Читать книгу Manchmal trägt der Teufel weiß - Andreas Dürr - Страница 4

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Die Sonne stand senkrecht über den niedrigen Häusern, die am Rand einer schmalen Straße standen. Häuser, welche die Bewohner vor vielen Jahren mit roten Ziegeln gedeckt und deren Fassaden sie damals bunt gestrichen hatten.

Nur einige Häuserblocks weiter erstreckte sich eine breite, vor Hitze flimmernde, verstaubte Straße in sehr schlechtem Zustand. Auf dem Gehweg standen in regelmäßigen Abständen die verwitterten Holzmasten der Stromleitungen. Die Gebäude in dieser Gegend waren lieblos und äußerst einfach. Teilweise sah es aus, als hätte man in Doppelgaragen Eingangstüren gebaut und darüber eine Hausnummer genagelt. Jedenfalls konnte man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Erbauer keine Architekten bemüht hatten. Nur die spärliche Bepflanzung einiger Vorgärten sorgte dafür, dass dieses Viertel nicht gänzlich in Trostlosigkeit verfiel.

Der fünfjährige Ricardo hüpfte an einem Gartenzaun entlang. Er hielt einen kleinen knorrigen Stock in der Hand, den er im Vorbeigehen über die Latten streifte, sodass dabei ein knatterndes Geräusch entstand. Es sah so aus, als würde er gleich eine seiner Sandalen verlieren, die sich bei seinen Luftsprüngen etwas von den Fußsohlen lösten. Seine beige kurze Baumwollhose hätte, genauso wie das gelbe T-Shirt, jedes Waschwasser in eine schwarze undefinierbare Brühe verwandeln können. Er war ein Junge aus einfachen Verhältnissen, so wie die meisten Leute hier, die alle sehr arm waren. Viele hatten Mühe, den täglichen Unterhalt zu verdienen, und somit fanden einige den Weg in die Kriminalität. Hier in Juarez tobte seit einiger Zeit ein unbarmherziger Drogenkrieg, dem viele Menschen zum Opfer fielen.

Ricardo bekam von alledem noch nichts mit. Seine Eltern liebten ihn über alles und vergangenes Jahr war es ihnen sogar möglich gewesen, die notwendig gewordene Polypen-Operation im hiesigen Krankenhaus zu bezahlen. Ricardos Vater konnte dies durch Überstunden, die er in einer Autowerkstatt leistete, erwirtschaften. Die Eltern hatten sich vorgenommen, ihm die beste Schulbildung zu ermöglichen, damit er später einen guten Beruf erlernen könne. Dafür verdiente die Mutter in einer Wäscherei etwas hinzu, was allerdings den Nachteil mit sich brachte, dass ihr Junge Zeit fand herumzustromern. Ricardo lebte in seiner verträumten Kinderwelt, er bekam nichts mit von Drogenkrieg, Mafia, Entführungen und Morden. So bemerkte er auch nicht, dass er seit geraumer Zeit von zwei zwielichtigen Typen verfolgt wurde, die ihn aus einem Jeep heraus beobachteten. Ricardo entfernte sich vom Gartenzaun und näherte sich der Straße. Er bewegte sich immer noch hüpfend vorwärts, wobei sich der eine Fuß auf der Fahrbahn, der andere auf dem Gehweg befand.

Der Jeep brauste in hohem Tempo heran und stoppte abrupt neben dem Jungen. Dabei wirbelte das Fahrzeug eine dichte Staubwolke auf, durch die man nur schemenhaft erkennen konnte, wie ein Mann heraussprang, den kleinen Ricardo schnappte und ihn ins Fahrzeug stieß. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert. Der Jeep raste davon und hinterließ am Ort des Verbrechens lediglich eine Staubwolke. Nur der kleine knorrige Stock, den Ricardo als Spielzeug benutzt hatte, blieb auf dem Bordstein zurück.

Claire Bennett brachte ihren roten Chevy Spark direkt hinter Ryans Fahrzeug am Bordsteinrand zum Stehen. Sie löste ihren Sicherheitsgurt, blickte kurz in den Rückspiegel, öffnete die Tür und schälte sich aus ihrem Sitz. Sie ging rasch auf Ryans weißen Ford zu, aus dem er gerade ausstieg. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem blauen Halbarmshirt mit dem Aufdruck Pueblo Police Departement am Ärmel. Über ihren schlanken Hüften hatte sie, leicht nach hinten versetzt, ein Holster angebracht, in dem ein 38er Colt steckte.

Ryan Mulroy war gerade am Heck seines Wagens angekommen, da war Claire schon bei ihm. Als sie sich so gegenüberstanden, hätte man denken können, sie seien Geschwister – gleiche Kleidung, beide gebräunte Haut, ebenmäßige Gesichtszüge und dunkles Haar. Ryan überragte Claire um gut einen halben Kopf und natürlich trug er auch keinen Pferdeschwanz, was ihm auch bei allergrößter Mühe nicht gelungen wäre – er hatte kurz geschnittenes Haar.

“Morgen, Ryan. Wartest du schon lange?” Claire wartete die Antwort nicht ab und sah stattdessen auf seinen Wagen.

“Sag mal, wie lange dauert das eigentlich noch, bis wir endlich unseren Dienstwagen bekommen?”, fragte sie.

“Noch mindestens eine Woche, meint der Captain. – Drehen wir eine Runde!”

Ryan ging Richtung Gehweg. Claire wollte ihm folgen, da fiel ihr plötzlich etwas ein – sie hielt abrupt an und rief: “Warte!”

Sie ging geschwind zu ihrem Fahrzeug, öffnete es und griff nach einem Gegenstand, der auf dem Beifahrersitz lag. Sie stand augenblicklich wieder bei Ryan, der sie fragend ansah. Claire strahlte ihn an, als sie ihm ein kleines Etui überreichte.

“Hier, Ryan. Für Noel – er hat doch heute Geburtstag.”

Ryan lächelte, nahm die kleine Schachtel, hielt sie an sein Ohr und schüttelte sie ein wenig, so als könnte er dadurch erraten, was sich darin befand.

“Ryan, warum machst du? s nicht auf?”

Ryan sah ihr kurz in die Augen, dann öffnete er das Etui und holte einen kleinen Anhänger heraus.

Claire sah ihn gespannt an. “Du musst die Rückseite anschauen!”

Ryan drehte den Anhänger um und las: “NM – Noel Mulroy”. Er freute sich sichtlich, denn seine Augen schienen noch heller zu strahlen, als sie es sonst ohnehin schon taten.

“Du bist ein Schatz, Claire. Noel wird sich sehr darüber freuen. Ich geb’ ihn ihm gleich heute Abend.”

Dann legte er das Amulett vorsichtig ins Etui zurück, so als hätte er Angst, er könnte es mit seinen Fingern zerbrechen. Dann schien er für einen kurzen Augenblick abwesend zu sein. Claire, die mit Ryan seit drei Jahren Streife fuhr, entging sein nachdenkliches Gesicht keinesfalls. Sie hatten beruflich miteinander schon einiges erlebt. Auch privat war sie des Öfteren bei den Mulroys oder mit Ryan nach Dienstschluss noch auf ein Bier in einem der zahlreichen Lokale im Zentrum von Pueblo, deren Wirte auf ihre Gäste warteten.

“Ist es sehr schlimm?” In Claires Stimme klang viel Mitgefühl.

Ryan hob die Schultern. Er war niemand, der übermäßig viele Worte machte, schon gar nicht bei privaten Dingen. Er war bei seinen Kollegen beliebt, denn er hatte immer ein offenes Ohr, wenn es darum ging, jemandem zu helfen, der in Not geraten war, oder weil er bei einem Umzug einfach mit anpackte und auch bereit war, dafür ein halbes Wochenende zu opfern. Wenn es allerdings um seine eigenen Probleme ging, dann schwieg er.

Dabei war Claire eine Ausnahme. Zu ihr hatte er ein ganz besonderes Verhältnis und uneingeschränktes Vertrauen, welches bereits durch mehrere Einsätze im Dienst gestärkt worden war. Die vielen Gespräche, die er mit Claire nach Dienstschluss geführt hatte, gingen weit über das hinaus, worüber sich ihre Kollegen üblicherweise untereinander unterhielten. Ryan schaute in Claires hübsches Gesicht.

“Der Scheidungstermin ist in ungefähr einer Woche.”

“Wenn du jemanden zum Reden brauchst …” Claire sah ihm dabei aufmunternd in die Augen.

“Danke, Claire. Es geht schon.”

Ryan packte das Etui für seinen Sohn in seine Hosentasche und startete mit Claire in den Arbeitstag. Kurz nachdem sie in eine Seitenstraße abgebogen waren, deutete Claire diagonal auf die andere Straßenseite und Ryan signalisierte ihr durch ein kurzes Nicken, dass er die Situation erkannt hatte. Claire überquerte die Straße, während Ryan ein Stück weiter geradeaus ging.

Ein Mann hockte auf dem Boden des Gehweges. Er verschob flink drei Nussschalen. Dabei hob er eine Schale an, sodass man darunter eine Erbse sah. Er drehte die Nussschalen wieder um und verschob noch mehrfach deren Standort. Dies machte er allerdings so langsam, dass man genau verfolgen konnte, wo sich die Erbse befand. Um ihn herum standen mehrere Leute. Ein junger Mann setzte 200 Dollar als Einsatz. Dann hob er eine Nussschale, unter der sich dann tatsächlich die Erbse befand.

Der Hütchenspieler nahm ein Bündel Geld aus der Tasche und zählte 200 Dollar ab, die er dem Gewinner übergab.

Ein Passant, der das Spiel zuvor beobachtet hatte, glaubte, er könne sich auch auf leichte Art Geld verdienen und setzte hundert Dollar.

Der Hütchenspieler erhob sich und zählte seinerseits 100 Dollar ab, ließ aber dabei einen Schein herunterfallen. Der Gewinner von vorher hob den Schein auf und trat kurz zwischen die beiden. Der Hütchenspieler nutzte die Situation und verschob mit seinem Fuß geschickt die Nussschalen. Der Passant, der dies nicht bemerkt hatte, beugte sich hinab und drehte die Nussschale um, unter der er die Erbse sicher vermutet hatte. Natürlich lag sie nicht darunter.

Augenblicklich erkannte der Passant, dass man ihn soeben getäuscht hatte.

“Das ist doch Betrug!”, schrie er. Der Gewinner von vorhin, der noch immer neben dem Verlierer stand, riss ihm den Hundertdollarschein aus der Hand. Der Betrogene versuchte, den Schein wieder zurückzuholen, doch dazu hatte er keinerlei Chance. Im Gegenteil. Es stellte sich heraus, dass der Hütchenspieler und der Gewinner von vorher gemeinsame Sache machten und ihn wegstießen. Mit weiteren Drohungen schlugen sie ihn in die Flucht und er suchte das Weite. Claire, die mittlerweile nur noch wenige Meter von den Betrügern entfernt war, lief ohne Umweg auf sie zu. Einer der beiden entdeckte sie und warnte seinen Kumpan. Die Spieler drehten sich sofort um und rannten vor ihr in die entgegengesetzte Richtung weg. Doch schon nach wenigen Metern trafen sie auf Ryan, der direkt auf sie zugelaufen kam. Sie stoppten augenblicklich und zögerten einen Moment. Als sie erkannten, dass sie wegen des dichten Verkehrs die Straße nicht überqueren konnten, rannten sie wieder zurück, preschten geradewegs auf Claire zu und wollten sie brutal umrennen.

Als der erste auf ihrer Höhe war, wich sie geschickt aus und stellte dem Mann ihren Fuß in den Weg, sodass dieser der Länge nach auf den Asphalt knallte. Der zweite stoppte kurz vor ihr, holte mit der rechten Faust aus und schlug zu. Claire bückte sich und der Schlag ging ins Leere. Sie packte blitzschnell zu und drehte den Arm des Angreifers nach hinten. Der Angreifer schrie vor Schmerz laut auf.

Claire legte ihm die Handschellen an. In der Zwischenzeit hatte Ryan den zweiten Mann erreicht, der sich wieder vom Boden hochgerappelt hatte, und legte auch diesem die Handfesseln an.

Ryan packte ihn unsanft an und schob ihn zu seinem Kumpan. Ryans Ton war leicht genervt, als er wieder neben Claire stand.

“Was machen wir nun mit denen? … Ich hab’ heute noch nicht mal ‘nen Kaffee gehabt.”

Claire war offensichtlich auch nicht danach zumute, seitenlange Berichte zu schreiben. “Wegen so was hab’ ich auch keine Lust auf Papierkram.”

Sie sahen sich kurz an und nicken sich zu. Ryan ging auf die zwei Ganoven zu, öffnete beiden die Handschellen und drehte sich zu Claire um.

“Wie viel?”

“Hundert.”

Ryan hielt den zweien die offene Hand hin.

“Na los, macht schon!”

Einer der beiden zückte widerwillig einen Einhundertdollarschein. Ryan steckte ihn ein und trat beiseite.

“Wenn wir euch hier jemals wiedersehen, dann buchten wir euch für eine ganze Weile ein.”

Die zwei sahen zuerst auf Ryan, dann blickten sie sich gegenseitig kurz an, um sich dann schnellstens aus dem Staub zu machen. Für Claire hatten sie nur einen finsteren Blick übrig.

“Gehen wir einen Kaffee trinken!”, sagte Claire.

Auf dem Weg zu einem Straßencafé trafen sie den zuvor betrogenen Passanten, der die Geschehnisse der vergangenen Minuten aus sicherer Entfernung mit angesehen hatte. Er schaute mit betretener Miene den zwei Beamten entgegen.

Ryan streckte ihm den Hundertdollarschein entgegen und

sagte:

“Das vorhin war Ihnen hoffentlich eine Lehre für die Zukunft.”

Der Passant nickte und bedankte sich bei den Beamten.

Manchmal trägt der Teufel weiß

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