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Bangkok

„Dass alles im Leben zwei Seiten hat“, las er in einer Zeitschriftenkolumne. „Das ist mittlerweile bekannt. Es aber auch stets anzuerkennen fällt vielen trotzdem schwer. Selbiges gilt für das Internet. Wo beginnen wir ihm zu vertrauen und wo hören wir damit auf? Nahezu jeder nutzt das Internet. Der Eine intensiv, der Andere nur marginal oder mit kritischer Einstellung. Die vielen Wege und Käfige dieses gigantischen Zoos lassen uns allen die Möglichkeit offen, immer wieder Neues zu Entdecken. Natürlich ist das meiste dabei schlicht überflüssig, manches gar erfunden. Man kann Kohärenzen finden, aber man muss es nicht.

Dieser abundante Zoo, das Internet, ist riesig. Größer als die Erde. Er ist weniger endlich und nicht nur deshalb undurchsichtiger. All das macht ihn so interessant, so vielseitig und so gefährlich. Jedes Mal findet man beim Flanieren durch die Schotterstraßen des Tierparks neue Gehege in denen sich Bekannte und Unbekannte zur Schau stellen. Ständig errichten neue Tycoons und Oligarchen ihre Monumente, deren überall anwesende Düfte jeden mehrmals täglich zu ihnen locken. Und manchmal verlaufen wir uns und finden uns selbst in einem der Käfige wieder.

Es ist eine Sucht, eine Gefahr. Wie der Alkohol oder der Zigarettenkonsum ist das Internet für viele Menschen bereits ein unverzichtbarer Lebensinhalt. Der möglichen Gefahren ist sich nahezu jeder bewusst, aber niemand will sich damit konfrontieren, ehe er nicht selbst auf die Nase fiel oder jemanden fallen sah, der ihm nahe stand.“

Er übersprang den nächsten Absatz und las sich nur noch den Schluss laut vor.

„Es ist letztendlich eine Frage der Persönlichkeit, ob man sich von seiner Umwelt unterkriegen lässt, ob man nachgibt, oder, wie es Albert Camus einst beschrieb, den modernen Menschen mimt, der wie Sisyphus immer weiter machen wird und sich von größeren Mächten und Versuchungen nicht zum Abbrechen verleiten lässt.

Das Internet ist wunderbar.

Alkohol auch.

Aber jedes Fest fordert seine Opfer.“

Mit einem nachdenklichen Blick schlug er die Zeitschrift, die er sich noch im Flughafen Franz-Josef-Strauß gekauft hatte, wieder zu und steckte sie in seinen Rucksack. Er schritt sanft zum Fenster und beobachtete das unendliche Treiben Bangkoks. Inmitten der breiten, trägen Masse aus hunderten PKW´s erspähte er mehrere Rikschas, sogenannte Kluk-Kluk´s. Die Fahrer der dreirädrigen Taxis trugen, ebenso wie die Polizisten am Straßenrand, größtenteils Gasmasken. Einer der Fahrer sah aus wie eine Ameise und transportierte einen weißen, stilvoll gekleideten, westlichen Mann.

Aus einer schmalen, verdreckten Soi lief indessen eine junge Frau. Sie trug ein kleines Kind - man konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um einen Jungen oder um ein Mädchen handelte - auf ihren Schultern, das ihr bei der Orientierung half.

Er war beeindruckt und erschrocken zugleich von der Vielfältigkeit dieser Primatstadt. Er konnte direkt auf die Behausung einer siebenköpfigen Familie sehen. Die ungleichen Holzlatten sprossen schräg aus dem trockenen Boden und das Wellblech diente als Dach, aus dem ein oranges KG-Rohr ragte und von der Familie als Kamin genutzt wurde. Grauer Rauch stieg aus ihm empor und vermischte sich mit dem dichten Abgasnebel, der über allem lag.

Er öffnete sein Fenster. Sofort wurde es um ein Vielfaches lauter in seinem Zimmer. Langsam strich er mit seinem rechten Zeigefinger über das dunkle Fensterbrett, das von einer dicken Staub- und Rußschicht bedeckt war, die nun auch seine Fingerkuppe schmückte. Mit Bedacht reinigte er sie am Vorhang.

Die Holzdielen gaben lange, sich ziehende Geräusche von sich, als er vom Fenster weg und auf den Schreibtisch zu trat. Sein Hotelzimmer war nicht von gehobener Klasse und dennoch schön anzusehen. Bis zu einer Höhe von einem Meter zwanzig waren die Wände in dunkles Holz gekleidet. Darüber erstrahlte der weiße Kalk-Putz, der stellenweise von farbenfrohen Gemälden unterbrochen wurde und über dem Eingang hing eine angeschraubte Ganesha-Figur, der ihr Stoßzahn fehlte.

Auf dem sauberen, duftenden Bett lag noch sein Koffer. Er hatte ihn noch nicht einmal geöffnet und beließ es aus Vorsicht dabei, seine Kleider noch nicht in den akribisch verzierten Holzschrank zu räumen.

Nein. Er setzte zunächst die Arbeit an einer E-Mail fort. Schon vor einer halben Stunde begann er mit dem Schreiben, aber vollendete sie erst jetzt. Immer wieder unterbrach er das Tippen, um nachdenklich auf die hellbraunen Vorhänge zu starren und dann seine Worte doch wieder zu löschen. Nur wenige Zeilen strahlten aus dem Bildschirm und als er dann endlich das letzte Wort schrieb, vibrierte sein Mobiltelefon.

„Die Post ist da“, erschien in schwarzen Lettern auf dem Display. Für einen kurzen Moment blieb er ganz ruhig sitzen. Ganz ruhig.

Dann wandte er seinen Kopf blitzschnell dem geschlossenen Koffer zu, schloss hektisch die Nachricht und tippte hastig die E-Mail-Adresse des Empfängers in die Adresszeile.

Er wollte keine Zeit verlieren, klickte eilig auf `Senden`, schloss den Browser, steckte das Handy in seine Hosentasche, machte noch das Fenster zu und rannte aus seinem Zimmer. Der rote Teppich und die roten Wände des Flurs gaben ihm das Gefühl, sich in einem überdimensionalen Blutgefäß zu befinden. Wie ein weißes Blutkörperchen eilte er zu dem Aufzug und drückte mehrmals auf den Anforderungsknopf.

Er begann zu leuchten, fünf Sekunden später öffnete sich die graue Tür. Die Aufzugkabine war leer. Nervös schritt er hinein und drückte auf `0`.

In der verspiegelten Metallbox prüfte er noch zwei mal grundlos hektisch die Uhrzeit, da stoppte der Aufzug abrupt und die Tür öffnete sich. Richtig. Erdgeschoss. Schnellen Schrittes bewegte er sich auf die Rezeption zu. Die hohe Eingangshalle war vollständig gefliest und in den großen, hellbraun glänzenden Quadraten spiegelte sich die Decke. Der junge, asiatische Mann hinter der Rezeption trug einen roten Anzug und eine ebenso rote, spitze Mütze. Vor ihm lag ein kleines Schild, das ihm sprachliche Fähigkeiten in Thailändisch, Englisch, Spanisch und Deutsch bescheinigte.

„Wein. Zimmer 427. Für mich müsste Post da sein.“ Seine Nervosität spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.

„Ja. Sehr richtig“, sprach der Hotelangestellte abgehakt. „Es ist gerade für sie abgegeben worden.“

Er drehte sich um und öffnete einen der unzähligen, kleinen Schübe. Daraus nahm er ein helles Couvert.

„Bitte zeigen Sie mir ihren Hotelzimmerschlüssel, damit ich sie identifizieren kann.“

Er griff in seine Hosentasche und stellte erschrocken fest, dass er seinen Schlüssel nicht darin auffinden konnte.

„Die Karte. Vielleicht haben Sie sie in ihrem Portemonnaie.“

„Ach, ja. Natürlich. Die Karte.“ Vorsichtig fingerte er nach dem Geldbeutel in seiner Gesäßtasche und zog die Zimmerkarte hervor. Der junge Asiate warf einen flüchtigen, aber dennoch aufmerksamen Blick auf die Nummer, verglich sie mit den Daten, die er auf dem Bildschirm vor sich hatte und gab sie anschließend zurück.

„Hier ist Ihr Brief. Bitte sehr.“

„Vielen Dank. Das ist für Sie.“ Er reichte dem Mann im Gegenzug zu seiner Post einen hellblauen 50-Baht-Schein. Alles unter zehn Baht war eine fürchterliche Beleidigung für Trinkgeldanwärter in Thailand.

Nachdem er seinen Geldbeutel wieder verstaut hatte ging er mit dem Brief in seiner Hand zurück in sein Zimmer. Dieses Mal nahm er allerdings die Treppe. Auf den vielen, kalten Stufen kam er sich, im Vergleich zu der bedrückenden Enge eines Aufzuges, freier und komischerweise auch unbeobachteter vor. Unkonzentriert schritt er durch den leeren, roten Flur und öffnete seine Zimmertüre mit dem elektronischen Schlüssel. Er betätigte sanft den Lichtschalter und riss vorsichtig den Briefumschlag auf. Aus ihm zog er einen Bogen Papier, an dem das Foto eines Mannes geheftet war. Er sah sich den Mann genau an. Er war etwa 40 Jahre alt, trug dunkles, kurzes Haar und hatte braune Augen. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Thailänder. Laut las er sich vor, was in der ersten Spalte des Dokumentes geschrieben stand.

„Nintau Suprija. 43 Jahre. Verheiratet. Zwei Kinder. Wohnhaft in der Soi Long Tha 9, nähe Romaneenart Park. Polizist.“

Er klopfte mit seinen Zähnen. Man konnte das Trommeln laut hören, bis er begann die zweite Spalte zu lesen.

„Suprija ermittelt seit Kurzem auf eigene Faust gegen eine Vielzahl von Hotelzimmereinbrüchen, die bisher von den zuständigen Behörden vertuscht wurden, um die Stadt für ausländische Touristen nicht unattraktiv zu machen. Ihr Job ist daher klar. Vernichten Sie den Spaßverderber.

Alles was Sie brauchen, finden Sie in ihrem Kleiderschrank.

Viel Spaß und Erfolg wünscht Ihnen der Dealer.

P.S.: Benutzen Sie bitte das Feuerzeug, um dieses Schreiben zu verbrennen. Danke.“

„Feuerzeug“, murmelte er. Sofort stürmte er auf den Kleiderschrank zu und riss beide Türen auf. Ernüchtert stellte er fest, dass er leer war. Lediglich drei Kleiderbügel hingen schief an einer Metallstange.

„Wieso...“, flüsterte er, als er sich fragte, weshalb die Stange so im Schrank montiert war, dass die Kleiderbügel nicht mal frei hängen konnten, sondern an der Rückwand anstießen.

Da begann er zu grinsen.

„Der Dealer. Wohl eher ein Zauberer mit doppeltem Boden.“

Vorsichtig drückte er gegen die dunkle Rückplatte, die sich auch leicht bewegen ließ. Aber ganz konnte er sie nicht lösen, bis ihm schließlich an der Decke des Schrankes ein metallener 90°-Winkel auffiel, der die Rückwand an ihrer neuen Position mit zwei Schrauben befestigte.

Aus seinem Koffer holte er ein Taschenmesser und klappte einen Kreuzschraubenzieher aus dem klobigen Multifunktionswerkzeug. Nervös drehte er beide Schrauben aus dem eisernen Winkel, legte die drei Metallstücke auf den Schrank und drückte ganz oben gegen die Rückwand, bis sie sich unten weit genug nach vorne schob, um sie herausziehen zu können. Er legte die dünne Hartfaserplatte leise auf den Boden. Ein schwarzer Koffer kam zum Vorschein. Als er ihn aus dem Schrank zog hörte er etwas auf den Boden fallen. Das Feuerzeug. Aufgehoben, eingesteckt. Behutsam öffnete er auf seinem Bett den Waffenkoffer neben seiner Kleidertasche. Es roch nach Ballistol.

„Eine G22! Wie kommen die nur an solch ein Zeug?“ Er hob das Gewehr hoch und betrachtete es im gelben Schein der Deckenbeleuchtung wie eine prächtige Trophäe. Ganz ruhig legte er es sich an die Schulter und zielte auf ein Bild an der Wand. Er visierte einen der beiden Delphine an, die zusammen mit zwei gelben Fischen auf dem Gemälde abgebildet waren. Wie ein Sekundenzeiger drehte er sich langsam mit seinem Gewehr. Nun zielte er auf eine kleine Ablage an der Wand, auf der ein rotes Buch lag. Die Mao-Tsetung-Schrift hatte in diesem Hotel wohl eher dekorativen Charakter und war nicht von politisch verpflichtender Bedeutung. Er drehte sich weiter und zielte auf die Türe. „Bumm“, sagte er und freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten.

Bumm!

Da unterbrach ein lauter, erbarmungsloser Knall die zufriedene Ruhe. Das Türschloss riss aus der Zarge und die Türe wurde hart aufgetreten. Er zuckte schlagartig zusammen, ließ um ein Haar sein Gewehr fallen, sprang einen Satz rückwärts und fiel auf sein Bett. Mit dem Rücken landete er auf dem Kleiderkoffer. Sofort!

Sofort stand er wieder auf, um den drei thailändischen Einbrechern die Mündung vors Gesicht zu halten. Die drei Männer, die nur kaputte Jeans und schmutzige, graue Shirts trugen, standen verblüfft im Eingang, als ein Scharfschützengewehr auf sie gerichtet wurde. Sie wussten nicht wirklich, wie sie handeln sollten.

Der Erste hob langsam seine Hände, da sprach der Scharfschütze mit zitternder Stimme.

„I´m on your side!“ Er grapschte nach dem Steckbrief, der hinter ihm auf dem Bett lag und hielt den Dreien das Papier vors Gesicht. Sie schienen den Polizisten auf dem Dokument nicht gleich zu erkennen, doch nach einigen Sekunden verstanden sie. Und auch er.

„You´re here to kill him?“

„Yes.“ Sein Rücken wurde heiß, es rannten Schweißperlen hinab.

„Fuck“, sagte der Kleinste. „Why didn´t Ajahn say anything?“

Er stellte die Frage an seine beiden Komplizen, doch die schüttelten nur ihre Köpfe und zuckten mit den Schultern.

„We´re sorry for the mistake.“

„Ajahn is the Dealer?“, fragte er nach.

„No.“

„Not the one, you would suppose“, sagte der Größte.

„OK. Could you please tell me how to get to...“ Er spähte auf den Steckbrief. „...To Soi Long Tha 9, near Romaneenart Park?“

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