Читать книгу World Wide Wohnzimmer - Andreas Eichenseher - Страница 9

VII

Оглавление

Laras Wohnung. Zwei Tage vor ihrem Urlaub

Später Nachmittag oder früher Abend. Das war egal. Auf jeden Fall stand die Sonne nicht mehr hoch genug und war bereits hinter den benachbarten Häusern verschwunden. Das war sie eigentlich immer, wenn Lara draußen war. Darum war ihre Haut auch so hell, dass ihr manchmal fast die Augen schmerzten, wenn sie sich zu lange in hellem Licht im Spiegel betrachtete. Müde und mit geschlossenen Augen wippte sie im Schaukelstuhl vor und zurück, während Minka auf ihrem Schoß zufrieden schnurrte. Es hätte sich auch nicht großmächtig gelohnt, die Augen offen zu halten. Die Aussicht von Laras Balkon war eher bescheiden. In unmittelbarer Nähe umgarnten alte, rissige Bauwerke das Mietshaus, in dem sie lebte. Man konnte der bunten Wäsche der Nachbarn beim Trocknen zusehen oder die geöffneten Fenster zählen. Und ganz unten, im Innengarten spielten ab und an ein paar Kinder Fußball. Man hörte dann das laute Knallen, wenn Fußbälle gegen die Wand oder Garagentore geschossen wurden.

Aber das war immer dasselbe. Und am Himmel zogen nur zwei kleine, vom Winde zerfetzte Wolken durchs trübe Blau.

Die wahren bunten Bilder waren woanders, waren in Laras Kopf. Im Moment drehte sich dort alles um den ominösen Sender der Mails, diesen Killer. Wer konnte es sein?

Warum tötete er?

Wieso schrieb er alles auf und schickte es auf eine digitale Reise?

Wie sah er aus?

Wer weiß, vielleicht kannte ihn Lara sogar, oder hatte ihn zumindest schon einmal irgendwo gesehen. Vielleicht im Chat-Roulette?

Nichts war auszuschließen. Es faszinierte sie. Dieses, auf binäre Daten reduzierte Abbild eines Lebens, das so imaginär scheint, aber eigentlich genauso real war, wie ihr Eigenes. Und dann diese Video-Chat-Seite. Den peinlichen, dummen Vorfall von gestern Abend hatte sie schon verdaut, sie spielte sogar mit den Gedanken heute wieder zu chatten. Erneut mit Video. Und dann könnte sie sich bei jedem jungen, deutschen Mann überlegen: Ist er es oder ist er´s nicht?

Es fiel Lara schwer ihn sich vorzustellen. Wenn sie daran dachte, wie er den thailändischen Polizisten tötete, dann sah sie ein typisches Heldengesicht eines Actionfilm-Schauspielers. Und wenn sie sich dann an seine unglückliche Liebe zu Jana erinnerte, wirkte er wieder wie ein kleiner, schmächtiger Junge in einem Strick-Pullover, der mit seiner unförmigen Frisur versuchte ein paar Pickel zu verstecken. Ein pubertärer, unmündiger Bub.

„Moment. Ich hatte ja noch etwas vor“, meinte sie listig zu sich selbst, da klingelte es an ihrer Wohnungstür.

Sie zuckte, Minka sprang auf und Lara drückte sich von ihrem Stuhl nach oben, um durch die Wohnung zu traben.

„Wer das wohl ist?“, grummelte sie leise und gerade als sie die Tür erreichte klingelte es ein zweites Mal. Im Türspion erkannte sie ihre Nachbarin. Lara hängte das Schloss aus und öffnete zügig.

„Hallo Karin.“ Karin trug langes, blondes Haar und wäre ohne ihr in Kleidergrößen M gequetschtes Übergewicht eine ganz hübsch anzusehende Person gewesen.

„Hallo Lara, du ich hätte eine Bitte. Nur eine ganz kleine Bitte, ja? Ich bekomm´ jetzt dann gleich Besuch. Richtig, Besuch und will für ihn kochen. Da brauche ich eine Pfanne und ich habe, ach Herr je, glatt gar nicht mehr dran gedacht, dass von meiner Pfanne ja der Stiel abgebrochen ist. Da hab ich mir gedacht, ich komme schnell zu dir und frage ob´s denn möglich wäre, dass du mir deine leihst. Ja? Bitte.“ Welch ununterbrochene Wörterflut. Als würde sich Karin vor Lara´s Wohnungstüre verbal übergeben.

„Ach, vorgestern?“

„Ja genau. Hast du´s etwa gehört?“

„Ja. Warte kurz, ich hole schnell meine Pfanne.“

„Danke. Danke, vielen Dank schon mal. Dankili.“

Ein alter Mann mit zwei vollen Einkaufstüten aus Plastik schleppte sich mühselig die Stufen hinauf.

„Grüß dich“, quälte der Rentner erschöpft aus seinem Hals und Karin nickte freundlich. Da erschien Lara wieder in ihrer Wohnungstüre, aber der alte Mann drehte sich nur ignorierend und stumm um.

„Perfekt. Danke“, sagte Karin, als sie die Pfanne überreicht bekam. Man hörte noch das schwere Atmen, das Stampfen des Rentners und Lara vollführte eine unruhige Handbewegung, die ihrer nervösen Neugierde geschuldet war.

„Hast du ein Date?“

„Ja. So ein Netter. Oh, das ist eine tolle Geschichte, die erzähl ich dir auf jeden Fall noch, jetzt muss ich mich nur beeilen. Er kommt ja schließlich. Also zu mir.“ Karin grinste und zwinkerte mit dem linken Auge.

„O wie schön.“ Lara fasste sich an die Nase. „Dann viel Erfolg.“

„Danke. Ähm, ich bring sie dir morgen wieder“, sagte Karin, hob die Pfanne kurz hoch und nickte zum Ende.

„Ja, kein Problem. Ciao.“

„Ciao.“ Karin ging schon zwei Schritte zurück, da drehte sie sich trotz ihres Übergewichtes pfeilschnell herum.

„Warte Lara.“

„Ja?“

„Heute ist noch ein Paket abgegeben worden. Für dich.“

„Ein Paket? Ach, das Paket. Ja.“

„Warte, ich hole es gleich. Ich komme gleich, ja?“

„Natürlich.“ Lara weilte nervös in ihrer Tür, kratzte mit ihren Fingern an der Hose.

„Hier“, sagte Karin und trug einen kleinen, beklebten Karton in ihren Händen. Die Aufdrucke der Online-Apotheke waren klar und deutlich zu erkennen.

„Es geht mich zwar nichts an, aber bist du krank? Hast du was? Du kannst es mir ruhig sagen, ich schweige wie ein totes Grab, also wie ein Stein. Wirklich.“

„Ich bin nicht krank. Das ist nichts... Nichts Wichtiges.“

„Wirklich?“ Karin´s misstrauischer Blick fraß sich in Lara´s Augen.

„Wirklich.“

„Na gut. Dann wünsch´ ich dir trotzdem eine gute Besserung. Von was auch immer. Schönen Abend auch noch!“

„Danke. Dir auch. Euch auch.“

„Danke Lara.“


Wie ein abgestellter Besen stand Lara Sekunden später in ihrer Wohnung zwischen den Holzstühlen ihres Esstisches und dem freien Durchgang, der den Flur und den Essbereich verband.

Sie musste einmal tief durchatmen, dann stellte sie das Paket auf dem Tisch ab. Minka gab lange, wehleidige Geräusche von sich. Sie war vorhin unbewusst von Lara auf den Balkon gesperrt worden und saß nun traurig miauend vor der Glastüre.

Lara ließ ihre Katze wieder in die Wohnung und setzte sich an den Tisch zu einer Packung Abführtabletten, einem Skalpell, einem besonders kräftigen Flüssigkleber und der Schachtel Antibabypillen im Karton. Die Abführtabletten hatte sie schon zuhause, sie sahen den Antibabypillen, die sie gestern in der Arbeit bestellte, bezüglich Form und Größe verwechselnd ähnlich.

Lara riss das Paket auf, holte die Tabletten heraus und rückte sich alles zurecht.

„Wo ist denn...?“ Sie kramte einen kleinen, gefalteten Zettel aus ihrer Hosentasche, auf dem sie sich gestern Notizen gemacht hatte, und legte ihn zu dem übrigen Zeug auf den Tisch.

„Ach, ja.“

Nun zog sie ganz vorsichtig die Aluminiumfolie von der Packung der Antibabypillen und der Abführtabletten. Mithilfe des Klebers brachte sie die entsprechende Folie bei der falschen Packung wieder an.

Sie hatte sich das genaue Muster, der von Daniela bereits entnommenen Tabletten der Originalpackung natürlich akribisch notiert und stellte diesen Zustand auch bei der gefälschten Packung her.

Nun musste sie die beiden Tablettenpackungen nur noch übers Wochenende vertauschen, bevor sie übermorgen in die Türkei fliegen würde. Abführmittel statt Anti-Baby-Pillen.

Der Plan war perfekt. Es war vielleicht ein wenig dick aufgetragen, schließlich hatte ihr Lara diese Woche schon mehrere Ungereimtheiten untergejubelt, aber je mehr Schaden, desto besser.

„Daniela sitzt am Klo. Ich kann sowieso nicht helfen, weil ich im Urlaub bin. Die Arbeit wird immer mehr. Und die Umstände veranlassen vielleicht auch andere Kollegen zu ironischem Gespött.“


Nachdenklich musterte Lara das Durcheinander aus geöffneten Packungen, Tabletten und anderen Utensilien.

„Mensch Katze! Ich wollte mein E-Mail-Fach noch checken. Natürlich!“

Lara ging augenblicklich in ihr Schlafzimmer.

„Komm Minka. Da ist bestimmt schon wieder ´ne neue Nachricht da.“

Sie machten es sich beide auf dem schweren Sessel bequem und Lara legte ihre Schuhe ab.




Wie ich schon erwähnte, gab Thomas, ein guter Freund von mir, ein Konzert in einer extravaganten Kneipe. Neben dem Eingang prangerten zwei schwarze Graffitis auf den Garagentoren der Besitzer, über die jemand mit grüner Farbe unleserliche Parolen geschmiert hatte.

Die Kneipe selbst war nur etwa zur Hälfte gefüllt. Gesetzeswidrig rauchende Jugendliche lümmelten auf roten Ledersofas, deren Bezüge zerfetzt und mit leeren Zigarettenschachteln ausgestopft waren.

Es war nicht das erste Mal, dass ich dort den Abend verbrachte und ich wusste daher, dass ich in den Keller musste. Eine schmale, niedrige Treppe aus Beton führte mich in einen weiten Raum, dessen Deckengewölbe ausschließlich aus Bruchsteinen bestand. Etwa zwanzig Personen wurden von der warmen Beleuchtung erhellt, aber nur wenige ließen sich von der Musik zu Tanzbewegungen animieren. Die meisten verhielten sich starr und tranken Bier. An der Seite, an der auch die Treppe in den Keller mündete, hatten die Besitzer der Kneipe zwei alte Sofas platziert und auf einem davon saßen Christoph und Jana.

Sie ließen sich nicht von der lauten Rockmusik beeindrucken und redeten. Sie redeten miteinander. Und mir bissen argwöhnische Geister ins Herz.

Christophs Lippen bewegten sich nur kaum und trotzdem hing Jana an ihnen. Ich machte einen Schritt in ihre Richtung.

„Hey“, sagte Jana. „Da bist du ja endlich!“ Sie stand auf und umarmte mich obligatorisch. Ihre Halskette fehlte. Sie trug die Halskette ihres Ex-Freundes nicht und ich verstand sofort die Absicht dieses Symbols.

„Bist du mit dem Auto hier?“, fragte ich sie.

„Nein mit dem Bus.“

Christoph trat neben sie und schüttelte mir die Hand. Er drückte wie immer sehr kräftig zu. Kräftiger als ich.

Und ich stand alleine unter den vielen Leuten. Alleine gegenüber Jana und Christoph. Die beiden, die schon wieder auf der Couch Platz nahmen.

Ganz nah und doch so fern,

behält sie mich bei ihr.

Ich hab sie doch so gern,

steh´ stets in ihrer Tür.

Doch was ich tue, wird kein Erfolg.

Bin nur die Feder, die´s Kissen holt.


„Hey du Sack!“ Jemand schlug mir auf die Schulter und riss mich aus meinem poetischen Selbstmitleid.

„Tim! Was machst denn du hier?“ Er redete nicht nur im gleichen Jargon wie damals, er sah auch noch genauso aus. Seine kurzen, blonden Locken gelte er wie immer zur Seite und seine ungeschorene Schifferkrause ließ ihn älter wirken, als es nötig war.

„Ich hör mir die Scheiße an. Saugeil!“ Er deutete auf die Bühne, auf der Thomas gerade Gitarre spielte. Ich hatte schon ganz vergessen, dass ich ursprünglich mal wegen ihm hierher kommen wollte. Egal.

„Ich hab dich ja schon Jahre nicht mehr gesehen!“

„Du wirst lachen, aber ich dich auch nicht“, meinte Tim stumpf.

„Seit wann bist du wieder in der Stadt? Oder, lebst du überhaupt schon wieder hier?“

„Ja natürlich, du Penis.“ Er riss seinen Mund zum Lachen weit auf. Und ich lachte freundlicherweise mit ihm.

„Hab meinen Bachelor in Informatik und arbeite jetzt hier“, sagte er.

„Den Master machst du nicht mehr?“

„Was? Niemals! Der Professor hat mir auch davon abgeraten, der Hurensohn.“

„Ach so. Und wie lange bist du schon hier?“

„Bin gerade erst gekommen.“

„OK. Ach nein, ich meine, seit wann bist du wieder in der Stadt?“

„Ach so! Seit drei Monaten, glaub ich.“

„Äh, warte mal kurz. Nur kurz“, sagte ich zu Tim, machte eine kurze, sanfte Geste, die einem Winken ähnlich sah und stieg die Stufen hinauf. Jana und Christoph waren nicht mehr auf dem Sofa und auch nicht mehr im Keller. Auch im Erdgeschoss der Kneipe waren sie nicht aufzufinden. Nur rauchende Jugendliche. Keine Jana. Ungeduldig und angespannt lehnte ich mich an die Wand neben dem Eingang der Herrentoilette und wartete. Als nach drei Minuten weder Christoph, noch Jana aus der gegenüberliegenden Tür erschien, rannte ich aus dem Lokal. Scheiße, sie taten es bestimmt gerade, nein! Bitte nicht! Es war dunkel und die Wärme des Tages schon geflohen. Ich rieb meine Arme und krempelte die Ärmel meines Hemdes wieder nach vorne bis zu den Handgelenken. Niemand war vor dem Eingang und auch die dunkle Gasse schien leer.

Wären nicht die vielen Autos gewesen, hätte ich nicht unterscheiden können, ob ich im 21. oder im 16. Jahrhundert war. All die schiefen und bunten Häuser bildeten mit den tausenden, verschiedenen Pflastersteinen ein unvergleichbares Mosaik. Die Steine glänzten im gelben Licht der Laternen und auch die Fahrzeuge schimmerten. Inmitten dieser begeisternden Architektur suchte ich traurig und verzweifelt nach Jana. Ich passte gar nicht in diese schöne Welt. Angst beklommen lief ich nach links. Die Gasse bog sich stetig sanft gegen den Uhrzeigersinn und während meine Füße geradeaus über das Kopfsteinpflaster rannten, drehte sich mein Kopf hin und her. Jeden Zwischenraum der parkenden Autos, jede kleine Seitengasse, jeden Hauseingang spähte ich aus, doch keine Spur von Jana. Plötzlich tauchte vor mir ein etwa 200 m² großer, begrünter Bereich auf, in dem fünf uralte Bäume lebten. Eine dunkle Metallkette und eine Reihe parkender Wagen umzäunten ihn und ich rief laut Janas Namen. Ich rief ihn immer wieder, doch es war keine Reaktion zu verzeichnen.

Kopf und Bauch schmerzten, drückten und es nistete sich ein Bild von Jana und Christoph, umarmend und küssend, in meinem Haupt ein. Es ließ sich nicht vertreiben, war wie eine Schar lästiger Autos hinter einem, auf einer Landstraße tuckernden, Lastkraftwagen. Tränen flossen über meine Wangen und ich raufte mir meine Haare. Als ich auf der anderen Seite der Begrünung Schritte hörte, dann aber erkannte, dass es sich um ein älteres Ehepaar handelte, drehte ich wieder um und lief zurück. Warum war sie einfach verschwunden? War sie gerade dabei sich vollständig aus meinem Leben zu verabschieden?

Noch mehrmals rief ich nach Jana, doch es zeigte keine Wirkung. An meinen Ärmeln wischte ich mein von Tränen gezeichnetes Gesicht ab, als in etwa 100 Metern Entfernung der L.U.D.E.R.E.R. wieder vor mir auftauchte. Ein paar Leute standen nun neben dem Eingang und rauchten.

„Wo kommst du denn her?“ Es war eindeutig Janas Stimme, die mir entgegenflog. Sie stand vor den beschmierten Garagentoren und neben ihr war Christoph, der mich bedenklich musterte.

„Äh, frische Luft schnappen und ein bisschen durch die Gassen schlendern, was sonst?“ Ich kniff meine Augen zusammen, damit man nicht so leicht erkennen konnte, dass ich geweint hatte. Ein schmales Grinsen sollte meine Emotion ebenso vertuschen.

„Du, wir gehen jetzt dann. Thomas´ Band hat eben schon aufgehört und jetzt spielt nur noch so eine andere Gruppe, aber die wollen wir gar nicht mehr hören. Möchtest du mitgehen?“

„Äh, ja OK. Dann gehe ich gleich mit.“ Ich war froh, dass sie mich das gefragt hatte.

„Hey du Schwachkopf. Du sagtest `kurz`!“ Tim kam aus dem Eingang und schon schlug mir seine verrauchte Stimme entgegen.

„Ja tut mir Leid. Hat doch noch länger gedauert.“

„Wo warst du eigentlich?“

Jana und Christoph beobachteten uns und erst jetzt erkannte ich, dass die beiden Händchen hielten. Das Bild ihrer Zweisamkeit fuhr messerscharf in meine Kehle. Und noch tiefer. Es raubte mir den Atem.

„Ihr... Ihr könnt schon mal gehen. Gute Nacht.“ Und noch im selben Moment ärgerte ich mich über meine Worte, da die beiden umstandslos verschwanden. Ob sie zur Verabschiedung noch leise etwas gesagt hatten wusste ich nicht mehr, doch normalerweise umarmte mich Jana immer, wenn sie mich verließ. Mit verkrampftem Magen und gebrochenem Herzen wandte ich mich wieder Tim zu.

„Ich bin nur raus, um jemanden anzurufen. Da unten hat man ja kein Netz!“

„Das stimmt.“

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Jana und Christoph langsam weiter entfernten.

„Du“, sagte ich während meine Augen nun deutlich auf meine beiden Freunde gerichtet waren. „Ich... Geh jetzt wieder.“

„Jetzt schon?“

„Ja, wegen dem Anruf gerade. Ich hab noch eine Art... Verabredung.“

Tim grinste schief und klopfte mir auf die Schulter. „Dann zier dich nicht und leg sie flach! Bis bald mal!“

„Gute Nacht.“

Leise schlich ich den beiden hinterher, da schrie mir Tim noch einmal laut zu.

„Ruf mich mal an, wenn du was brauchst oder was machen willst, Bastard!“

Jana und Christoph drehten sich reflexartig um und ich sprang schnell zwischen zwei Autos, um nicht entdeckt zu werden. Tim war schon wieder in der Kneipe und als ich fünf Sekunden später in die Gasse spähte, sah ich auch Jana und Christoph nicht mehr. Leise wie ein Elektrofahrzeug versuchte ich schnell aber lautlos meinen Rückstand aufzuholen und erkannte die beiden bald wieder vor mir. In einem Abstand von etwa vierzig Metern spazierten sie dahin. Ihre Schatten waren groß und bewegten sich simultan zu ihren Schöpfern. Plötzlich machte Jana einen merkwürdigen Schritt, mit dem sie sich selbst ein Bein stellte. Seitlich fiel sie auf die Straße, stützte sich noch mit den Händen ab und landete auf dem Pflaster. Christoph reagierte sofort und reichte ihr seine rechte Hand, doch Jana zog ihn daran näher zu ihr hinab. Sie blickten sich lange in die Augen, bis ihre schwarzen Umrisse sich weiter aufeinander zu bewegten. Ganz langsam begannen ihre beiden Münder zu verschmelzen. Frische, in hässlichen Eifer und Napalm getünchte, Tränen entzündeten mein Gesicht. Wie gelähmt stand ich neben einem dunklen Auto, doch mein Gesicht schien zu brennen, zu vibrieren, zu lodern, zu pulsieren. Meine Beine waren wild verrenkt, mein Rücken schief und nach einer gefühlten Viertelstunde, in der ich glaubte, kein einziges Mal geatmet zu haben, trennten sich ihre Lippen wieder. Ihr erster Kuss war zu Ende, doch das zerreißende, erstickende und zugleich verbrennende Gefühl in mir erreichte nun erst seinen Höhepunkt.

Die beiden spazierten davon und tauchten kurz darauf hinter dem steinigen Horizont des Häusermeeres unter.

Ich stand auf dem dunklen Kopfsteinpflaster. Mein Kopf war leer. Einfach leer. Nur das Gefühl. Zorn.

Das imaginäre Bildnis klebte vor meinen Augen, ich geriet ins Wanken und stützte mich am Wagen neben mir ab. Ich berührte nur den Kotflügel, da begann die Alarmanlage schon laut und ungehalten zu heulen. Erschrocken sprang ich über die Straße und verschwand in einer winzigen Gasse. Die Mülltonnen waren dicht aneinander gereiht und ich zwängte mich dazwischen, lief einfach so schnell ich konnte davon. Ich rannte weg von allem, was mich hier nicht mehr haben wollte. Jana ließ mich links liegen. Christoph brach mir ohne es zu wissen das Herz. Und das fremde Auto scheuchte mich wie ein aggressiv bellender Hund durch die Stadt.




Es war, als läse sie jeden Tag ein neues Kapitel eines Buches, einer Geschichte, deren Ende lange noch nicht in Sicht war. Das faszinierte Lara und dennoch schienen die grauen Elemente in ihrem Zimmer so stark wie selten zuvor zu dominieren.

„Komm her Minka.“ Sie klopfte auf ihren Schoß und gab anlockende Geräusche von sich, indem sie ihre Zunge fest gegen den Gaumen drückte und immer wieder schnell entfernte. Minka war während der Geschichte auf ihren eigenen Platz geflüchtet, dort lag sie eindeutig bequemer. Die Katze tappte nun wieder ganz leise aber zügig auf sie zu und strich um ihre Beine. Dann sprang sie auf ihre Oberschenkel, schmiegte sich an Laras Bauch und legte sich behutsam neben ihm auf ihre Schenkel. Gefühlvoll wurde sie von ihrem Frauchen gestreichelt. Lara flüsterte ihr sogar sanft ins Ohr, das schon bei den kleinsten Luftstößen unruhig zuckte.

„Hoffentlich macht er nichts Dummes. Er hätte ihr seine Gefühle einfach schon viel früher offenbaren sollen. Jetzt ist es zu spät und er sollte sich lösen. Einfach lösen. Schließlich ist alles und jeder ersetzbar. Auch Daniela.“

Da sprang Minka erschrocken auf und rannte davon. Das Telefon klingelte.

„Ja? Lara Sporer.“

„Hallo. I bin´s. Mama.“ Susanne schmatzte unabsichtlich laut in den Hörer.

„Hallo.“ Lara atmete tief durch, sie hätte sich das Telefon am liebsten gegen den Kopf geschlagen.

„Du, ich ollt noch zwecks Morgen glei ausmachen.“

„Mama schlucken! Du hörst dich an wie ein Hallenbad.“

Susanne schluckte wie befohlen. Sie schluckte so laut, dass Lara angewidert mit den Augen zwinkerte.

„Ja“, gestand ihre Mutter. „Aso wegen Morgen. Wann kommst du?“

„Weiß nicht.“

„Ach so. Aber ich würd´s nur gern ungefähr wiss.“

„Bleib doch mal locker.“ Der verbissene Terminzwang ihrer Mutter hatte sie schon immer gestört, doch genauso sehr übersah Lara, dass auch sie des Öfteren eine akkurate Fasson an den Tag legte.

„Also dann... Und mit Katze. Du bringst Katze mit?“

„Sonst würde ich doch gar nicht kommen.“

„OK. Dann bis Morgen. Irgenwann.“

„Ja.“ Sie legte auf und zog fest an ihren Haaren. Es schmerzte ihre Mutter zu hören und es schmerzte ihr nur Antipathie entgegenzubringen.


Früher, als Lara noch ein kleines Kind war, ging Susanne zur Arbeit. Sie war Kindergärtnerin und hatte Spaß an ihrem Beruf, aber dieser Spaß war ihr nicht vergönnt. Die Kolleginnen ließen keine Gelegenheit aus, um sie zu mobben. Was zum Einen ein grauenhaftes Vorbild für die vielen Kinder war, wurde auch zum Beginn einer wohl nie mehr endenden Leidensgeschichte.

Das Mobbing machte Susanne mürbe, schwach und einsam.

Man hatte ihr ein schweres Kreuz aufgezwungen und sie würde es wahrscheinlich bis an ihr Lebensende nicht mehr abnehmen können.


Lara wollte indessen stärker sein und auf keinen Fall so enden wie ihre Mutter.

World Wide Wohnzimmer

Подняться наверх