Читать книгу Ava und die STADT des schwarzen Engels - Andreas Dresen - Страница 8
Die Klinik
ОглавлениеSchritte hallten durch die Räume der Klinik, als Morton dem Pfleger durch das Gebäude folgte. Die weißen Wände des gekachelten Flures spiegelten das fahle Gesicht des Besuchers wider. Der dunkle Anzug unterstrich seine blasse Gesichtsfarbe, schwarze Lederschuhe rundeten das elegante Erscheinungsbild ab.
Vor einer weißen, unscheinbaren Tür hielten sie an und der Pfleger klopfte leise. Dabei schien diese vorsichtige, sanfte Bewegung der massigen Hand so gar nicht zu seinem mächtigen Körper zu passen. Seine Arm- und Brustmuskeln spannten das weiße T-Shirt.
„Herein!“, drang es dumpf, aber energisch durch die Tür. Der Pfleger öffnete sie und ging voran.
Sie betraten einen Raum, der bis unter die Decke mit Büchern voll gestopft war. Durch das große Fenster schien die Sonne auf einen dunklen Eichenschreibtisch. Ein junger Mann stand aufrecht dahinter. In einer Ecke verkümmerte eine große Topfpflanze. „Herr Morton, Herr Direktor“, brummte der Pfleger und zog sich leise zurück.
Der Direktor lächelte Herrn Morton an und wies auf einen der Sessel.
„Bitte setzen Sie sich.“
Morton setzte sich, wobei er darauf bedacht war, seinen schwarzen Mantel glatt zu streichen. Nachdem auch der Direktor Platz genommen hatte, blickte er Morton an.
„Bitte entschuldigen Sie das Chaos“, sagte er und wies auf die Papierberge auf und neben seinem Schreibtisch.
„Aber seit dem plötzlichen Verscheiden meines Vorgängers hatte ich noch keine Zeit, hier Licht in die Angelegenheiten zu bringen.“
Er seufzte und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
„Oder dem Raum eine persönliche Note zu geben. Was kann ich für Sie tun?“
Morton rutschte im Sessel bis er eine bequeme Position gefunden hatte. Dann schlug er die Beine übereinander und zog einen Zigarillo aus der Innenseite des schwarzen Jacketts.
„Ich komme wegen Ava.“ Seine rauchige, sanfte Stimme wollte nicht so ganz zu seinem herrischen Äußeren passen.
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da Auskunft geben kann. Sind Sie ein Angehöriger? Mir ist nichts von Verwandten bekannt!“ In der Stimme des Direktors schwangen Zweifel mit. Um nichts in der Welt würde er vertrauliche Patienteninformationen herausgeben. Er zog die Brauen zusammen und blickte sein Gegenüber streng an. Trotz seiner Jugend ließ er an seiner Autorität keinen Zweifel.
Morton hob seine rechte Hand vom Knie und ließ die Finger einen kleinen Kreis beschreiben.
„Ja, ich kümmere mich um sie“, sagte er mit sanfter, betörender Stimme. Kaum hatten sich die Finger wieder gelegt, trübte sich der Blick des Direktors und sein Gesicht entspannte sich.
„Ach, das ist schön.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.
„Der Fall Ihrer Angehörigen ist wirklich sehr interessant. Aber ich bin ein Vertreter der progressiven Heilung. Sobald Patienten für sich und andere keine Gefahr mehr darstellen, sind sie in der Gesellschaft besser aufgehoben als hinter Anstaltsmauern.“
Mortons Blick verdüsterte sich. Doch der Direktor fuhr unbekümmert fort.
„Ava litt bei Ihrer Einlieferung unter schweren Wahnvorstellungen. Sie hatte kurz zuvor Zwillinge zur Welt gebracht, die leider nach der Geburt verstorben sind. Aber Ava bezichtigte das Krankenhauspersonal, ihr die Kinder weggenommen zu haben. Sie sah Auren um Menschen flackern und Kobolde und Dämonen um sich herum.“
Der Direktor seufzte.
„Großer emotionaler Stress kann natürlich solche Probleme hervorrufen. Wenn ich richtig informiert bin, konnte Ava keine Angaben zu dem Kindsvater machen?“
Morton nickte kurz.
„Eine ungewisse Zukunft, die Schmerzen einer Geburt, dies alles führte wohl zu dem Zusammenbruch. Und dann noch der Verlust der Kinder …“
Er hielt kurz inne, doch sein Blick blieb trübe.
„Wie dem auch sei. Ava hatte bis zu meinem Amtsantritt große Fortschritte gemacht und war von den Halluzinationen vollständig genesen. Es gab also keinen Grund, sie länger hier zu behalten.“
„Das ist sehr bedauerlich“, sagte Morton leise, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Kurz darauf stand er im Sonnenschein vor der Klinik und zog eine Sonnenbrille aus der Brusttasche. Mit einem weiteren Griff holte er ein kleines Handy hervor. Eine Bewegung des Daumens reichte, um es zu öffnen, dann hielt er es sich ohne zu wählen ans Ohr. Er wartete kurz bis er eine Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
„Sie ist tatsächlich weg. Der neue Direktor hat sie offenbar freigelassen. Wir sind zu spät gekommen. Wieso ist die Klinik eigentlich nicht überwacht worden?“ Er lauschte kurz und nickte verdrossen. Verärgert trat er nach ein paar Kieseln.
„Nein, jetzt ist es zu spät um beim Personal etwas zu machen. Wir müssen sie finden und zurückbringen. Nur so kann Schlimmeres verhindert werden. Hat der Golem sie gefunden?“ Wieder machte er eine kurze Pause und ließ seinen Gesprächspartner zu Wort kommen. Sein weißes Gesicht schien noch bleicher zu werden.
„Verdammt. Dann müssen wir die Stadt abriegeln und die Straßen durchkämmen. Stell die Suchtrupps zusammen. Wir müssen sie finden!“
Ein aufgeregtes Gezeter folgte aus dem kleinen Lautsprecher des Handys. Morton aber blieb ruhig.
„Das ist ein Befehl. Du solltest lieber gehorchen. Ich komme auf dem schnellsten Weg zurück.“ Ohne auf eine Antwort zu warten schob er das Handy wieder zusammen. Dann knöpfte er sein Jackett zu und schob die Schultern nach vorne. An seinen Schulterblättern dehnte sich der Stoff. Die Beulen auf dem Rücken wuchsen und wuchsen und schimmerten bereits weiß durch den dünner werdenden Anzugstoff. Mit einem grässlichen Knirschen riss die Jacke und zwei riesige Flügel entfalteten sich langsam. Es dauerte ein, zwei Schläge bis sich die schwarzen Federn richtig gelegt hatten. Dann hob Morton langsam vom Boden ab. Er hing etwas unbeteiligt an seinen Flügeln, wie ein Korb an einem Heißluftballon, und stieg in die Höhe. Die Menschen auf dem Klinikvorplatz starrten an ihm vorbei und ignorierten ihn. Aber bei manchen von ihnen setzte sich an diesem Tage die Erkenntnis fest, dass es vielleicht doch noch Engel auf dieser Welt gab. Seltsamerweise jagte ihnen dieser Gedanke jedoch einen Schauer über den Rücken.