Читать книгу Ava und die STADT des schwarzen Engels - Andreas Dresen - Страница 10

Küchengeschichten

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Ava erwachte auf einer Couch in Fahrats Wohnzimmer. Sie ließ die Augen geschlossen und lauschte. Draußen hatte es angefangen zu regnen und sie hörte das Rauschen der vorbeifahrenden Autos. Im Wohnzimmer war alles still, doch durch die geschlossene Küchentür hörte sie leise Stimmen miteinander streiten.

Sie fühlte sich wieder einigermaßen frisch, doch wollte sie noch nicht aufstehen. Sie musste erst ihre Gedanken ordnen.

Gestern noch war sie in der Klinik aufgewacht, wie jeden Morgen in den letzten zwölf Monaten. Und plötzlich war die Tür aufgegangen und man hatte sie entlassen. Ein kurzes Gespräch mit einem Arzt, den sie nicht kannte und schon hatte sie auf der Straße gestanden.

Auf die Fragen, ob sie denn einen Platz zum Leben hätte, war sie schon gar nicht mehr eingegangen. Zu sehr sehnte sie sich nach der Sonne, der Luft und der Freiheit. So war sie den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. Sie hatte gar nicht genug bekommen können von der frischen Luft und dem Wind in ihren Haaren.

Immer wenn sie gedacht hatte, dass jemand zu lange hinter ihr her ginge, hatte sie plötzlich die Richtung gewechselt. Vielleicht bin ich wirklich paranoid, hatte sie sich gedacht. Vielleicht hatten die Ärzte ja doch Recht und sie bildete sich etwas ein. Sah Dinge, die nicht da waren und fühlte sich verfolgt.

Sie hatte keine Wohnung mehr. Während des Klinikaufenthalts war niemand für die Miete aufgekommen und so hatte man ihr irgendwann ein Schreiben ihres Vermieters ausgehändigt: die Kündigung. Nach Hause konnte sie nicht. Ihre Mutter hatte sie die ganze Zeit über nicht im Krankenhaus besucht. Außerdem wussten sie, wo sie wohnte, da war sich Ava sicher. Und dort würden sie bestimmt auf sie warten. Erschöpft war sie schließlich zwischen den Passanten auf einer Hauptstraße entlang gegangen, bis sich eine Möglichkeit ergab, in ein Haus zu schlüpfen.

Sie war in den Keller geschlichen, hatte sich die hinterste Ecke gesucht und ein paar Kleidungsstücke, die sie von der Leine in der Waschküche genommen hatte, zu einem provisorischen Lager zusammen gekramt. Sie war so unendlich müde … Sie hatte geschlafen, bis dieses Monster sie so unsanft geweckt hatte.

Was war, wenn die Ärzte Recht hatten? War sie doch verrückt? In der Klinik hatte sie das irgendwann geglaubt. Dass sie sich alles nur eingebildet hatte. Aber das hieße, dass ihre Kinder wirklich gestorben wären und das konnte nicht sein. Ava fühlte, dass es nicht so war. Alles, was sie gesehen hatte, war die Wirklichkeit. Die Frau, der Engel, die Kinder. Ihre Kinder.

Ava kämpfte mit den Tränen und kauerte sich auf dem Sofa zusammen. Die warme Decke gab ihr Schutz und sie weinte.

Als Ava schließlich aufstand, sah sie sich um. Das Wohnzimmer war ein einziges Chaos. Ordner waren aus dem Schrank gerissen und auf einem Haufen geworfen worden. Die Scherben einer Vase lagen auf dem Boden verteilt. Hier schien ein Tornado durchgefegt zu sein.

Sie wusste nicht, ob sie den Leuten trauen konnte, die sie hierher gebracht hatten. Der Mann, der sie aus dem Haus geholt hatte, schien freundlich zu sein. Ava erinnerte sich daran, wie sie das Schimmern um ihn herum bemerkt hatte. Dieses leichte Flimmern, als sei die Luft um ihn herum heißer als die Umgebung. Ein Dunst, der um ihn flirrte, als schaue man über eine heiße Straße in die Ferne. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Vor einem Jahr im Krankenhaus. Alle hatten sie plötzlich eine Aura gehabt. Niemand hatte ihr das später geglaubt.

Doch war die Aura dieses Mannes, der sich ihr als Fahrat vorgestellt hatte, anders gewesen. Etwas klarer, eben wie heiße Luft. Die Leute in ihrem Krankenzimmer hatten eine andere Aura gehabt. Die Luft bei ihnen war leicht eingefärbt, als hätte man einen Tropfen schwarze Tinte in ein Glas Wasser fallen lassen. Die Auren dort hatten sich gekräuselt und immer wieder zwischen hellen und dunklen Tönen gewechselt.

Hunger verdrängte Avas Gedanken an die Vergangenheit. Sie stand auf. Der Kapuzenmantel, den sie im Keller gestohlen hatte, lag gefaltet auf einem Stuhl. Sie trug immer noch die leichte, helle Kleidung, die man ihr in der Anstalt gegeben hatte.

Was sollte sie nun tun? Sie hatte nicht das Gefühl, das Fahrat ihr etwas antun wollte. Dazu hätte er genügend Zeit gehabt. Oder hatte ihn die Anwesenheit der Frau davon abgehalten? Ava versuchte sich an die Frau zu erinnern. Auch sie hatte eine Aura umgeben. Und sie war mit dem Wind gekommen. Entfernt erinnerte sie sich an die Geschehnisse im Flur. Konnte das wahr sein? Hatte ein Sturm sie an die Wand gefesselt? War die Frau, die so adrett gekleidet war, wie eine Furie auf sie zu gestürmt? Konnte sie hier irgendjemandem trauen? Doch in ihr überwog der Gedanke, dass sie schon genug Zeit gehabt hätten, ihr zu schaden, wenn sie das gewollt hätten. Außerdem war sie zu erschöpft, um weiter zu zweifeln und misstrauisch zu sein. Sie warf sich den Mantel um die Schultern und öffnete die Küchentür.

Fahrat und Baddha standen in der Küche und starrten sich feindselig an.

„Das hättest du nicht sagen dürfen“, fauchte Baddha und hob die Hand. Fahrat duckte sich gerade, als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete.

Baddhas Züge entspannten sich sofort und zeigten ein freundliches, aber etwas steifes Lächeln. Sie drehte sich zu Ava um und ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“

Ava wollte sich aus der tröstenden Umarmung befreien, empfand die Wärme und die Nähe der Frau aber plötzlich als sehr angenehm. Tränen schossen ihr wieder in die Augen.

„Na, wer wird denn weinen.“ Baddha führte Ava an den Küchentisch und drückte sie mit sanfter Gewalt auf die Bank.

„Ich mache dir erst einmal einen Tee, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Sie drehte sich um. „Fahrat!“, rief sie, plötzlich wieder in einem scharfen Befehlston.

Der Angesprochene zuckte zusammen.

„Hast du das Wasser aufgekocht?“

„Ja, ja.“ Fahrat schlurfte zum Herd. Man konnte seinen Unwillen förmlich spüren. Ihm ging das Ganze eindeutig zu weit. Er hob den Topf von der Platte und schaltete den Herd ab. Dann goss er das Wasser in eine dickbauchige, weiße Tasse und stellte sie mit einem Krachen auf den Tisch. Das Baddha nun die Zügel in die Hand nahm, schien ihm zuwider zu sein.

Baddha zog ein kleines Säckchen aus einer Jackentasche und holte einige Blätter heraus. Sie zerdrückte die trockenen Blätter zwischen den Fingern und ließ die Krümel in das heiße Wasser fallen. Ein süßliches Aroma erfüllte fast augenblicklich die Küche.

Fahrats Magen knurrte. Mit schnellen Griffen zog er ein süßes Brot aus dem Schrank, dazu Butter und einige Käsesorten. Zuletzt stellte er noch zwei Marmeladengläser auf den Tisch.

„Selbstgemacht“, sagte Fahrat zu Ava.

Sie blickte ihn immer noch etwas zweifelnd an, griff dann aber zu. Sie hatte das Gefühl, seit Tagen nichts gegessen zu haben.

„Die Marmelade ist selbstgemacht?“, fragte Ava.

„Alles!“ fuhr Baddha dazwischen. „Er kann besser kochen und backen, als er denken kann. Wenn er nicht so einen dicken Bauch hätte, dann wäre er sogar ein guter Kämpfer und Liebhaber.“

„Du hast aber immer gerne gegessen, was ich gekocht habe“, erwiderte Fahrat beleidigt. Ava blickte mit vollem Mund von einem zum andern. Was für ein komisches Paar, dachte sie sich.

Da wandte sich Baddha wieder an Ava. Sie legte ihre warme Hand auf Avas Schultern und blickte mit einem warmen Lächeln in ihre Augen.

„Was ist dir passiert, Liebes? Und …“ Sie zögerte. „Kannst du uns erkennen?“ Baddha betonte das letzte Wort.

Ava dachte kurz über die Frage nach und nickte dann.

„Ich sehe deine Aura.“

Fahrat ließ sein Messer fallen und starrte Baddha an, nicht ohne einen gewissen Triumph in den Augen.

„Ich habe es dir doch gesagt.“

Baddha ignorierte ihn.

„Konntest du das schon immer?“

Ava schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Sie schluckte schnell das Brot herunter, bevor sie zur Antwort ansetzte.

„Nein. Erst seit einem Jahr. Seit der Geburt meiner Kinder.“

Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. Baddha setzte sich zu Ava auf die Bank und nahm sie in den Arm.

„Was ist passiert?“, flüsterte sie.

Ava senkte den Kopf. „Ich war schwanger. Ich … es …“ Sie stockte. „Ich hatte eine schwere Zeit.“ Bei diesen Worten drückte Baddha Ava aufmunternd.

„Ich wusste nicht, wer der Vater ist. Ich wollte es auch nicht wissen. Zwillinge sollten es werden. Sie haben sie mir nach der Geburt auf den Bauch gelegt. Sie hatten so kleine Händchen.“ Ava blickte Baddha in die Augen, die Tränen erstickten fast ihre Stimme.

„Dann kam dieser Mann herein. Die Ärzte und Schwestern schienen ihn nicht zu bemerken. Doch dann kam eine der Schwestern und nahm mir die Kinder weg und legte sie dem Mann in die Arme. Er nahm sie, drehte sich um und ging hinaus. Aus seinem Rücken wuchsen Flügel.“

Die letzten Worte hatte sie geflüstert, als ob sie Angst hatte, dass Baddha ihr nicht glauben würde.

„Kurz darauf kam eine Schwester zu mir und sagte, dass meine Kinder …“ Ava musste schlucken, „gestorben seien.“ Sie senkte den Kopf und hielt inne. Tränen liefen über ihre Nase und tropften auf ihre Hose und den Mantel.

„Ich habe geschrien und gesagt, sie sollen mir meine Kinder wieder geben. Ich fragte sie, wer der Mann mit den Flügeln gewesen war, doch sie sagten, da wäre kein Mann gewesen. Dabei hatte ich ihn gesehen! Er hatte eine Aura, wie ihr beide. Nur dunkler, viel dunkler, und tiefer. Wie ein Stück Nacht, das um ihn herum floss.“

Ava hielt kurz inne, um Luft zu holen.

„Ich sagte ihnen, was ich gesehen habe. Ich schrie sie an, sie sollten mir meine Kinder zurückgeben. Doch sie gaben mir eine Spritze.“

„Und dann?“ Fahrat hatte aufgehört zu essen und hörte nun gefesselt zu.

„Ich erwachte in der Klinik. Psychiatrie. Ich hätte Wahnvorstellungen, haben sie gesagt. Ausgelöst durch den Schock, durch den Verlust der Kinder.“

Ava stockte und starrte ins Leere. Sie hielt ihr Brot in der Hand, als hätte sie es vergessen und wischte sich schließlich die Tränen mit dem Ärmel ihrer weißen Anstaltskleidung aus dem Gesicht.

„Zuerst wehrte ich mich. Ich dachte, irgendwann müssen sie mir doch glauben. Doch das taten sie nicht. Mit der Zeit merkte ich, dass ich weniger Medikamente bekam, wenn ich mich verstellte, mich zusammenriss. Also sagte ich ihnen, was sie hören wollten. Aber hier …“, sie zeigt auf ihr Herz. „Hier weiß ich, was ich gesehen habe.“ Sie zischte die Worte Fahrat entgegen. Keiner sollte daran zweifeln.

„Ich blieb ein Jahr dort. Dann wechselte der Direktor und ich kam frei. Wenn auch nicht geheilt, dann doch nicht mehr auffällig. Und in meiner ersten Nacht in Freiheit kommt dieses … Ding“, sie machte eine fahrige, unschlüssige Geste, die irgendetwas Großes andeuten sollte und sah Fahrat an, schließlich war er dabei gewesen.

„Golem“, sagte Fahrat leise.

„Da kam dieser Golem und versucht mich zu töten. Ich hatte doch Recht gehabt mit allem.“ Ava war sich nun sicher und ihre Stimme wurde lauter.

„Und ihr habt auch diese Auren. Ihr seid keine normalen Menschen!“ Avas Ton wurde anklagender. „Was seid ihr, und wo sind meine Kinder?“ Sie war von der Bank aufgesprungen. Mit einer schnellen Handbewegung griff sie plötzlich nach dem Brotmesser und hielt es ausgestreckt vor sich hin.

Fahrat war aufgestanden und sprach beruhigend auf sie ein.

„Bitte, leg das wieder hin. Wir wollen dir helfen.“

Baddha war ebenfalls aufgestanden und ans Fenster gegangen. Sie blickte offenbar nachdenklich auf die Straße. Avas aggressive Geste schien sie kaum ernst zu nehmen.

„Woher weiß ich, ob ich euch vertrauen kann?“ Avas Stimme überschlug sich.

„Wieso hätte ich dich sonst retten sollen?“, antwortete Fahrat.

Baddha drehte sich wieder zu ihnen um. Ihr Gesicht war verschlossen und grimmig.

„Sie hat Recht, Fahrat. Sie kann uns nicht trauen. Wie sollte sie auch.“

„Aber ich bin ein Schwertler!“ Fahrat brauste auf. „Meine Ehre gebietet es, den Unterdrückten Hilfe zu leisten.“

„Das sind ja ganz neue Töne.“ Baddha lachte und ging zwei schnelle Schritte auf ihn zu.

„Der dicke, faule Fahrat wird doch noch zum Abenteurer.“

„Das habe ich doch gar nicht gesagt!“, wütete Fahrat. „Aber helfen kann ich ihr doch wohl. Schließlich benötigt sie unsere Hilfe.“

Baddha griff die Zeitung auf dem Tisch und blätterte darin herum. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, faltete sie das Papier und hielt Ava ein Foto hin.

„Ist das der Mann?“

Ava erbleichte. Wie oft hatte sie das Gesicht in ihren dunklen Träumen gesehen …

„Das ist er!“, hauchte sie. Hoffnung keimte in ihr auf. Sie war auf seiner Spur. Sie würde ihre Kinder wieder sehen.

„Scheiße!“ Baddha fluchte und warf die Zeitung auf den Tisch. Fahrat riss das Foto an sich.

„Der? Das ist nicht euer Ernst!“

„Ihr müsst verschwinden“, sagte Baddha. „Sie ist in Gefahr. Und ich kann euch nicht schützen. Ich kann euch nur einen kurzen Vorsprung geben. Aber dann …“

„Moment mal“, unterbrach Fahrat. „Was soll das heißen? Er soll ihre Kinder gestohlen haben? Von was redet ihr da eigentlich?“

„Wer ist das?“, unterbrach sie Ava.

Baddha hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schien zu seufzen.

„Ich werde euch verraten“, flüsterte sie. „Heute Abend.“

Fahrat sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umfiel.

„Was soll das?“, brüllte er. „Wieso ist sie in Gefahr? Und wieso er? Und warum wirst du uns verraten?“

Baddha packte ihn mit beiden Händen an den Schultern.

„Bist du so dumm, wie du dick bist? Schau dir das Foto doch an. Das ist der Vizekanzler! Wenn die hinter ihr her sind, dann kriegen die sie. Ihr müsst verschwinden. Ich weiß nicht, wozu sie die Kinder brauchen. Aber sie werden ihre Gründe haben, die sie nicht mit uns diskutieren werden.“ Baddha hielt inne.

„Wenn der Vizekanzler sie sucht, dann werden sie bald alle jagen. Dann wird die Stadtwache sie suchen, die Jäger und alles was im Dienst der STADT so kreucht und fleucht. Du willst ihr helfen? Dann flieht.“

„Kommst du nicht mit?“, warf Ava ein.

„Ich? Nein. Ich bin eine Hexe. Und heute Abend ist Hexensabbat. Er hat schon gerufen.“ Sie zeigte auf das Bild in der Zeitung. „Und dann werde ich euch verraten.“

Ava und die STADT des schwarzen Engels

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