Читать книгу Ava und die STADT des schwarzen Engels - Andreas Dresen - Страница 6
Die Kobolde
ОглавлениеIch muss hier raus, dachte Fahrat. Ich brauche dringend eine neue Wohnung. Er wünschte sich jetzt, dass er sich nicht mit der Hexe aus dem zweiten Stock angelegt hätte, dann wäre er nun nicht in dieser misslichen Lage.
Fahrat saß am Frühstückstisch und schüttete Kaffee in sich hinein. Hinter ihm in der Küche stapelten sich leere Umzugskartons. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, doch Fahrat war in seine Tageszeitung vertieft. Auf der Titelseite prangte die Schlagzeile:
„Neuer Vertreter der Menschen in den Stadtrat gewählt“ Daneben war ein Foto abgebildet, unter dem stand:
„Vizekanzler Morton überreicht dem frisch ernannten Stadtratsmitglied Rashid Rangoon die Ernennungsurkunde.“
Aber Fahrat interessierte sich nur für die Kleinanzeigen. Gestern hatte er endlich nach langem Suchen ein Apartment in einem anderen Stadtviertel gefunden, das nicht zu klein und nicht zu teuer gewesen war. Aber das Beste war, dass er sofort hätte einziehen können. Keinen Tag länger als nötig wollte er in seiner alten Wohnung bleiben. Guten Mutes war er daher nach der Besichtigung zur Bank gegangen, um einen Kleinkredit für die Provision aufzunehmen.
„Tut mir leid“, hatte der zuständige Sachbearbeiter der Bank gesagt, „aufgrund Ihrer momentanen beruflichen und finanziellen Situation, können wir Ihnen leider keinen Kredit in dieser Höhe gewähren.“
„Sie meinen, ich bekomme kein Darlehen, weil ich kein Geld habe?“, fragte Fahrat erstaunt.
„So könnte man es ausdrücken.“ Der Bankangestellte nickte mitfühlend, doch seine Augen blieben kalt.
„Aber wenn ich Geld hätte, dann bräuchte ich keinen Kredit für die Provision!“
„Es tut mir wirklich leid, mein Herr.“ Man sah Fahrats Gegenüber mehr als deutlich an, dass er weit davon entfernt war, Mitleid zu empfinden.
Jetzt saß Fahrat wieder in seiner alten Wohnung am Küchentisch ohne Aussicht auf die neue Bleibe und war mit den Nerven am Ende. Wenn dieser Mensch nur annähernd wüsste, wie es war, in einer verfluchten Wohnung zu hausen, dann hätte er vielleicht anders reagiert. Aber was wussten die normalen Menschen schon von der wirklichen Welt.
Es wurde Zeit, dass er doch noch ein paar Schätze hob, dachte er missmutig. Aber Fahrat mochte keine Abenteuer.
Es krachte im Wohnzimmer. Er sprang auf und lief laut schimpfend hinüber.
„Ihr verdammten Lichtkobolde! Macht, dass ihr hier raus kommt!“ Seitdem Baddha, die Hexe aus dem zweiten Stock ein Loch in die magische Barriere um seine Wohnung geflucht hatte, wurde Fahrat jeden Tag von diesen zwei Nervensägen heimgesucht. Die kleinen Lichtkobolde rannten laut schreiend durch das Wohnzimmer. Fahrat stöhnte auf.
„Nein! Nicht Tante Sarahs Vase“, rief er. Er hechtete über das Sofa. „Das ist ein Erbstück!“ Doch er kam zu spät. Mit einem lauten Scheppern ging die Vase zu Bruch. Seine Mutter würde ihn umbringen! Tante Sarah war eine alte Fee gewesen mit einem ausgeprägten Faible für Blumen. Alle Schnittblumen, die in dieses Gefäß gestellt wurden, verblühten nicht, und Fahrats Mutter hielt sie für furchtbar praktisch. Leider war die Vase aber auch furchtbar hässlich, daher hatte Fahrat sie bisher immer sicher hinter dem Sofa aufbewahrt. Wenigstens bin ich das alte Ding nun los, dachte er.
Lichtkobolde waren eigentlich ganz harmlos, wenn man von ihrem Drang absah, überall Spaß und Chaos zu verbreiten. Aber Fahrat war es leid, jeden Tag aufs Neue seine Wohnung aufzuräumen, weil die kleinen Biester seine Unterlagen aus dem Schrank rissen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf einen Haufen türmten.
Die Kobolde johlten wie kleine Äffchen und hingen an der Lampe und in den Vorhängen.
„Hey!“, rief Fahrat und hielt einen kleinen Beutel mit bunten Kugeln in die Luft.
„Wollt ihr Kaugummi?“
Die Kobolde verstummten kurz.
„KAUGUMMI!“
Mit diesem Schrei stürzten sie sich auf Fahrat. Der wich zurück und lief in die Küche. Dort holte er aus und wollte den Beutel aus dem offenen Fenster schmeißen. Doch dann hielt er inne und überlegte es sich anders. Mit der schnellen Reaktionsfähigkeit des Schwertlers, der er letztlich eben doch war, drehte er sich um und warf die Kugeln in einen bereits aufgebauten Umzugskarton. Die Kobolde sprangen hinterher und balgten sich unter lautem Getöse um die bunten Kugeln.
Fahrat schloss blitzschnell den Pappdeckel des Kartons und verklebte ihn mit dem magisch verstärkten Packband, das er sich bereits für den nun wohl doch nicht stattfindenden Umzug besorgt hatte.
Der Bankangestellte, der am Tag zuvor Fahrat gegenüber gesessen hatte, öffnete das an ihn adressierte Packet mit größter Vorsicht. Ein Kurierfahrer hatte es heute Morgen in der Bank abgegeben. So schwer wie die Sendung war, enthielt es bestimmt die neuen Ordnungssysteme, die er in der Hauptstelle bestellt hatte – und Ordnung musste sein! Der Sachbearbeiter war der festen Überzeugung, dass er die Verantwortung trug, auch das Leben seiner Kunden in Ordnung zu halten und sie vor sich selbst und der Überschuldung zu retten. Kredite bewilligte er so gut wie nie.
Mit einer geschickten Handbewegung riss er das festsitzende Klebeband ab und blickte in den Karton. Er war leer. Aus den Augenwinkeln meinte er etwas kleines Grünes durch die Schalterhalle huschen zu sehen. Er blickte noch einmal in den Karton und entdeckte, dass in der Ecke etwas lag. Er griff hinein und zog angeekelt seine Hand direkt wieder zurück. Nasser, weicher Kaugummi klebte an seinen Fingern. Und damit begann der schlimmste Tag seines Lebens.