Читать книгу Manchmal trägt der Teufel weiß - Andreas Dürr - Страница 7
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ОглавлениеAm frühen Abend hatte sich Sara wieder zu Hause eingefunden. Sie trat über die Schwelle. Alles war ruhig, nicht einmal der Fernseher lief. Es schien niemand da zu sein. Sara ging geradewegs in ihr Zimmer, schnappte sich eine Zeitschrift vom Tisch, warf sich der Länge nach aufs Bett und blätterte in der Illustrierten. Doch schon nach kurzem horchte sie auf. Miriam stand hinter der verschlossenen Tür und lauschte. Dann sagte sie:
“Sara, wollen wir wieder einmal gemeinsam was Nettes am Fernseher ansehen?”
Sara hatte nicht wirklich Lust darauf.
“Nein Mom, heute lieber nicht.”
“Ach komm, hab’ dich nicht so.”
Sara atmete tief durch, sagte aber nichts.
“Ich habe dir auch einen Apfelkuchen gebacken. Den, den du so gerne magst.”
Sara war sehr erstaunt.
“Wirklich, das hast du getan?”
“Ja, den hab? ich für dich gebacken.”
Pause. Miriam lauerte auf eine Antwort.
“Also gut, ich komme.”
“Zieh dir noch was Schönes an, dann machen wir es uns richtig gemütlich.”
Sara kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Mom zuletzt so nett gewesen war.
Saras Kleid musste man schlichtweg als hübsch bezeichnen. Die irdenen Farben gingen dezent ineinander über, die Schultern waren bis auf zwei Bändchen frei und es reichte hinab bis zu ihren Knöcheln.
Sie verließ ihr Zimmer und überraschte offensichtlich Miriam, die hastig irgendetwas in eine Schublade zurückschob. Dann schloss sie die Kommode ab und streifte die Schnur, an welcher der Schlüssel hing, über ihren Kopf. Sara beobachtete dies sehr interessiert. Sie wusste, die Schublade stand nie offen. Sara hatte schon beobachtet, dass sich Miriam, nachdem sie die Schublade wieder einmal verschlossen hatte, durch mehrfaches Rütteln daran vergewisserte, dass sie auch wirklich abgesperrt war. Sara hatte schon einige Male daran gedacht, sich den Schlüssel heimlich anzueignen, um nachzusehen, welche Schätze sich darin befanden. Dann fragte sie sich, was Miriam schon besäße, das von Interesse für sie sein konnte. Die Antwort war immer dieselbe: “Nichts.”
Miriam hatte sich schnell wieder gefasst.
“Schick sieht es aus. Sara, du errätst nicht, wer da ist?” Miriam zeigte dabei mit der rechten Hand ins Wohnzimmer, wo George auf der Couch saß und herüberstarrte.
Sara erschrak zutiefst – ja, sie fing augenblicklich am
ganzen Leib an zu zittern.
“Komm, setz dich zu uns”, meinte Miriam, die sich zuvor noch etwas zu knabbern aus der Küche geholt hatte. Sara ging wie in Trance zum Sofa und setzte sich, so weit wie möglich von George entfernt nieder.
“Mom, wo ist der Apfelkuchen?”
Miriam lächelte verschämt.
“Mom, hast du nun einen gebacken oder nicht?”
Miriam tat ganz unschuldig.
“Ach, Sara … ich musste mir ja was einfallen lassen, damit du dich zu uns setzt.”
Sara sah mit einem stechenden Blick auf Miriam.
Die setzte sich zwischen Sara und George, der bisher still, aber dafür mit schmierigem Lächeln die Szene verfolgte.
Sara sagte mehr zu sich selbst: “Ich habe eine trockene Kehle, ich muss was trinken.”
Sie füllte sich ein Glas mit Wasser und trank einige kräftige Schluck. Zeitgleich hob Miriam ihr Weinglas an:
“Jetzt trinken wir auf George, der uns ab jetzt hoffentlich öfter besuchen wird.”
Sara prustete bei diesem Satz mindestens die Hälfte dessen wieder aus, was sie eben zuvor zu sich genommen hatte.
Rick fuhr in seinem fast dreißig Jahre alten blauen Chevy aus dem Zentrum der Stadt hinaus. Er schien einerseits konzentriert, andererseits in Gedanken versunken. Plötzlich schmunzelte er und bewegte ein wenig den Kopf hin und her, als ob er an etwas Unsinniges dachte.
Er drosselte ein wenig die Geschwindigkeit und versuchte, an den vorüberhuschenden Häusern die Nummern zu erkennen. Dann sah er, dass es das übernächste Gebäude sein
musste.
Rick parkte seinen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und stieg aus. Als er an der Haustür angekommen war, läutete er zweimal. Nachdem niemand öffnete, betätigte er die Klingel dreimal hintereinander.
Die Tür bewegte sich nach außen und Miriam stand in ihrem billigen, teils kräftig verschmutzten Kleid vor ihm.
Rick musste sich fast kneifen, dass er nicht schallend loslachte, als sein Blick auch noch auf die ausgelatschten Sandalen fiel. Er dachte noch bei sich: “Nicht weiter darüber nachdenken, bloß nicht daran denken.”
Doch dann passierte es! Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, kam hinzu, in Gestalt eines nackten Körperteils. Miriam, die ein wenig den rechten Fuß drehte, offenbarte damit ein riesiges Loch in ihrem Strumpf, sodass der knollige große Zeh daraus hervorlugte.
Rick lachte einmal kurz und heftig, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. Er zwang sich, einfach nicht hinzusehen und konzentrierte sich auf das, was er ihr zu sagen hatte.
“Ich weiß, es ist spät, aber ich möchte zu Sara.”
Miriam sah ihn verständnislos an. Rick blickte kurz etwas verlegen.
“Ich möchte bei ihr meine Fahrradlampe abholen.”
Miriams Blick war noch immer ohne jedes Verständnis. Doch dann erhellte sich auf einmal Miriams Miene.
“Haben sie Geld dabei?”, fragte sie.
Nun war Rick irritiert.
“Nein, nein. Sie verstehen nicht. Ich will nur meine Lampe abholen. Sara hat …”
Miriam war plötzlich sehr reserviert.
“Sara ist beschäftigt. Kommen Sie in einer Stunde wieder.”
Damit knallte sie Rick die Türe vor der Nase zu.
Rick stand vor dem Eingang und schüttelte konsterniert seinen Kopf. Er drehte sich um hundertachtzig Grad und ging. Er konnte es nicht fassen, dass ein so hübsches und intelligentes Geschöpf wie Sara eine solche Mutter hatte.
Rick war keine zehn Schritt vom Haus entfernt, da hörte er Schreie, die aus dem Haus kamen. Er hatte keine Zweifel, dass jemand in großer Not war.
Rick machte auf dem Absatz kehrt und rannte auf das Gebäude zu. Er wollte die Tür öffnen, doch die war verschlossen. Mehrere Versuche blieben erfolglos. Da entfernte er sich einige Schritte von ihr, rannte los und rammte sie mit seiner Schulter, worauf deren billiges Schloss sofort aufbrach. Er stand im Raum und sah, wie Miriam erschrocken in der Mitte des Wohnzimmers stand und in Richtung Zimmertür starrte.
Rick registrierte dies kurz, um dann sofort auf die Tür loszustürmen. Er versuchte gar nicht erst, sie normal zu öffnen, sondern wandte erneut seine zuvor so erfolgreiche Technik an. Nachdem er auch dieses Hindernis überwunden hatte und nach wenigen Schritten im Zimmer stand, konnte er nicht fassen, was sich hier abgespielt haben musste. Es ließ ihm buchstäblich das Blut in seinen Adern gefrieren. Ja, es war so furchtbar, dass er das Gefühl hatte, nicht mehr agieren zu können. Es war ihm, als wären die physikalischen Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt. Er wollte etwas tun, ihm war klar, er musste etwas tun, doch er konnte es nicht. Höchstwahrscheinlich war ohnehin bereits alles zu spät. Erst danach wurde ihm bewusst, dass er unter Schock stand. Diese Bilder waren zu viel und zu unerwartet für ein normales Gehirn, denn eine derartige Attacke musste ein menschliches Wesen erst einmal verdauen. Sollte ein Außenstehender beobachtet haben, wie lange Rick benötigte, um dieses sich vor ihm abspielende Drama zu verarbeiten, hätte er ihm applaudiert, denn schon nach drei bis vier Sekunden, was Rick selbst allerdings in jenem Augenblick vorkam wie eine halbe Ewigkeit, war er wieder voll da.
Sara stand zitternd in ihrem zerrissenen Kleid neben dem Bett. In einiger Entfernung stand George, der die rechte Hand an den Hals presste. Zwischen seinen Fingern schoss jede Menge Blut hindurch, derartig, wie das heiße Wasser aus Strokkur, dem isländischen Geysir, aus der Erde hervorgeschleudert wird. Allerdings kam hier die rote Flüssigkeit im Sekundentakt aus Georges Schlagader herauspulsiert.
Saras linker Arm baumelte herunter. In der Hand hielt sie fest umschlossen den abgebrochenen Teil einer Vase, von dem Blut zu Boden triefte.
George erhob seine linke Hand und streckte sie in Richtung Sara, wobei er Schritt für Schritt auf sie zu torkelte. Direkt vor ihr brach er tot zusammen.
Rick ging nun schnell zu Sara, die noch immer im Schockzustand verharrte. Er nahm ihr behutsam den Scherben aus der Hand.
Miriam betrat mit offenem Mund den Raum und fing
umgehend an, hysterisch zu schreien:
“Du hast ihn abgeschlachtet, du hast ihn abgeschlachtet, abgeschlachtet wie ein Stück Vieh!”
Rick ging zu ihr und packte sie am Arm. Sara kam hinzu, fasste ihren zerfetzten Rock an einem Zipfel und hob ihn Miriam entgegen und sagte:
“Er war ein Stück Vieh!”
Rick schob Miriam aus dem Zimmer und setzte sie auf die Couch. Dann ging er zurück zu Sara, während Miriam schrie:
“Das bringt dich auf den elektrischen Stuhl!”
Rick stand einen Moment nachdenklich da, sein Gehirn arbeitete fieberhaft daran, was man als Nächstes tun könnte. Sara ging apathisch an ihm vorüber und sagte: “Ich muss duschen. Rick, ich geh’ jetzt duschen.”
Rick, dem noch immer nicht klar war, was zu tun sei, stimmte ihr nickend zu. Dann hörten sie im Hintergrund, wie Miriam weiter geiferte: “Ich werde bezeugen, was du getan hast. Das bringt dich in die Gaskammer.”
Nur zwanzig Minuten später stand Sara wieder im Wohnzimmer. Frisch geduscht trug sie jetzt eine Jeans und über ihrer Schulter hing eine Tasche mit allem, was ihr wichtig erschien.
“Rick, ich muss hier verschwinden.”
“Aber warum denn? Sara, das sieht doch ein Blinder, dass das Notwehr war.”
Sie ging zu Rick und streichelte ihm sanft über die Wange.
“Das verstehst du nicht.”
Sara ging an ihm vorüber und blieb mitten im Raum
stehen. Sie schaute zur Schublade, die Miriam immer so sorgfältig verriegelte, als täte sich dahinter die Schatzkammer des Tower of London auf. Saras Blick wanderte zwischen ihrer Mutter und der Schublade hin und her. Sie bewegte sich flink zum Sofa, riss Miriam den Schlüssel vom Hals, sodass diese kurz vor Schmerz aufschrie, rannte zur Kommode, öffnete die geheimnisvolle Schublade und nahm eine Schatulle mit einem Stapel Briefen heraus.
“Halt, Sara, was machst du? Das darfst du nicht. Du hast kein Recht dazu!”
Doch Sara kümmerte sich nicht darum, was ihre Mom zu sagen hatte.
Sie öffnete einen der Briefe und las ungläubig, was darin geschrieben stand.
“Die sind ja für mich! Die sind von meinem Dad! Dad lebt! Er lebt, Dad lebt!”
Hastig öffnete sie zwei weitere Briefe, die sie schnell überflog. Sie sah fassungslos auf die Briefe.
“Die sind alle von meinem Dad!”
Sara verstaute den Briefstapel in ihrer Tasche, bewegte sich in Richtung Ausgangstür, blieb vor Miriam stehen und sah ihr, um Worte ringend, in die Augen. In Saras Gesicht war nichts als blanker Hass zu erkennen, als sie wortlos das Haus verließ. Miriam schrie ihr mit schriller Stimme hinterher: “Geh nur. Sie werden dich kriegen. Und dann werde ich dich anklagen. Ich werde berühmt!”
Rick ging genervt an Miriam vorbei.
“Ach, halt’ doch einfach deinen Mund”, sagte er zu ihr.
Danach trat er hinaus ins Freie.
“Sara, warte!”
Sara blieb stehen und drehte sich um. Rick holte sie ein und sah ihr eindringlich in die Augen. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge.
“Was ich jetzt mache, ist vielleicht völliger Wahnsinn … Was soll’s, komm’, steig? ein. Ich fahr’ dich, wohin du willst.”
Rick deutete auf seinen Wagen.
Sara war fassungslos und staunte nicht schlecht.
“Du hast einen Wagen?!”
Rick sah zu ihr hinüber, dabei huschte ihm ein leichtes Lächeln übers Gesicht. Nachdem sie beide im Auto saßen, startete Rick den Motor.
“Wohin soll es gehen?”
“Ich weiß noch nicht genau. Erst mal weg von diesem Wahnsinn hier.” Sara sah ein letztes Mal hinüber zu dem Haus, in welchem sie fünfzehn Jahre lang, zumeist sehr unglücklich, hatte verbringen müssen. Das Ende dieser Jahre war nicht unbedingt vorhersehbar, jedoch auf der anderen Seite irgendwie unvermeidbar gewesen. Sara hatte dort an so manchem Tag die Hölle durchlebt. Jetzt, endlich, nach so vielen Jahren, wollte sie diesem Albtraum ein für alle Mal entfliehen. In ihr keimte ein Funken Hoffnung auf, als sie an ihre Zukunft dachte.
Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war: Die Hölle würde sie verfolgen und nicht einfach von ihr ablassen. Genau genommen hatte sie sich für sie einen besonders teuflischen Plan erdacht.