteiler. Er hatte sich abgeregt, doch die Wut war der Frustration gewichen. Das Leben bot ihm keine Perspektive mehr. Mit zwei Handgriffen stellte er das Tischchen auf, platzierte das Bild von Carmen darauf und schlurfte ins Badezimmer.
Während er über die Weiterentwicklung der Dinge nachgrübelte, hörte er hinter sich ein Flüstern, das wie sein Name klang. Vor Überraschung drehte er sich um.
Niemand war anwesend.
Natürlich nicht. Blödsinn! Wer sollte sich schon in seinem Quartier aufhalten? Nicht mal das Computerterminal war aktiv. Geschweige denn Musik.
Grundgütiger! Das wird immer schlimmer. Mein Gehirn spielt völlig verrückt! Suchten ihn die Wahnvorstellungen heim, blieb ihm noch weniger Zeit, als er angenommen hatte.
Panik überfiel Antonio. Ohnehin wollte er wegen der monatlichen Untersuchung seinen Doc aufsuchen. Doch angesichts akuter Gedächtnislücken und Sinnesverwirrungen würde er den Termin auf heute vorziehen. Auch wegen dieses Drucks auf der Lunge, der fühlbar zunahm. Sein Arzt musste sich die Zeit für die Diagnose seines Lieblingspatienten nehmen. Dann würde sich herausstellen, ob Grund zur Sorge bestand. Vielleicht genügte es, die Medikation zu erhöhen.
Er betrat das Bad, entkleidete sich und wollte die Duschkabine öffnen, als es abermals flüsterte. Diesmal zuckte er zusammen und wirbelte herum. Jemand hatte eindeutig seinen Namen gemurmelt.
»Hallo … ist da wer?« Seine Stimme zitterte.
Totenstille.
Er schlich zurück in den Wohnraum und rief erneut: »Hallo?«
Keine Antwort.
Antonio schwirrten die wildesten Fantasien um einen Psychopathen durch den Kopf, der ihm auflauerte. Mit seinen Grundkenntnissen in Selbstverteidigung würde er da kaum eine Chance haben. Und es konnte glatte zwei Minuten dauern, bis die Sicherheit antanzte.
Aber da war nichts. Er suchte seine komplette Unterkunft ab, nur um festzustellen, dass er alleine war. Splitternackt lauschte er in die Stille der Wohnung hinein.
Nada …
Er kam sich verdammt albern vor. Es war ihm auch zu peinlich, den Stationscomputer nach einem nicht vorhandenen Eindringling zu fragen, weil jede Kommunikation aufgezeichnet wurde. Beim Herumstehen fiel ihm allerdings eine Sache auf, die nicht seiner Fantasie entsprang. Eine ungewöhnliche Kühle erfüllte die Räumlichkeiten.
Shit, die Heizung ist ausgefallen!, fluchte er und fröstelte. Was für ein Morgen. Der Reparaturservice und eine warme Dusche müssen her!
Grund genug, doch den Computer anzusprechen. »Selene, die Zimmertemperatur ist unter Normalniveau. Checke das Thermostat oder verständige das Wartungscenter.«
Zwischen seinem Auftrag und der Antwort der Stadt-KI, die eigentlich längst deswegen hätte tätig werden sollen, lag eine ungewöhnliche Pause.
»Aber natürlich, Antonio. Ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen.«
Antonio Cabrallo wunderte sich über die Formulierung noch mehr als über die Verzögerung. Seit wann redete der Computer so vertraulich mit ihm? Selbst gegenüber einem stinknormalen Minenangestellten wie ihm gab es Vorschriften, was die Ausdrucksweise betraf. Etwas in der Art war nicht vorgesehen.
Schwer atmend und durcheinander beschloss Antonio, genug gefroren zu haben. Eiligen Schrittes betrat er erneut das Bad und die Duschkabine, die sich automatisch schloss. Er aktivierte die Düsen und ließ sich von den Wasserstrahlen besprühen.
Ah, endlich geschafft … wie angenehm.
Er würde den Rest des Morgens unter der Dusche verbringen. Die ganze Welt konnte ihn mal. Und sein Boss besonders. Sollten sie alle zum Teufel gehen. Wenn er nachher vom Arzt wiederkam, würde er Carmen anrufen und sie fragen, ob sie ihn schon diese Woche heiraten wollte. Dann würde er zurück zur Erde fliegen, sich einen brauchbaren Job suchen und seine verbleibenden Tage genießen.
So und nicht anders würde er es machen.
Erleichtert genoss er die Dusche umso mehr. Der Druck auf seiner Lunge hatte ebenso nachgelassen. Er spürte das Nass auf seiner Haut und wie es ihn einhüllte, Wasser, das an seinem Körper hinunter rann und ihn umschlang. Es fühlte sich so beruhigend an, voller Trost und aufmunternd zugleich.
Das ist besser als jedes Medikament! Ich bleibe für immer unter dem Wasserstrahl stehen und lasse mich davon beschützen. Nichts kann mir hier etwas anhaben.
Das Wasser sprühte hypnotisch auf ihn ein.
Himmlisch!
Alles andere verblasste in Belanglosigkeit.
Jeder Tropfen schien ein Segen.
Er verspürte keine Sorgen mehr, keine Ängste, nur Schwerelosigkeit. Und das Sprühen.
Ich bin dein, Wasser … wir sind unzertrennlich … ja … du willst es so … es ist gut … alles so leicht … ich gebe mich dir hin … für immer …
Dann setzte sein Denken aus – die Trance verschluckte ihn.
Irgendwann kam Antonio Cabrallo wieder zu sich und riss die Augen auf. Kälte nagte an seinen stocksteifen Gliedern. Er spuckte einen Schwall eisiges Wasser aus, musste husten und spuckte noch mal.
Was …? Was tue ich hier?
Erschrocken starrte er auf seine Arme und Beine, die eine blaue Farbe angenommen hatten. Sein Körper war extrem ausgekühlt. Als er auf das Display der Uhrzeit sah, erschrak er abermals: 06:09 Uhr. Er stand bereits eine Stunde unter dem Eiswasser. Anscheinend hatte er vorhin die kalte statt der warmen Dusche aktiviert. Die Kabinenanzeige blinkte auf niedrigster Temperatur, aber er erinnerte sich nicht, diese so eingestellt zu haben.
Schon wieder! Blackout!
Nach drei Anläufen vermochte er den Arm zu heben, um das Wasser abzustellen, jedoch versagte die Trocknen-Funktion. Er zitterte am ganzen Leib.
Muss … hier raus …
Antonio gelang es mit Mühe, die Duschkabine zu öffnen. Kaum fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen, stakste er durch das Bad und griff sich ein Handtuch. Dabei glitt er aus und knallte mit der Stirn auf die Toilette.
Sein Gehirn explodierte.
Stöhnend und benommen kauerte er am Boden. Der Schlag hatte eine Platzwunde verursacht, aus der ihm Blut über die Augenbraue quoll. Er rang nach Luft. Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, kroch er vom Bad ins Schlafzimmer.
Hier herrschten ebenfalls Minusgrade – auf den Möbeln glitzerte Frost. Während er versuchte, das Bett zu erreichen, richtete er mit bebenden Lippen eine Anfrage an den Stationscomputer. Sein Atem quoll ihm weiß aus dem Mund.
»S… Sel… Selene … N… Notfall! Sch… schicke Medic-Droiden … und erhöhe Um… Umgebungstemperat… tur auf … N… Normaln… niveau.«
Die KI reagierte nicht. Antonio zog sich unter größter Kraftanstrengung am Bett hoch und kam auf der Matratze zum Liegen, die aus blankem Eis zu bestehen schien. Zitternd griff er nach der Decke.
»Se… Selene. Was stimmt … mit der Klima… kontrolle nicht? Erbitte … sofortige Diag… Diagnose.«
Dieses Mal erhielt er eine Antwort.
»Es ist alles in Ordnung, Antonio«, erwiderte die freundliche Stimme. »Entspanne dich, dann fällt dir alles leichter.«
»Blöd…sinn … zu k… kalt hier … Sofort eine Verb… bindung zur Sich… Sicherheits… dienststelle herstellen … einen Medic-Droiden oder m… meinen Arzt ver… ständigen. Dringend … schwebe in Lebensgefahr!«
»Aber Antonio«, tadelte ihn die Stimme, »es geht dir den Umständen entsprechend. Es braucht eben seine Zeit. Kämpfe nicht dagegen an, bleib ruhig liegen. Bald ist es geschafft.«
Antonio glaubte an einen Albtraum. Der Druck auf seinem Brustkasten brachte ihn um. Verzweifelt röchelte er: »Zur Hölle, Selene … ich ha… be starke Unter… kühlungen. Öffne die … Apartmenttür … Das ist ein … Bef… fehl!«
Unter Qualen richtete er sich auf, und sein Blick fiel auf seinen Oberkörper: Ein Leuchten drang von innen durch die Haut. »Oh Gott! … oh … Gott w… was ist mit mir?« Rasende Angst packte ihn. »Ich … muss … ins Krankenhaus!«
Selene entgegnete voller Zärtlichkeit: »Du kannst nicht gehen, Antonio. Deine Transformation ist nicht komplett. Die Essenz benötigt ein Gefäß, und du wurdest erwählt, der Messias zu sein.«
Antonio Cabrallo gelangte zu dem Schluss, dass der Stationscomputer den Verstand verloren hatte und offensichtlich seinen Tod in Kauf nahm. Er schob das Bein über den Bettrand, doch die Anstrengung machte sein Vorhaben zunichte. Er sank zurück. Frost überzog inzwischen seinen Körper, die Platzwunde auf seiner Stirn war zugefroren und seine Glieder spürte er nicht mehr. Das Leuchten in seinem Brustkasten nahm an Intensität zu.
Unvermittelt blitzte es im Nebenzimmer.
Antonio sah aus den Augenwinkeln, wie sich dort ein Wirbel bildete und Nebel aufstieg. Eine Gestalt materialisierte darin. Er drehte den Kopf, vermochte die Erscheinung aber nicht zu identifizieren. Gleißend violettes Licht umgab sie. Ihm kam der Gedanke, sie um Hilfe anzurufen, denn er hielt sie zuerst für eines der Notfall-Hologramme, die den Bürgern Anweisungen in Krisensituationen gaben. Dann registrierte er den freien Bewegungsradius der Gestalt, der über das HoloCom-Feld hinaus reichte.
Mittlerweile schritt die Licht-Erscheinung auf ihn zu. Sie flüsterte. Es handelte sich um dasselbe Flüstern, das er vorhin gehört hatte. Sie flüsterte seinen Namen … tröstlich … beruhigend.
Das Licht hüllte ihn ein.
Antonio stockte der Atem. Eine Beklemmung wie unter Wasser umklammerte ihn, wenn die Oberfläche zum Greifen nahe war und der Körper nach Sauerstoff gierte, aber von Gewichten in die Tiefe gezogen wurde.
Schließlich trat die Gestalt neben ihn und streckte ihre Hand aus.
Die Berührung durchfuhr ihn wie ein Schock. Sie schleuderte ihn hinab in eine noch größere Kälte, in einen Strudel, der ihn mit violetter Energie erfüllte.
Er fand keinen Halt mehr – und sein Ich wurde weggerissen.