Читать книгу Manchmal trägt der Teufel weiß - Andreas Dürr - Страница 9
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ОглавлениеKen Fowler stand hinter der Kasse und wartete, bis ein Kunde das Geld für seinen Kauf aus den Hosentaschen zusammengesucht hatte. Die Wartezeit, die sich länger hinzog, nutzte er, um seinen jungen Angestellten beim Einräumen der Ware zu kontrollieren. Endlich konnte er den Zwanzigdollarschein entgegennehmen und kramte in seiner Kasse, um das Rückgeld abzuzählen. Er bedankte sich und gab dem Kunden vier Dollar und zwanzig Cent zurück. Er wartete, bis dieser seine Ware eingepackt hatte und sah dazwischen einmal kurz zu seinem farbigen Angestellten, der gerade an einem fahrbaren Rondell, in dem verschiedene Zeitschriften steckten, beschäftigt war.
Ken Fowler, ein Mittvierziger mit leichtem Bauchansatz und Schnurrbart, war stolz darauf, dass er es trotz Widerstand des Gemeinderates geschafft hatte, am Rand der Kleinstadt seinen eigenen Laden aufzubauen. Da der kleine Supermarkt direkt am Highway gelegen war und Ken Platz für zehn Fahrzeuge geschaffen hatte, waren die Umsätze mehr als zufriedenstellend.
Der Kunde verließ den Laden und kaum erklang die Türglocke zum zweiten Mal, da stürmte Ken hinter seinem Tresen hervor und stellte sich zu seinem Angestellten. Dieser schaute erschrocken auf und sein Blick war, wie immer, wenn sein Chef so dicht vor ihm stand, unweigerlich auf die Halbglatze gerichtet, die wie eine Billardkugel glänzte. Ken Fowler war mit eins dreiundsiebzig nicht gerade ein Riese und wann immer er seinen Angestellten Steve belehrte, bekam dieser mit seinen eins fünfundneunzig einen Gratis-VIP-Ausblick auf Kens nicht vorhandene Haarpracht.
“Steve, was glaubst du, weshalb wir bis heute noch nie einen Diebstahl zu verzeichnen hatten … na, was denkst du wohl?” Der achtzehnjährige Steve, der die Intelligenz scheinbar nicht gerade mit Löffeln gegessen hatte, schaute seinen Chef entgeistert an. Der legte, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, seinen Kopf in eine leichte Schräglage. Er musste eine Weile so verharren, denn die überaus geistreiche Antwort, über die Steve angestrengt nachdachte, nahm erhebliche Zeit in Anspruch. Dann endlich erlöste er seinen Chef. “Keine Ahnung.”
Ken war ein geduldiger Mann und so war es für ihn selbstverständlich, seinen jungen Zögling einzuweihen.
“Komm”, sagte er und verschwand wieder hinter seinem Tresen, der wiederum für Steve ein unüberwindliches Hindernis darzustellen schien. Ken Fowler sah hoch zu Steve, der wie ein großes Riesenbaby zu ihm hinuntersah.
“Na komm schon, komm hierher zu mir rüber.”
Steve begab sich vorsichtig zu Ken.
“Steve, bevor du morgen für eine Woche zu deiner Mom in den Urlaub fährst, darfst du heute noch etwas lernen. Jetzt dreh dich um, damit du alle Gänge im Blick hast.”
Ken deutete auf die vier Regalwände und die Gänge, die sie voneinander trennten.
“Fällt dir etwas auf, Steve?” Ken machte eine Pause. Da er erkannte, dass vor Feierabend mit keiner befriedigenden Antwort zu rechnen war, klärte er Steve auf.
“Siehst du, dass wir von hier aus alle Gänge überblicken können? Dort, wo es schwierig wird, sind Spiegel angebracht … Siehst du?”
Steve nickte. Ken fuhr fort: “Nur da, wo du vorhin den Zeitschriftenständer ein wenig verschoben hast, dort können wir nicht alles überschauen.” Damit verließ er seinen Platz, begab sich zum besagten Ständer und verschob ihn um einige Zentimeter.
“So, jetzt haben wir wieder den vollen Überblick und Diebstahl wird auch in Zukunft für uns ein Fremdwort bleiben.”
Ken blickte zufrieden zu Steve hinüber, der wieder einmal über die Genialität seines Chefs staunte.
Ken sah hinaus. Er freute sich über jeden Kunden, der den Weg in seinen Laden fand. Deshalb erhellte sich sein Gesicht, als draußen ein blauer Chevy parkte. Er sah, wie eine junge blonde Frau in Jeans aus dem Wagen kletterte und schnurstracks auf seinen Laden zusteuerte.
Sara öffnete die Ladentür und betrat den Supermarkt.
“Einen schönen guten Tag”, sagte Ken.
“Hallo”, antwortete Sara und sah sich im Geschäft um. Steve sah sie an, als käme sie von einem anderen Stern. Sara grinste ihn freundlich an. Sie schlenderte scheinbar gelangweilt durch Kens Geschäft und zog eine Flasche Wasser aus einem Regal. Aus einer Glastheke, die direkt neben Kens Kasse aufgebaut war, entnahm sie zwei Sandwiches.
“Haben Sie eine Tüte?”
“Selbstverständlich.”
Ken reichte ihr eine Papiertüte. Sie packte alles hinein.
Ken lächelte und gab Sara den freundlichen Hinweis, dass er die Ware zuvor noch abscannen sollte und sie ihren Einkauf deshalb noch einmal würde auspacken müssen. Sara lächelte überaus freundlich zurück. Dann sah sie zu Steve und lächelte auch ihn so nett an, dass es für jeden durchschnittlichen Mann ausgereicht hätte, den Rest der Woche gut gelaunt in den Arbeitstag zu starten.
Doch plötzlich rannte Sara zum Ausgang und von dort zum Chevy, der noch immer auf dem Parkplatz stand.
Rick spielte am Radio, als er sah, wie Sara aus dem Supermarkt stürmte. Hinter ihr her rannte ein kleiner Mann mit Halbglatze, dessen weißer Kittel offenstand und im Wind auf und ab wogte. Automatisch startete er den Motor seines Wagens und hielt Sara von innen die Tür auf. Kaum hatte sie sich auf den Sitz geworfen, da setzte Rick den Chevy mit quietschenden Reifen in Bewegung. Ken verfolgte Ricks Auto noch einige Meter, bevor er aufgab.
Rick, der keine Ahnung hatte, in welcher Absicht Sara zuvor in den Laden gegangen war, konnte seinen Ärger nicht verbergen.
“Sag mal, hast du sie noch alle?”, fragte er verärgert.
“Jetzt bleib mal ganz ruhig. Du hast doch gesagt, du hast Hunger. Hier, iss!”
Sie nahm ein Sandwich aus der Tüte und reichte ihn Rick.
“Spinnst du eigentlich! Du kannst doch nicht einfach einen Supermarkt ausrauben. Sara, das geht so nicht!”
Sara hielt ihm noch immer den Sandwich unter die Nase.
“Hast du jetzt Hunger oder nicht?”
Rick blickte sie sauer an. Er sah verstohlen auf das Essen. Dann packte er den Sandwich, riss ihn Sara aus der Hand und biss hinein.
Er hatte den Imbiss gerade mit Heißhunger verzehrt, als Sara sagte:
“Ich hab’ den Supermarkt nicht ausgeraubt. Wenn es dich beruhigt: Es war Mundraub. Du weißt: Ich tu, was zu tun ist.”
Maria öffnete den Fensterladen, sodass das Zimmer bis in den letzten Winkel von den Sonnenstrahlen erreicht wurde. Sie ging zu einer Kommode und breitete ein weißes Tuch darüber aus. Sie wollte gerade das Zimmer wieder verlassen, da verharrte sie neben einer Liege, die mitten im Raum stand. Sie betrachtete mit trauriger Miene den kleinen Ricardo, der regungslos mit geschlossenen Augen dalag. Entweder war er eingeschlafen oder jemand hatte dafür gesorgt, dass er schlief.
Maria war vor drei Jahren illegal aus Mexiko in die USA geflohen, weil sie dort viel höhere Verdienstmöglichkeiten hatte. Ein Cousin, der einem Drogenkartell angehörte, hatte ihr zur Flucht verholfen. Sie durchquerte damals einen unterirdischen Tunnel, an dessen Ende sie auf US-Territorium stand. Sie musste dafür lediglich ein Päckchen mit über die Grenze nehmen und an einer bestimmten Adresse abliefern, die ihr der Cousin mitgeteilt hatte. Sie wollte damals wissen, welchen Inhalt das Paket hatte, doch ihr Cousin meinte, es sei besser, wenn sie nicht nachfragen würde. So beließ sie es dabei und war froh, dass die Kontaktperson ihr eine gut bezahlte Arbeit vermittelte.
Sie arbeitete über zwei Jahre an ihrer ersten Arbeitsstelle, die ihr der Cousin vermittelt hatte. Dann nahm sie diese neue Arbeit an, von der sie bis heute nicht so recht wusste, um was es eigentlich ging. Sie machte den Haushalt in einem Haus, das in der Regel unbewohnt war, und nur ab und an kamen fremde Menschen, die immer nur für einige Tage hier blieben. Ihr Chef, ein Arzt, tauchte dann für kurze Zeit auf und untersuchte diese Leute. Die USA würden wohl immer fremd für sie bleiben. Maria verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Rick sah Sara noch immer verärgert an, sagte aber nichts weiter. Nach kurzer Zeit fuhren sie in die Stadt. Sara entdeckte als Erste die Tankstelle, die am Straßenrand aufgetaucht war.
“Halt da vorne, da bekommen wir Sprit!”
“Und wie hast du dir das vorgestellt? Sollen wir noch während des Tankens mit Vollgas einen Abgang machen? Am besten, ohne vorher den Zapfhahn zu entfernen?”
Sara überhörte den Sarkasmus.
Sie parkten in der Nähe der Tankstelle. Rick schaltete den Motor aus, drehte sich zu seiner Begleiterin und stemmte seine Hände in die Hüften.
“So, und nun?”
“Lass mich nur machen. Warte hier. Es kann einen Moment dauern.” Sie sah ihn dabei aufmunternd an und
zwinkerte ihm zu.
Sara verließ das Fahrzeug und ging die Straße hinab.
Claire und Ryan fuhren langsam die Hauptstraße hinunter. Alles schien ruhig zu sein. Ryan sinnierte darüber, weshalb es nicht häufiger so sein konnte. Keine Unfälle, keine Eheauseinandersetzungen, kein Banküberfall, keine Amokläufer, keine Bagatellsachen und so weiter. Einfach nur mit der Kollegin Streife fahren ohne weitere Vorkommnisse, so könnte es weitergehen, dachte Ryan. Er war mit Claire in seinem privaten PKW unterwegs, bis der von der Behörde bestellte Dienstwagen endlich eintreffen würde.
“Ich komme mir hier drin vor wie ein Detective oder ein FBI-Agent.”
“Das würde dir wohl gefallen, was?” Claire schmunzelte. Ryan fühlte sich nicht ernst genommen.
“Warum nicht, ich wär’ sicher nicht der schlechteste.”
Ryan hatte seinen Satz kaum ausgesprochen, da plärrte es aus dem Funkgerät: “Hier Zentrale, eins, bitte kommen!”
Claire ging ans Funkgerät.
“Hallo Tom, hier ist Claire, was gibt’s?”
“Claire, fahrt doch mal raus in die 36 Lincoln Street. Da hat gerade jemand angerufen und ein Haufen wirres Zeug von wegen Überfall erzählt. Sicher wieder nur so ein Wichtigtuer. Aber gehen wir auf Nummer sicher.”
“Ist gut, Tom. Wir sehen uns dort mal um.”
Claire sah dabei zu Ryan. Der nickte und bog links in die nächste Straße ab. Von dort ging es dann gerade hinunter, bis er in die Lincoln Street einbog. Dreihundert Meter weiter drosselte er die Geschwindigkeit, um kurz darauf seinen Ford am Straßenrand zu parken. Beide stiegen aus und gingen zur Haustür. Claire drückte den wackligen Knopf der schief hängenden Klingel.
Während sie ein zweites Mal läutete, entfernte sich Ryan, um sich hinters Haus zu begeben. Als niemand öffnete, versuchte Claire erneut Einlass zu bekommen, dann entfernte sie sich einige Schritte vom Haus, um nach etwas Auffälligem Ausschau zu halten. Als sie nichts entdecken konnte, ging sie wieder in Richtung Eingang, und schaute in unmittelbarer Nähe der Tür durch ein kleines Fenster. Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. Vor ihr stand Ryan, der sich mit seiner Hand ein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. Dann nahm er sein Taschentuch beiseite. Sein Gesicht war sehr ernst, als er zu Claire sagte:
“Ruf’ die Zentrale an. Hier drin liegen zwei Leichen. So wie es aussieht, wurden beide erschossen.”
Claire sah kurz an Ryan vorbei ins Haus, um dann gleich zum Wagen zu gehen, während Ryan wieder ins Haus zurückging. Ryan ging an Miriam vorüber, die tot auf dem Sofa lag. Er sah sich um, ohne etwas anzufassen, und schaute durch die geöffnete Zimmertür hinüber zu George. Dann ging er langsam weiter. Er musste sich vergewissern, dass sich niemand sonst im Haus befand. Ryan meinte, ein Geräusch vernommen zu haben, als er zu Saras Tür sah, welche nur angelehnt war. Deshalb zog er seine Waffe und betrat vorsichtig ihr Zimmer. Nachdem er eingetreten war, huschte eine Katze an ihm vorüber. Als er sich umsah, entdeckte er eilig aus dem Schrank gerissene Kleider, die teilweise auf dem Teppich und auf dem Bett verstreut waren. Auf dem Boden ausgebreitet lag ein zerrissenes Kleid. Auf dem Tisch befand sich ein geöffneter Brief, den Ryan mit dem Lauf seiner Waffe so verschob, dass er ihn lesen konnte, ohne sich verrenken zu müssen. In die Hand nehmen konnte er ihn nicht, da er die Spurensicherung nicht in den Wahnsinn treiben wollte. Es handelte sich dabei um den Befund, den Sara von Doktor Spack erhalten hatte. Ryan nahm wahr, wie Claire das Haus betrat. Sie hielt sich ebenfalls ein Taschentuch vors Gesicht, um den sich ausbreitenden Geruch ertragen zu können.
“Das ist ja ein schrecklicher Anblick”, meinte sie.
“Claire, lass uns draußen auf die Mordkommission warten.”
Claire nickte und beide verließen das Gebäude.