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VIII

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Susannes Haus. Lara bei ihrer Mutter

Sie wollte nur noch weg. Am liebsten weit weg. In diesem Moment war Lara sehr froh, dass ihre Mutter ihr den Urlaub in der Türkei geschenkt hatte. Wahrscheinlich war sie ohnehin froh darüber. Aber ihrer Mutter zeigte sie das nur sehr ungern. Wie ein kleines Schulmädchen saß Lara am Küchentisch. Zu schüchtern, um etwas zu sagen. Zu eingebildet, um ihre Mutter wenigstens ein bisschen aufzumuntern. Und doch spürte sie eine große Menge Mitleid mit ihr.

Vor dem Fenster zogen die Wolken uninteressiert vorbei. Die Sonne stand hoch. Es war früher Nachmittag und in der Küche roch es dementsprechend noch nach Essen.

„Und“, begann Susanne zögerlich. Ihre Stimme flatterte in der Luft wie ein fragiler Papierflieger. „Wie geht´s di so in der Stadt?“ Manchmal klang es, als würde sie lispeln.

„Gut.“

„Schön“, sagte sie in einem hohen Ton, als ob sie nur noch körperlich anwesend wäre. Und es war erschreckend, wie sehr Susanne schon Laras Großmüttern ähnelte. Wenn man bei denen zu Besuch gewesen war, dann saß man nur auf der Bank, hatte stumm den Kühlschrank angestarrt und gewartet, bis man endlich wieder gehen durfte, bis die Eltern endlich sagten: „Also, wir fahren jetzt wieder nach Hause.“

Aber Lara war jetzt erwachsen. Und das schon eine ganze Weile. Sie müsste selbst sagen, dass sie jetzt gehen wollte. Aber irgendwas saß tief in ihr und hinderte sie noch daran. Sie dachte für einen kurzen Moment, dass es etwas wie eine undurchdringliche und natürliche Liebe zwischen Mutter und Kind war. Doch dann verwarf sie den Gedanken und wollte sich nicht länger damit beschäftigen.

„Illst Kaffee? Soll ich ein achen“, fragte Susanne ohne die Lippen zu bewegen und sah ihre Tochter an wie ein einsamer Hund, dessen Oberschenkel unentwegt zuckten.

Lara wartete zunächst, bewegte unkontrolliert ihre Lippen und nickte dann, um ihr Einverständnis zu geben. Durch die halboffene Türe sah sie ihre Katze im Wohnzimmer. Minka schlief auf der Couch. Susanne hatte dort extra eine alte, orange Decke über den violetten Bezug gelegt und ihr eine Katzentoilette ins Zimmer gestellt.

„Gib ihr nicht zu viel Futter“, sagte Lara streng.

„Was?“

„Gib Minka nicht zu viel Futter. Sie braucht sich nicht an zu große Portionen gewöhnen.“

„Ja. Ja. Gut.“

„Gut.“

Susanne gab Kaffeepulver in den Filter und als sie so im Sonnenlicht stand war kaum zu übersehen, dass Lara ihre ovale Gesichtsform ihrer Mutter zu verdanken hatte.

„Und... Und wa hast heut Vormittag so gemacht?“, fragte Susanne und ihr Satz blieb im Raum stehen.

Ausdruckslos starrte Lara ihre Mutter an, während sich in ihrem Kopf abspielte, wie sie sich am Morgen auf den Weg ins Landratsamt gemacht hatte.

Für einen freien Samstag war es schon außergewöhnlich früh, als Lara das Haus verließ. Sie nahm den Bus, wie auch unter der Woche. Der Unterschied zu einem Werktag war enorm. Nur die üblichen rüstigen Rentner, die schwarzfahrenden Obdachlosen und die zwanghaften Einkaufszentrenbummler saßen auf den blauen Polstern. Die meisten von ihnen alleine, wie auch der Mann vor ihr. Er hatte sich schon länger nicht mehr gewaschen. Nicht nur, dass sie es deutlich riechen konnte, die Schuppen in seinem Haar, die von der Größe teilweise schon an das Ausmaß der Abführtabletten in Laras Handtasche kamen, waren ein zweites, unwiderlegbares Indiz für die mangelnde Hygiene des Herren.

Unter der Woche drängten sich noch unzählige kleine und große Schulkinder, Arbeitende und Auszubildende in die flotten, gelben Omnibusse, die ihre Passagiere während der Fahrt oft wie hilflose Fische in einem Aquarium durchschüttelten. Aber heute war sehr viel Platz.

Und sie war bald dort. Die Fahrtzeit schien sogar noch bedeutend schneller zu vergehen, als sonst. Das lag wohl an der Aufregung. Mit den Tabletten, die sicher aufbewahrt in einer Plastikbox in ihrer schwarzen Handtasche aus unechtem Leder lagen, verließ sie den ruhigen Bus. Nervös steuerte sie auf das flache, ziegelrote Gebäude zu. Die wenigen Ahorn- und Kirschbäume konnten das schlichte Bauwerk nicht verschleiern und ebenso offensichtlich zeigte sich Laras Nervosität. Ihr Hals wurde steif, zuckte und ihr Geisterblick flüchtete sich in unkontrolliertem Augenzwinkern.

Sie hielt die Luft an, als sie die Stufen nahm und den Universalschlüssel wackelig ins Schloss einführte.

Leise, ganz leise schlich sie in ihr Büro. Die grauen Wände machten ihr Angst und sie vermutete hinter jeder mannsgroßen Zimmerpalme eine Person, die sie beobachtete. Die Türe zu ihrem eigenen Büro musste sie noch aufsperren, dann konnte sie von dort aus unbehelligt in Danielas Raum huschen.

Uhren tickten. Sie nahm es gar nicht wahr, denn das aufgeregte Blut schoss derart kräftig durch die Gefäße ihrer Ohren, dass das permanente Rauschen noch lauter als üblich war.

Sie zog die Schublade auf, die Daniela in ihrer Naivität nicht abgesperrt hatte, und tauschte die beiden identisch anmutenden Tablettenpackungen miteinander aus. Für einen kurzen Augenblick verglich sie die beiden noch einmal.

„Fast wie eineiige Zwillinge“, murmelte sie. „Halt, da fehlt eine! Da hat sie eine genommen.“ Lara glich ihre falsche Packung umgehend an, drückte die Abführtablette an der selben Position heraus und ließ Danielas Zimmer im gleichen Zustand zurück, wie sie es vorgefunden hatte. Fast.

Sie trat aus ihrem Büro. Eilig. Eilig sperrte sie es ab und drehte sich um.

„Hallo.“

Lara schrie.

Sie schrie laut und sie hörte sich dabei an, wie ihre Mutter, wenn sie erschrak. Lara warf vor Schreck und Angst den Schlüssel in die Luft, schleuderte ihn gegen die Decke.

„Hallo“, stotterte sie. „Sie haben... Haben mich ganz schön erschreckt.“

Eine kleine, dicke Frau mit osteuropäischem Akzent stand ihr gegenüber.

„Sie wissen nicht wie viel ich das höre“, antwortete die Putzkraft trocken.

„Wieso arbeiten sie denn heute?“, fragte Lara mit schwerfälligem Atem.

„Meine kleine Tochter war krank. Gestern. Bin ich zuhause geblieben. Und jetzt putzen. Macht ja keinen Unterschied, ob Freitag Abend oder Sonntag Vormittag, oder? Am Wochenende ist sowieso keiner da. Normal.“

„Ja. Ist richtig. Ich habe nur noch was erledigt. Was Dringendes. Weil ich... Weil ich ja nächste Woche im Urlaub bin.“ Über Laras Stirn rann Schweiß. „Aber ich muss nochmal...“

„Lara?“ Ihre Mutter stach sanft mit einer spitzen Nadel in die Erinnerungsblase. Sie hatte die ganze Zeit auf eine Antwort gewartet.

„Was?“

„Wa hast gemacht? Heut Vormittag.“

„Ich war etwas für den Urlaub erledigen. Packen.“

Susanne murmelte unverständlich, aber Lara konnte der Betonung entnehmen was sie wohl sagte. Es war etwas wie: „Heute erst?“

„Ja natürlich. Ich fliege ja erst Morgen!“

„Aer was wenn du dann merkst, dass as fehlt? Dann...“

„Dann kaufe ich es ein!“

„Aber s kann immer was passiert sein und dazwischenkommen. Und morg sin d Gschäfte...“

„Mama! Sei doch still!“ Lara platzte verbal. „Du! Spinnst!“

Susanne saß geknickt auf ihrem Stuhl. Ihr Mund hing irgendwie schief in ihrem Gesicht. Die Oberlippe zitterte.

„Du brauchst mir gar nichts vom Packen erzählen! Wir sind schließlich nie in den Urlaub gefahren!“

„Weil dein Vater nie zhause is.“

„Ja! Weil er dich im Stich lässt. Uns! Aber vielleicht hat er auch nur keine Lust sich mit dir abzugeben. Ich kann ihn verstehen!“

„Das... nein.“ Susanne klang, als würde sie sich selbst nicht glauben.

„Du hast ja nicht einmal den Mumm ihm zu sagen, dass du in den Urlaub fahren willst und er sich Zeit nehmen soll! Du bist nur ein schwaches Tier. Man könnte fast Mitleid haben mit dir! Aber ich will mich gar nicht zu sehr an dich anpassen. Ich will nicht so schwach werden wie du es bist. Und Papa will das wahrscheinlich auch nicht!“

Susanne weinte. Salzige Tränen liefen entlang der feinen Falten herab und glitzerten im Sonnenlicht, während ihr ganzes Gesicht nach unten sackte.

„Als ich noch jünger war hab ich deine Schwäche noch nicht so wahrgenommen. Ist ja klar. Mit den Jahren spürte ich es dann, aber ich hab noch weiterhin beim Abwasch geholfen und den Müll freiwillig rausgetragen. Ich hab nach dem Essen den Tisch abgeräumt und dich davor gefragt, ob du noch was zu dir nehmen wolltest. Aber selbst wenn du noch Hunger hattest, hast du mit `Nein` geantwortet. Hauptsache nicht widersprechen. Hauptsache keine Form von Streit und Ärger. In diesem Haus sollte es keine Komplikationen geben! Die perfekte Familie? Wie naiv, schwach und dumm warst und bist du eigentlich?“

Susannes geschwollene Tränensäcke erbrachen sich immer heftiger. Sie saß da, versuchte zu implodieren, wedelte aber gleichzeitig ungleichmäßig mit den Armen und weinte.

Es schmerzte Lara. Natürlich. Aber darauf hatte sie hingearbeitet. Das wollte sie ihr schon immer sagen. Und sie war stärker als ihre Mutter, also konnte sie es ihr auch sagen. Das musste sie sich und Susanne beweisen.

Und sie skandierte weiter.

„Irgendwann hab ich dann nicht mehr gefragt, ob du den Käse noch brauchst. Und bald bin ich einfach vom Tisch aufgestanden und habe alles liegen lassen. Du hast es ja nicht fertig gebracht was zu sagen. Wolltest mir ja nie widersprechen. Ich sollte ja eine schöne Kindheit haben. Als ob es dadurch schöner gewesen wäre. Zum Kotzen! Ich war so froh als ich auszog. Ich bin es auch jetzt noch!“

„Hö au“, schluchzte Susanne unverständlich. Lara war wie ein erbarmungsloses Erdbeben über ihre Mutter hereingebrochen und hatte bei Susanne einen regelrechten Augen-Tsunami ausgelöst.

Ein schreckliches Bild, das Lara in ihrer Mutter zeichnete. Es begann sie zu berühren und sie rannte stumm und schnell aus der Küche, um ihre Emotionen zu verbergen.


Es vergingen fünf Minuten, in denen sich niemand vom Fleck rührte. Nicht einmal Minka. Die gebrochenen Dämme wurden langsam wieder repariert. Zumindest bei Lara. Sie kontrollierte weinend ihr E-Mail-Postfach im staubigen Arbeitszimmer ihres Vaters. Es war leer.

Dann biss sie sich knirschend auf die Zähne, als sie wieder die Küche betrat und sich ihrer Mutter näherte. Bizarre Sonnenstrahlen fielen auf Susanne und zeichneten ihr Abbild in sanften Schattentönen auf den hellgrauen Boden. Ihre Tränen glitzerten im Licht.

„Warum bist du so schwach?“ Lara zerriss mit ruhigen, aber harten Worten die zähe, schützende Decke des Schweigens.

Auch Susanne hatte mittlerweile aufgehört zu weinen. Sie starrte apathisch auf die Wand vor ihr. Man konnte meinen, sie hätte sich in der kurzen Zeit an den Raum angepasst und war nun nur mehr ein statisches Küchengerät, das beschäftigungslos auf seinem Platz weilte.

„S hat mich so ählich dein Vater auch gefragt“, sagte sie dann plötzlich.

„Wann?“, fragte Lara entsetzt. Sie war bestätigt und doch fühlte sie sich getroffen.

„Vor paar Monaten. Dann hab ich dir die Reise da gschenkt.“ Susannes Schenkel begannen wieder nervös zu zittern. Das taten sie häufig, wenn sie sprach.

„Ach. Daher weht der...“

„Aber das doch egal!“ Susanne unterbrach Lara! Das war etwas völlig Neues.

„Was hat Papa alles gesagt?“, frage Lara interessiert und plötzlich schien das Gespräch wieder auf einem würdevollen Niveau stattzufinden. Auch wenn Susannes Blick noch sehr abwesend wirkte.

„Er hat mich... Ähnlich beschimpft wie du.“ Sie schluckte. „Es is ihm zu dumm worden mit mir. Ich sitz am absägenden Ast. Und die Angst vor... Vor mir selber.“

„Vor dir selber?“

„Ich weiß ja dass i nit die Klügste bin. Andre Frauen arbeiten, sind gscheit, verdienen Geld. Und ich nit.“

„Früher mal. Aber ja, stimmt“, meinte Lara zögerlich und war überwältigt von dem Eingeständnis ihrer Mutter. „Äh, Telefon!“

„Tür. Ich mach schon.“ Susanne stemmte sich nach oben, trocknete mit einem Taschentuch noch einmal ihr Gesicht und ging zur Tür.

Lara hörte von der Küche aus, dass es die Nachbarin war.

„Ja Servus! Hallo.“ Lara kannte diese hohe Stimme. Susanne sprach so nur zu Babys und Kleinkindern.

„Du bist ja schon groß!“ Sie brachte es fertig alle Niederschläge, die sie eben ertragen musste, abzuschalten. Faszinierend.

„Vierzehn Pfund hat sie schon.“

„Oh, vierzehn? Ja du kleiner Wonnebrocken. Hübscher Käfer!“

„Die Mama ist auch ganz stolz.“

„Ja, das glaub ich. Kommt doch rein.“

Es war Lara plötzlich unangenehm wieder mit der alten Nachbarin konfrontiert zu werden, auch wenn es kein einziges Vorkommnis gab, das ein peinliches Gefühl bei ihr auslösen müsste. Sie klapperte nervös mit dem Gebiss und korrigierte ihren krummen Sitz.

„Ah, hallo“, begrüßte die Nachbarin Lara. Sie hatte kein Baby in den Händen. Das trug Susanne vor ihrer Brust und wetzte mit ihrem Riecher gegen die kleine Stupsnase des Babys.

„Schau mal Lara. Die kleine Sophie-Luise hat so schöne blaue Augen wie die Oma.“

„Ach, danke“, meinte die Nachbarin und war stolz auf ihre erste Enkelin.

„Ja“, sagte Lara nur. Sie wollte das Kind auf keinen Fall in die Hand nehmen. Susanne blühte währenddessen auf.

„Du Süße. Du kleine Süße“, piepste sie mit hoher Stimme. Aber sie sprach deutlich. Ein Phänomen, das sich nur dann einstellte, wenn Susanne mit Babys oder Kleinkindern interagierte.

Das Baby lachte, als sie gekitzelt wurde und die Nachbarin wollte von Lara wissen, wie es ihr in der Stadt erging.

„Gut. Gefällt mir“, sagte sie verlegen.

„Und wohnst du da alleine?“

„Ja.“

„Hast du da keine Angst?“

„Ich hab noch eine Katze“, meinte sie zitternd.

„Ah ja.“ Die Nachbarin beließ es bei der bisherigen Befragung. Susanne tollte derweil noch immer mit der kleinen Sophie-Luise. Sämtliche Ängste, Hemmungen und Sprachstörungen verpufften in solchen Situationen. Gegenüber Babys und Kleinkindern brauchte sich Susanne nicht zu schämen, denn sie war ihnen ohne Frage geistig überlegen und sie würden auch nicht merken, wenn sie Fehler in der Grammatik, dem Vokabular oder rein in der Aussprache machte. Sie gingen ebenso wenig arbeiten wie Susanne und sie reduzierten sie nicht auf Dinge, die sie getan oder unterlassen hatte, denn sie wussten diese ja noch nicht.


Lara ging zu ihrer Mutter und unterbrach für einen kurzen Moment ihre Harmonie.

„Mama, gibt’s da im Internet eigentlich Hotel? Ähm, gibt es im Hotel Internet?“, fragte sie leise.

„Weiß ich nicht“, antwortete Susanne prompt und lächelte selbstbewusst. Es war schön und traurig sie so zu sehen.

„Na gut. Dann... Ciao.“

„Ciao Lara! Und viel Spaß in der Türkei.“

„Servus“, sagte die Nachbarin. „Sie fliegt in die Türkei?“, fragte sie Susanne, obwohl Lara selbst noch in der Tür stand.

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