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IV

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Laras Wohnung. Mittwoch Feierabend


Die Kleider waren exakt geordnet. Es gab ein Fach für ärmellose schöne Klamotten und eines, in dem ärmellose Sachen für zuhause lagen. Darunter stapelten sich dünne, langärmelige Sweatshirts und daneben dicke Pullover. Lara legte ein gefaltetes T-Shirt in das oberste Fach und schloss den hellen, neuen Holzschrank. Sie hatte bei ihrem Umzug damals keine Möbel von zuhause mitgenommen.

Ihre Katze schmiegte sich an ihre Beine und tunnelte sie. „Minka, hast du immer noch Hunger?“

Lara ging in die Küche und holte eine bunte Schachtel mit Katzenfutter aus einer Ecke hervor. Sie füllte ein wenig davon in eine schwarze, flache Schüssel und stellte sie auf den Boden. Während Minka tiefe, unregelmäßige Geräusche beim Fressen von sich gab, streichelte Lara zärtlich ihr Fell vom Kopf bis zum Schwanz. Und nachdem ihre Katze das zweite Feierabendmahl verzehrte, setzte sich Lara am Balkon auf ihren alten Schaukelstuhl aus Bambus. Die Sonne war schon lange hinter dem Nachbargebäude verschwunden, doch der Himmel leuchtete noch schwach violett und rosa. Erleichtert ließ sich Lara von ihrem Stuhl bewegen, der immer im selben Takt ein kurzes, knarzendes Geräusch von sich gab. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein und aus.

Aber schon nach wenigen Sekunden störte ein Vogel auf dem Geländer des Balkons ihre innere Ruhe. Eine junge Blaumeise pfiff, bis sie erschrocken Minka hinter der Balkontüre erkannte und davonflog. Lara senkte erneut entspannt ihre Lider und reflektierte den Tag. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Rechner abstürzte, als sie gerade ein lästiges, neues Programm-Update installieren wollte. Herr Kratzinger, der Abteilungsleiter, beseitigte zum Glück alle Unannehmlichkeiten binnen weniger Minuten.

Lara musste an ihren Vater denken. Er war nie da, wenn er solche Probleme für sie hätte lösen sollen. Wenn sich ein Scharnier ihres Schrankes nicht mehr einwandfrei bewegte, oder die Kette ihres Fahrrades aus dem Zahnrad sprang, dann war ihr Vater nie da.

Als ihre Nachbarin, Michaela, mit fünfzehn Jahren einen Roller fuhr und Benzin aus einer Cola-Flasche einfüllte, da fiel ein Plastikring des Verschlusses in den Tank. Kurze Zeit stocherte sie mit einem Holzspieß blind und erfolglos darin herum. Schon sehr bald aber war Michaelas Vater zur Stelle und füllte den Tank weiter auf, bis das Plastikteil so weit oben schwamm, dass man es problemlos herausfischen konnte. Als Lara das damals beobachtete, wurde ihr, wie so oft, auf schmerzliche Art und Weise bewusst, wie sehr ihr ihr Vater fehlte. Und sie benutzte die Erinnerung an diese Szene noch heute gelegentlich als Quelle einer Selbstmitleidsorgie.

Laras Vater war Maschinist eines Transportschiffes. Als sie zwei Jahre alt war heuerte er bei einer bayerischen Reederei, an sich schon eine Rarität, an und sorgte seitdem dafür, dass verschiedenste Baugrundstoffe, wie Kies, Sand, Ziegelsteine und etliches mehr sicher von Europa nach Südamerika und zurück transportiert werden konnten. Das ganze geschah natürlich auf Kosten seiner Familie. Laras Mutter, Susanne, war bei vielen Problemen ebenso auf sich alleine gestellt, wie Lara. Beide brauchten jemanden als Stütze, konnten sich jedoch selbst nicht nützen.

Dieser kalte Mantel des Selbstmitleids hatte sich schon wieder um Laras Schultern gelegt. Er erzeugte eine sanfte Gänsehaut, ließ andere Körperstellen dadurch aber wieder wärmer erscheinen. Ein Geräusch aus der Nachbarwohnung holte Lara aus ihrem Gedankennetz. Jemandem war etwas Schweres, vielleicht eine Pfanne, zu Boden gefallen. Zumindest klang es so.

Lara korrigierte ihre krumme Position, die sie während ihrer Erinnerungen an ihren Vater im Schaukelstuhl einnahm. Sie kratzte sich am Ohr und dachte an die E-Mail, die sie auch heute Vormittag in der Arbeit erhalten hatte. Sie war eigentlich schon am Abend zuvor eingegangen. Aber wieder vom gleichen Absender. Schon wieder!

Neugierig verließ sie den Balkon, pfiff zu Minka und ging in ihr Schlafzimmer, in dem sich auch ihr Computer befand. Gerade als sie es betrat, klingelte plötzlich ihr Telefon und Lara nahm nichtsahnend den Hörer ab.

„Ja?“

„I grüß dich mein Kleine. Wie geht dir?“

Ihre Mutter. Augenblicklich war Lara von ihr genervt.

„Es geht mir gut.“ Das war schon immer die einfachste und sicherste Antwort.

„Das´t schön“, sagte Laras Mutter und stieß auf.

„Weshalb rufst du an?“

„Ich wollt dich dran erinnern, dass der Sonntag der, der...“

„Der Flieger“, half ihr Lara.

„Ja, dass Sonntag der Flieger geht.“

„Ja Mama“, stöhnte sie laut ins Telefon. „Ich vergesse doch nicht eine ganze Woche Urlaub!“

„Gut. Ja, ich ollt boß no mal...“ Ihre Artikulation erlaubte es gelegentlich nicht sie einwandfrei zu verstehen und auch wenn Lara schon alleine aus langjähriger Erfahrung wusste, was Susanne gesagt hatte, störte es sie enorm.

„Beweg´ doch bitte deine Lippen, wenn du mit mir sprichst“, presste sie energisch und laut ins Telefon. Durch solche Äußerungen war sie stets darauf bedacht, selbst so deutlich wie möglich zu sprechen, fast wie eine Nachrichtensprecherin.

„Ja“, sagte ihre Mutter zögerlich und in einem windigen Tonfall. „Aso ich ollt nur, ich hab nur gmeint. Weil so ein teuriges Geschenk.“

„Was? Wieso hast du mir überhaupt so ein teures Geschenk gemacht?“

„Ich ollt dir eine Freude geben. Damit wir veicht wieder, wieder näher mit... Ein miteinander haben.“

„Du bist ja witzig“, sagte Lara trocken und ironisch. „Du schickst mich eine Woche alleine in die Türkei damit wir wieder zueinanderfinden?“ Sie presste ein abwertendes, aber gekünsteltes Lachen aus ihrer Brust. Und obwohl sie von Susanne wirklich genervt war, tat es ihr Leid, ihr gut gemeintes Geschenk so durch den Dreck zu ziehen.

„Entschuldige“, sagte sie, nachdem ihre Mutter nichts anderes als ein schwaches, selbstkritisches „Aber, aber, stimmt...“ herausbrachte.

„Ich freue mich auf den Urlaub. Danke Mama.“

„Ja? Das´t schön.“ Sofort hörte sich Susannes Stimme wieder wie eine sanft gestrichene Harfe an.

„Bringst dann am Samstag die Katz zu mir?“

„Wieso zu dir?“ Lara hatte diesen bissigen Ton ihrer Mutter gegenüber schon vollständig verinnerlicht.

„Ja, ja“, sagte sie sofort. „Ich bring sie dir vorbei.“

„OK. Wann ungefähr?“

„Weiß ich noch nicht. Lass dich überraschen. Bis Samstag.“

„Schüss.“ Da hatte Lara schon aufgelegt. Es tat ihr wirklich weh, doch sie glaubte, sie müsse gemein zu ihrer Mutter sein, um eine Veränderung bei ihr zu bewirken. Leider blieb ihr Handeln bislang stets erfolglos.


Lara setzte sich an den hellen Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer, klopfte mit den Fingern auf die Maus, während ihr Computer startete, und sah nach dem Ladevorgang in ihr E-Mail-Postfach. Zügig öffnete sie die Nachricht, die sie schon in der Arbeit entdeckt hatte.

Es war schon merkwürdig. Diese rätselhafte Mail mit einem aktuellen Datum als Betreff war schon wieder vom gleichen Absender und fand aus irgendeinem Grund den Weg in ihr Postfach. Sie sah nicht aus wie gewöhnlicher Spam. Keine ausländischen Schriftzeichen, keine Anhänge oder Links und auch keine kurz gehaltenen Flirt-Versuche auf Englisch. Lara dachte sich dennoch nicht allzu viel und scrollte am Vormittag bereits einmal schnell vom Anfang bis zum Ende. Die Mail war ungewöhnlich lange und so begann Lara erst nun am Abend gespannt zu lesen.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet dann doch etwas nervöser zu sein, wenn es soweit war. Doch dann lag ich auf der rauen Betondecke und fühlte mich komischerweise ziemlich wohl. Über eine Feuerleiter hatte ich mir Zugang zu dem Dach verschafft und war mit dem Gewehr in meinem Rucksack und einem blauen Cappy auf dem Kopf 150 Meter Luftlinie entfernt von Nintau Suprijas Wohnung auf dem obersten Stockwerk eines Firmengebäudes in der Sam Yot. Die Parkplätze davor waren weitestgehend leer. Es war schwül, obwohl die Sonne schon länger verschwunden war. Am Himmel war kein einziger Stern zu entdecken. Sogar der Mond wurde von den Wolken verdeckt und ich griff in meinen Rucksack. Bereits in meinem Hotelzimmer übte ich den Zusammenbau der G22, weshalb ich mich nun mit der Montage des Scharfschützengewehrs relativ leicht tat. Ich nahm meine Kopfbedeckung ab und setzte das Stativ auf den Rand des Flachdachs. Ich blickte durchs Hensoldt-Zielfernrohr. Durch eine Lücke in den Baumreihen an der Soi Long Tha hatte ich genau das kleine Reihenhaus von Nintau Suprijas Familie im Visier. Ich spielte die geplanten Szenen noch einmal gedanklich durch. Sobald ich Nintau erkannte, hätte ich ihn mit einem gezielten Kopfschuss erledigt und mein Gewehr wieder eingepackt. Es besitzt zwar einen Schalldämpfer, doch um trotzdem die gleiche Reichweite von 800 Metern zu schaffen, wird die Munition mit Überschallgeschwindigkeit abgefeuert. Das heißt, man würde den Durchbruch der Schallmauer leicht verzögert, aber klar und deutlich hören und ich wäre wahrscheinlich entlarvt...

Es könnte sich dann äußerst schwierig gestalten, die lange Feuerleiter unerkannt herabzusteigen und anschließend zu flüchten.

Ich war zunächst ratlos. Warum war ich denn auf dem Dach? Ich musste einen anderen Ort finden, um Nintau zu töten. Bevor ich mir darüber ausreichend Gedanken machen konnte, sah ich schon ein Auto, das vor seiner Garage hielt. Durch das Zielfernrohr beobachtete ich das Geschehen. Eine Frau – wahrscheinlich Nintau Suprijas Frau – stieg aus dem Wagen und mit ihr zwei kleine Kinder. Es schien sich dabei um zwei kleine Mädchen zu handeln. Schon standen sie alle auf den vier Eingangsstufen, die Mutter legte eine Tasche auf dem Boden ab und als sie das Schloss aufsperren wollte, öffnete sich wie von Geisterhand die Tür. Nintau, der Polizist, trat aus dem Haus, begrüßte seine Kinder und gab seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Während sie mit den Kindern ins Haus ging, nahm sich Nintau den Wagen und fuhr davon. Dass er vielleicht gerade wieder auf eigene Faust ermittelt, war mir dabei ziemlich egal. Mir wurde bewusst, dass ich nun wohl genügend Zeit hatte, um mich völlig neu zu positionieren. Ich klappte das Stativ und das Gewehr wieder zusammen und schob es in meinen Rucksack. In gebückter Haltung lief ich über das Dach und versuchte möglichst geräuschlos die eiserne Leiter zu überwinden. Auf einem der Parkplätze wurde eine Autotüre zugeschlagen und ich hielt inne. Angespannt krallte ich mich fest und versuchte mich nicht zu bewegen. Die Leiter, an der ich wie ein schwerer Klotz hing, schien zu wanken. Natürlich war das nur eine Illusion. Ich unterbrach das Atmen und konzentrierte mich auf die Verankerung der Leiter an der Wand. Ich ließ eine halbe Minute vergehen, nachdem das Motorengeräusch außerhalb meines Hörbereichs war, dann stieg ich weiter hinab. Die letzten anderthalb Meter ließ ich mich auf das Pflaster fallen. Jeder Schritt auf dem rauen Beton hörte sich an, als würde man auf Sand treten. Ich kam zur Straße, wechselte die Seiten und bog in die Soi Long Tha. Weder ein fahrendes Auto, noch einen Menschen konnte ich erkennen. Ich überquerte auch diese Straße und lehnte mich an einen Baum, der vor dem Haus von Nintaus Nachbarn stand. Vor fast jedem Haus standen solche Bäume. Sie waren nicht besonders hoch, hatten aber viele Äste und ein relativ dichtes Blattwerk. In den Dachfenstern von Nintaus Haus wurde das Licht gelöscht. Die Familie legte sich wohl schlafen. Ich verließ die Deckung des Baumes und spähte vor den Eingang, als ich in der Entfernung zwei Lichter erkannte, die sich in meine Richtung bewegten. Ein Wagen kam die Straße herunter und ich huschte schnell zurück zu dem Baum vor dem Haus der Nachbarn. Ich sprang kraftvoll in die Höhe, hielt mich mit beiden Händen an dem dicksten Ast fest und schaukelte, bis meine Beine sich um den rauen Stamm legen konnten. Ich kraxelte und zog mich nach oben, als das Auto gerade den Baum passierte. Schnell und flach atmend setzte ich einen Fuß auf den Ansatz eines zweiten Astes und zog mich weiter nach oben. Nach einer kurzen Verschnaufpause legte ich meinen Rucksack ab. Die Schlaufe war gerade groß genug, um sie über einen Ast auf Augenhöhe zu ziehen. „Eigentlich gar keine schlechte Idee“, dachte ich mir und holte das Gewehr aus dem Rucksack. Da saß ich auf dem Baum, mit dem Gewehr in den Händen und wartete. Immer wieder dachte ich an Jana, wünschte mir, sie säße hier auf dem Baum, und drückte die Illusion stets schmerzlich beiseite.

Obwohl es später Abend war liefen fleißige kleine Ameisen am Stamm entlang. Sie beachteten mich nicht und marschierten zügig an mir vorbei, genauso wie die Zeit. Ich trug keine Uhr, doch nach einer gefühlten Stunde war meine Wasserflasche zu drei Vierteln geleert und meine Blase voll. Verdrücken erschien mir sinnlos, denn ich wusste nicht, wie lange ich noch auf dem Baum verweilen musste. Ich hielt mir daher die Flasche pragmatisch zwischen die Beine und pinkelte hinein. Der Drang und die Erleichterung hatten sich wie eine Maske um meinen Kopf gelegt und ich bemerkte den älteren Herren mit dem kleinen, braunen Hund am Gehweg erst spät. Der Mann schien nicht mehr gut zu hören, doch der Hund zog an der Leine und wollte zum Baum zurück, als er den Urin ins Wasser plätschern hörte. Er bellte und deutete auf den Baum, in dessen Krone ich saß. Ich stoppte augenblicklich den Fluss. Wenn sie mich entdeckt hätten wäre alles vorbei gewesen. Bevor es überhaupt beginnen konnte wäre mein Abenteuer schon zu Grabe getragen, doch des Hundes Herrchen zerrte nur genervt an der Leine und ging weiter.

Puh. Ich hatte Glück, schüttelte noch die letzten Tropfen am Rand der warmen Flasche ab, steckte sie verschraubt in den Rucksack und schloss den Reißverschluss meiner schwarzen Hose.

„Biwakieren werde ich hier nicht“ murmelte ich. In der letzten Stunde bekam ich lediglich vier Fahrzeuge und den Mann mit dem Hund zu Gesicht. Die Straße war außergewöhnlich leer, wenngleich ein leises, monotones Rauschen der größeren, entfernten Straßen zu vernehmen war.

Der alles umfassende Smog lag auch hier wie ein Sarg über der Stadt. Auf der anderen Seite der Soi Long Tha stolzierte eine schwarze Katze über den Bürgersteig und verschwand in einem Garten. Geschmeidig drückte sie sich unter dem Zaun hindurch, als ich plötzlich die wackelnden Lichtkegel zweier Scheinwerfer sah. Kombiniert mit dem gewohnten Geräusch eines Diesel-Fahrzeugs kam beides von hinten und immer näher an mich heran. Hastig brachte ich mich mit dem Gewehr in Stellung. Als das Auto dann direkt neben mir war, sah ich das orange Blinklicht und als Nintau in seine Hofeinfahrt bog, wurde ich Eins mit der Waffe. Alles war angerichtet und ich wartete. Die Sicht auf die Haustüre war aus meiner Position gerade genug frei, um den Kopf Nintaus zu treffen. Er stieg aus seinem Wagen und ich visierte die Türe an. Meine Hände zitterten nur leicht und durch das Zielfernrohr wirkte es, als stünde ich direkt vor dem Hauseingang. Da stieg Nintau die Stufen hinauf und trat in den Bereich meines Visiers. Sein Kopf wirkte riesig, er trug eine Brille. Nintau kramte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und zuckte mit der Oberlippe. Die Mündung des Gewehrs lag auf einem Ast und ich drückte es gegen meine Schulter. Ich atmete tief ein, hielt die Luft an und versuchte ganz, ganz ruhig zu bleiben. Nintau steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustüre und drehte ihn, da drückte ich ab und traf ihn unter dem rechten Ohr. Nintau flog zu Boden, sein Kopf war nicht mehr zu erkennen und die enorme Durchschlagskraft hatte sogar in der Türe ein Loch entstehen lassen. Der Rückstoßschmerz in meiner Schulter war nur gering und ich blendete ihn aus. Hastig klappte ich das Gewehr zusammen. Es hakte ein-, zweimal, ließ sich nicht mehr abknicken. Was war denn los? Irgendetwas klemmte! Die Zeit rannte! Ich musste weg! Kurzerhand schob ich das lange Gewehr in den Rucksack. Der Lauf der G22 stach wie ein Fahnenmast heraus. In meinem Ohr pfiff es laut, als ich vom Ast sprang. Ich sah Lichter in mehreren Häusern und lief gebückt neben den Gartenzäunen so schnell es ging davon. Der hohe Ton wollte einfach nicht aus meinem Ohr verschwinden, dafür machte ich mich umso schneller vom Acker. Hoffentlich war der Gewehrlauf nicht zu auffällig. Nach zwanzig Sekunden erreichte ich den Romaneenart Park und suchte dort Schutz hinter einer Hecke. Anwohner strömten langsam aus den Häusern, blickten auf Nintaus Haus und schrien entsetzt auf. Manche deuteten auch auf den Park und ich rannte davon. Im Schatten der Büsche. Als ich das Grün wieder verließ, drehte ich mich noch einmal um.

Da war niemand. Kein Mensch war mir gefolgt. Ich schritt ruhig zu meinem Hotel. Nur wenige Autos und Passanten begegneten mir, in der Ferne hörte ich Sirenen und ich versuchte stets kleine, enge Seitengassen zu benutzen. Schon sehr bald fand ich mich vor dem bescheidenen, schlecht beleuchteten Eingang meines Hotels wieder. Von Außen wirkte es wirklich nicht sehr ansprechend. Auf beiden Seiten der Pforte wuchsen Stauden aus dem Boden, die am Tage automatisch gewässert wurden.

In dem hellen Foyer würde der Lauf des Gewehres, der noch aus meinem Rucksack spähte, aber sofort auffallen. Ich warf den Rucksack kurzerhand zwischen das Gewächs neben dem Eingang und lief die Treppen hoch zu meinem Zimmer. Erschöpft leerte ich dort meinen Koffer aus und warf die Kleidung ungeordnet aufs Bett. Den leeren Koffer trug ich wieder nach unten. Freundlich nickte ich der Empfangsdame zu, als ich die Eingangshalle durchquerte. Der Schein des Lichts war auf eine ganz besondere Weise unangenehm und ich war froh, als ich das Gebäude verlassen hatte. In meinem eigenen Schatten erkannte ich meinen Rucksack zwischen den Sträuchern nicht mehr und trat aus Versehen auf ihn. Es knackte und ich hörte Stimmen, die langsam näher kamen. Ich bückte mich, machte mich winzig klein. Unter mir lag mein Rucksack mit dem Scharfschützengewehr und daneben mein leerer Reisekoffer. Ich duckte mich in eine unbequeme Position, in der ich locker selbst in den Koffer gepasst hätte. Ein junges Paar schlenderte angetrunken auf dem Bürgersteig. Der Mann stützte seine Freundin, sprach ihr etwas Unverständliches zu, doch sie stolperte über ihre eigenen Beine und fiel hin. Sie landete mit den Knien und den Handgelenken unsanft auf dem Betonpflaster. Ich vergrub meinen Kopf und schloss meine Augen. So konnte ich nur hören, wie die Frau in gepflegtem, aber alkoholbedingt zähem Englisch sagte: „Hey, what´s lying over there?“

Ihr Freund half ihr beim Aufstehen und tat sich bei den Worten „Nothing. Doesn´t matter. Let´s go to the room“ ausgesprochen schwer. Doch es reichte aus, um die betrunkene Frau in die Empfangshalle des Hotels zu schleppen.

Mir hing immer noch mein Unterkiefer bis zum Bauchnabel, als ich, fast ohne mich zu bewegen, den Reißverschluss des Koffers öffnete und den Rucksack darin verschwinden ließ. Mit dem verschlossenen Koffer sprang ich auf, klopfte mir schnell die Erde aus der Hose und hüpfte über die Granitstufen in das Hotel. Ohne an die Rezeption zu blicken rollte ich den Koffer zum Aufzug und wartete dort auf den Lift.

Wieder in meinem Zimmer angekommen fiel mir ein, dass ich den Brief, den ich bekam, noch nicht vernichtet hatte. Ich zerriss das Foto und den dazugehörigen Steckbrief in zig kleine Fetzen und spülte einen Teil in der Toilette und den anderen Teil im Waschbecken hinab. „Ich hätte das schon vorher tun sollen“, murmelte ich vor mich hin. Da fiel mir mein nächster, viel schlimmerer Fehler ein. Meine blaue Kappe lag noch auf dem Dach des Firmengebäudes in der Sam Yot! Ich muss so in Gedanken gewesen sein, dass ich sie einfach dort vergessen hatte. Verdammt!

Aber auf dem Dach findet es so schnell keiner und außerdem habe ich von dort oben gar nicht geschossen. Es war eine typische, unbestickte Kappe aus China, wie sie überall in Deutschland und auch vielen anderen Ländern zu kaufen war. Die Haare, die man dort finden könnte, würden mir nicht so schnell, wahrscheinlich sogar nie zugeordnet werden können. Oder?

„Egal“, sagte ich mir. „Wer viel Angst hat, muss sich nur viel fürchten.“ Ich wollte das Gewehr wieder im Schrank verstecken und montierte dazu die Rückplatte ab.

Zu meiner Überraschung fand ich darin ein Flugticket nach Deutschland für den nächsten Tag.

„Gut, dass ich noch keines beordert habe.“ Mit einem zufriedenen Grinsen legte ich es auf den Tisch und stellte den Koffer mit der G22 in das geheime Schrankfach. Auch das Feuerzeug legte ich zurück. Dann schraubte ich die Platte mit meinem Taschenmesser wieder davor.

Ich stellte mir einen Wecker und legte mich schlafen, nachdem ich alles in den Koffer packte, was nicht mehr von mir benötigt wurde. Am nächsten Morgen checkte ich dann spät aus dem Hotel aus, um möglichst kurz am Flughafen warten zu müssen.

Jetzt sitze ich im Flieger nach München und tippe diese Mail. Neben mir sitzt ein verliebtes italienisches Pärchen, das nicht den Eindruck macht, als könnte einer der beiden lesen was ich in mein Smartphone schreibe, wenn sie es überhaupt sehen würden. Zu meiner anderen Seite ziehen Wolken vorbei. Ein Bild, das mich wohl auch noch die nächsten sieben der insgesamt zehn Flugstunden begleiten wird.

„Zehn Stunden dauert der Flug von Bangkok nach München“, sagte Lara zu ihrer Katze, die nur kurz mit den Ohren zuckte und sich im gemütlichen Schlaf auf der eigens für sie gekauften Wolldecke nicht weiter stören ließ. Dann verzog Minka unruhig den Mund, als das nervige Tippgeräusch durch den Raum klapperte. Lara suchte etwas im Internet.

„A ha“, sagte sie. „Wenn es bei uns zwölf Uhr mittags ist, dann ist es in Bangkok gerade nachmittags um fünf. Das heißt, jetzt schlafen die schon alle. So wie du, Minka!“ Die Katze zuckte wieder nur kurz und döste danach gleich weiter.

Stille Sekunden flogen durch den Raum.

Lara saß noch in Trance auf ihrem Drehstuhl, überlegte weiter.

„Was mir nicht so richtig in den Kopf gehen möchte“, begann sie zu sich selbst zu sprechen. „Wieso schreibt dieser Mann ein... Ein Tagebuch als E-Mail an eine... Vermutlich an eine Zweitadresse? Ein sentimentaler, nachdenklicher Auftragskiller? Täusch´ ich mich? Da sind doch Fehler und Komplikationen schon vorprogrammiert. Wieso macht er das? Oder ist es doch nur Spam? Nein, da möchte jemand sein Tun dokumentieren, nicht vergessen. Aber zu Zeiten, in denen staatliche Sicherheitsbehörden fast überall mitlesen könnten, scheint das nur noch dumm.“

Die Antwort konnte Lara freilich nur erahnen. Ausmalen, so wie die Mail, die sie sich in ihren Kopf saugte, konnte sie sie aber nicht.

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