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Der Golem

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Fahrat lachte. Er malte sich das Gesicht des Sachbearbeiters aus, der in diesem Moment sicherlich vor einem Haufen aus dem Schrank gerissener Kundenakten stand. Er würde Tage brauchen, um dort wieder Ordnung zu schaffen.

Plötzlich bekam er ein schlechtes Gewissen. Da kein normaler Mensch die Kobolde sehen konnte, würde man das Chaos wohl dem Angestellten der Bank anlasten.

Fahrat blickte aus dem Fenster seines Wagens. Wahrscheinlich hatte der Mann gar keine andere Wahl gehabt, als ihm den Kredit zu verweigern. Er hatte ja auch seine Vorschriften. Zögernd griff er zum Handy. Er würde das Kriseninterventionsteam anrufen. Die würden die Kobolde fangen und die Menschen von diesen Plagegeistern befreien. Fahrat dachte erneut an das überhebliche Gesicht des Sachbearbeiters.

„Arroganter Typ“, dachte er sich. Sollte er ein wenig schmoren.

Er warf das Handy auf den Beifahrersitz und blickte wieder auf die Straße.

Und machte eine Vollbremsung. Auf dem Zebrasteifen vor ihm auf der Straße schwankte ein Golem.

Fahrat traute seinen Augen nicht. Groß und grau stampfte der lehmige Riese durch die Menge. Mit seinen großen, steifen Armen schob er die Menschen aus seinem Weg. Und die Menschen schienen nichts zu merken.

Die Menschen sahen nur das, was sie sehen wollten. Und das war eine, wenn nicht die Grundlage dafür, dass Leute wie Fahrat unerkannt unter den Menschen leben konnten. Für die Menschen war die Welt ganz normal. Aber in der Grauzone, direkt neben ihrer eigenen Wirklichkeit, existierte der Rest. Schwertträger, Krieger, Hexen und Drachen. Magier, Kobolde und Götter. Aber die Menschen sahen sie nicht. Ihr Verstand wollte diese Welt nicht sehen und daher konnten es auch ihre Augen nicht.

So war es möglich, dass ein Golem durch die belebte Einkaufstraße wankte, ohne Aufsehen zu erregen. Er sah aus, als hätte ein Kind mit Knetgummi gespielt und ein Monster geschaffen. Der offene Mund wirkte wie ein schwarzes Loch in dem grauen, ausdruckslosen Gesicht. Eine Nase fehlte. Dafür glühten seine Augen wie kleine rote Feuerbälle.

Donnernd setzte er einen Fuß vor den nächsten, während sich um ihn herum eine Lücke in der Menschenmenge bildete. Die Leute ignorierten ihn. Blickten an ihm vorbei, machten automatisch einen Bogen um ihn und gingen ihm aus dem Weg. Aber sie würden sich den Rest des Tages unwohl fühlen, schreckhaft und ängstlich. Denn ihre Augen hatten etwas gesehen, was ihr Verstand nicht wahrnehmen wollte. Und dieser Zwist würde ihren Geist entzünden, wie ein Stachel im Fleisch oder eine schmutzige Wunde.

Fahrat parkte seinen Wagen in einer Einfahrt und lief hinter dem Riesen her. Nur ein sehr mächtiger Zauberer konnte ein derart starkes Geschöpf erschaffen, dachte er. Das Lehmwesen war bestimmt doppelt so groß wie die meisten Menschen um ihn herum.

Der Golem schien ein Ziel zu haben und schritt unerbittlich darauf zu. Fahrat musste laufen, damit er den großen Schritten folgen konnte. Dabei ließ er seine Gedanken kreisen.

Wer hatte heutzutage noch die Macht und vor allem die Kraft, so einen Zauber zuwege zu bringen? Und welchen Zweck sollte er haben? Die meisten Arbeiten, für die man ursprünglich Golems erschaffen hatte, wurden in der Welt der Menschen längst von Maschinen erledigt, die präziser arbeiten konnten als ein grobschlächtiger Lehmklumpen. Allerdings waren Golems äußerst ausdauernd, da sollte man sich nicht täuschen. Ein Golem verfolgte sein Ziel so lange, bis seine Aufgabe erledigt war. Was auch immer das sein mochte.

Fahrat wandte wieder den Kopf, um zu sehen, ob noch jemand dem Golem folgte. Doch keiner schien sich für ihn zu interessieren. Und niemand war zu sehen, der den Lehmriesen kontrollierte. Der Magier musste sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er seine Schöpfung ohne Aufsicht in die Öffentlichkeit ließ.

„Hey, Fahrat!“, erklang eine Stimme neben ihm.

Colvin, der kleine, alte Mann im Zeitungskiosk stemmte sich auf seine Ärmchen und blickte sowohl den Golem, als auch Fahrat ungläubig an.

„Was ist heute nur los? Zuerst sieht man eine ganze Weile niemanden von uns, und dann taucht plötzlich so ein Ding auf und ein Schwertler ist ihm auf den Fersen?“

Fahrat winkte ihm kurz zu und zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, Colvin“, rief er atemlos. „Ich schau mir das mal an.“

Colvin war ein alter Barde, der mit seinen Geschichten zaubern konnte. Er war in der Lage, durch seine Erzählungen neue Welten zu erschaffen. Der Zuhörer konnte darin nach Belieben wandeln und leben. Es hieß sogar, dass die Welt, in der Colvin lebte, auch nur eine seiner Geschichten war.

Eine schöne Art der Magie, dachte Fahrat, während er dem Riesen nachhetzte. Aber nutzlos. Er wird mir bei dem Golem nicht helfen können.

Kurz darauf stoppte das Lehmungetüm vor einem alten Stadthaus. Die Schatten der mächtigen Platanen am Straßenrand fielen auf das schlammige Grau des Lehmwesens und schienen es in einen gefleckten Tarnumhang zu hüllen.

Fahrat blieb in einiger Entfernung stehen und schnappte keuchend nach Luft. Als Mitglied der Schwertträgergilde sollte ich eigentlich besser trainiert sein, dachte er zähneknirschend. Doch der lange Sprint forderte nun seinen Tribut. Er war wirklich nicht mehr in Übung.

Was tut er da?, fragte sich Fahrat. Es sah aus, als ob der Golem seine Nase in die Luft halten und schnuppern würde.

Doch das war nicht möglich, denn er konnte weder seinen Kopf drehen, da er keine beweglichen Halsgelenke hatte, noch konnte er ohne Nase riechen. Dennoch schien er einen Geruch wahrzunehmen, eine Fährte. Und so drehte er seinen massigen Körper hin und her und versuchte die Witterung, die er offenbar verloren hatte, wieder aufzunehmen.

Fahrat fragte sich, was er nun tun sollte. Konnte er den Golem einfach angreifen? Aber dazu gab es eigentlich noch keinen Grund. Obwohl ein Golem etwas Abartiges war, etwas Totes, das zum Leben erweckt wurde, und obwohl er selten dazu geschaffen wurde Gutes zu tun, konnte Fahrat ihn nicht einfach attackieren. Wie sollte er ihn überhaupt bekämpfen? Wie besiegte man einen Golem?

Fahrat kramte tief in seiner Erinnerung. Er dachte daran, was er in seiner Ausbildung und an der Seite seines Schwertmeisters gelernt hatte. Er war sicher, dass er etwas über diese Dinger gehört hatte. Er war auch sicher, dass sie eine Schwachstelle hatten.

Fahrat erinnerte sich an das Ritual, mit dem ein Golem zum Leben erweckt wurde. Man brauchte eine mächtige Person, die sowohl die Stärke als auch den Willen hatte, Leben zu erschaffen, zu welchem Preis auch immer. Es brauchte Lehm, Wasser und Feuer. Und das Wort.

Bei diesem Gedanken sah Fahrat, wie der Golem mit seiner mächtigen Faust ausholte und mit einem donnernden Schlag auf die Fassade des Hauses eindrosch. Immer und immer wieder schlug er zu. Steine brachen aus dem Gebäude und stürzten auf die Straße. Autos bremsten quietschend und fuhren danach langsam weiter, als sei nichts gewesen. Fahrat war immer wieder fasziniert von den Verdrängungskünsten der normalen Menschen in dieser Stadt.

Das Ungetüm prügelte immer noch auf die Hauswand ein.

Schließlich hatte es die Fassade vom ersten Stock bis zum Keller aufgerissen. Eingehüllt in eine Staubwolke bückte sich der Golem – soweit das ohne bewegliches Rückrat möglich war – und blickte mit seinen feurigen Augen in das Kellergewölbe, das er so brutal ans Tageslicht gerissen hatte.

Fahrat sah dort in einer Ecke jemanden kauern. Er begriff, dass der Golem jemanden gesucht hatte. Und nun würde er nicht zimperlich sein. Er würde sein Opfer ohne Umschweife töten.

Als der Golem seine Hand in den Keller streckte, nahm Fahrat seinen ganzen Mut zusammen. Er nahm Anlauf und sprang mit einem Satz auf den steinernen Rücken des Ungeheuers.

Der Riese schüttelte sich und versuchte ihn wie eine Fliege zu verscheuchen. Doch Fahrat kletterte immer höher hinauf, bis er sich von hinten am Kopf festhalten konnte. Der Riese brüllte auf, es krachte wie ein Erdbeben. Er warf seine Arme in die Luft und versuchte, Fahrat von seinem Rücken zu ziehen. Doch hatte sein Schöpfer seine ganze Kraft darauf verwendet, den Golem am Leben zu erhalten und ihm nur die wichtigsten Gelenke mitgegeben. Ellenbogen gehörten nicht dazu. So konnte sich Fahrat auf dem gefährlich schwankenden Kopf festhalten und ließ sich vor das Gesicht des Ungetüms fallen. Mit einer Hand hielt er sich am Rand des Mundes fest und mit der anderen fuhr er tief in dessen dunklen Schlund.

Er erwartete eigentlich kalte Feuchtigkeit. Doch fühlte er nur die raue Oberfläche der Zunge, die erstaunlich trocken und steinig war. Obwohl er wusste, dass sein Gegner den Mund nicht schließen konnte, fühlte Fahrat sich, als ob er seinen Arm in das Maul eines hungrigen Krokodils stecken würde. Der Golem schüttelte sich und Fahrat musste all seine Kraft aufwenden, um nicht zu Boden zu fallen. Langsam wurden seine Finger feucht und er begann den Halt zu verlieren. Seine rechte Hand fuhr über die Zunge des Monsters und dann an den Seiten der Zunge entlang. Endlich ertasteten seine Finger, was er gesucht hatte. Er schloss seine Hand.

Der Golem brüllte erneut und warf sich hin und her. In diesem Moment verlor Fahrat den Halt und wurde auf den Bürgersteig geschleudert, die Hand fest um das Stück Pergament geschlossen, das er unter der Zunge hervorgezogen hatte.

Als Fahrat sich stöhnend wieder aufrichtete, sah ihn der Golem an. Er starrte aus seinen feurigen Augen und schwankte merklich. Ein letztes Grollen entfuhr ihm, dann erlosch sein Blick. Zuerst bröckelten die Finger. Dann rutschten die äußersten Schichten lawinenartig an ihm herab und schließlich zerfiel auch der Rest des Golems.

Fahrat schloss die Augen zum Schutz vor der Staubwolke, die ihn einnebelte.

Als er sie kurz darauf wieder öffnete, war das Ding verschwunden. Übrig blieb ein Häufchen Sand und Lehm auf dem Bordstein. Der nächste Regen würde es fortspülen.

Ein Golem war ein Wesen, das durch reine, ursprüngliche Magie existierte. Zuerst schuf man aus Lehm den Körper. Dann schrieb der Zauberer das WORT auf ein Stück Pergament und schob es seiner Kreatur unter die Zunge. Somit erwachte der Golem zum Leben. Fahrat hatte, indem er das Pergament aus dem Maul des Golems gezogen hatte, dessen Lebensfunken gestohlen.

Der Schwertler wischte sich den Staub vom Mantel und die Krümel aus dem Gesicht. Dann kletterte er vorsichtig in den Keller.

Zitternd saß die Gestalt immer noch in der Ecke. Die junge Frau hatte die Beine an den Körper gepresst und eine Kapuze über die Stirn gezogen.

Fahrat kniete sich neben sie und sprach sie an.

„Ist alles in Ordnung bei dir? Hast du etwas abbekommen?“

Die Frau blickte auf. In ihrem staubverschmierten Gesicht bahnten sich zwei Tränen den Weg über die Wangen und hinterließen braune Spuren. Fahrat sah keine Anzeichen einer Aura oder andere Anhaltspunkte dafür, dass sie eine von ihnen war. Sie schien ein ganz normaler Mensch zu sein. Was hatte der Golem dann von ihr gewollt? Wieso hatte er einen gewöhnlichen Menschen gejagt?

„Du bist einer von denen.“ Ihre leise Stimme durchschnitt zitternd die Stille.

Fahrat erschrak. Woher wusste sie das? Hatte sie etwa den Golem sehen können? Sie war ein Mensch! Nur die wenigsten Menschen wussten von der Existenz seiner Welt. Er riss sich zusammen und überging die Frage.

„Wie heißt du?“

Die Frau blickte ihn an und schien überlegen zu müssen.

„Ava.“

Ava und die STADT des schwarzen Engels

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