Читать книгу World Wide Wohnzimmer - Andreas Eichenseher - Страница 8

VI

Оглавление

Laras Wohnung. Feierabend nach einem langen Behördentag

Die Spiegeleier waren gegessen, da kroch die Katze zum ersten Mal aus einem Zimmer und trat in Laras Sichtfeld.

„Das glaubst du nicht! Das willst du wahrscheinlich gar nicht hören!“ Sie schrie laut, aber Minka hörte nichts. Denn Lara schrie es in sich hinein.

„Margarete ist schwanger! Und ich dachte immer, die würde sich an meine Figur anpassen.“

Margarete war eine weitere Arbeitskollegin von ihr und bediente die Kunden direkt am Schalter.

Lara gab ihr Besteck in die Spülmaschine und schaltete sie ein. Konsterniert nahm sie auf dem alten, breiten Sessel in ihrem Zimmer Platz und drehte sich zu ihrer Katze, die es sich schon wieder auf ihrer Decke bequem gemacht hatte.

„Und sie wird in Mutterschutz gehen. Es war schon lange bekannt, aber mir hat natürlich niemand etwas gesagt. Margaretes Mutterschutz naht. Weißt du was das heißt? Du müsstest dir ja eigentlich denken können, was das heißt, Minka. Der Posten am Schalter wird frei. Also der Platz, den ich schon immer wollte! Dort, wo ich gesehen werde! Gesehen werden würde!“ Laras Katze stand von ihrer Wolldecke auf und trabte gelangweilt aus dem Zimmer. Doch Lara machte schnell die Türe zu.

„Hiergeblieben! Ich bin noch nicht fertig! Seit drei Jahren arbeite ich im Landratsamt!“ Lara diskutierte nach wie vor nur in ihrem Kopf. Sie sprach nicht und Minka konnte sich gar nicht erklären, weshalb ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Eingeschüchtert kauerte sie sich auf eine andere Decke in der Nische neben dem Kleiderschrank.

„Seit drei Jahren! So, und Daniela seit ein paar Wochen. Das kann doch der Kratzinger jetzt nicht wirklich bringen, dass er die Daniela an den Schalter setzt. Oder?“ Sie nahm auf ihrem Sessel Platz und starrte zu Boden.

Es war alles Grau. Ihre Gedanken und ihr Leben.

„Scheißdreck. Wie er Daniela heute beobachtet hat, wie er mit ihr gesprochen hat. Das wirkte schon fast wie ein Eignungstest. Mit mir hat er so was nicht gemacht! Pech, bin halt zu hässlich für direkten Kundenkontakt. Verflucht!“ Verbissen ließ sie ihre Wangenmuskeln spielen und verzog kurz ihre Nase. Gehässig hackte sie weiter auf Daniela herum.

Aber nun sprach sie laut.

„Wie ich sie hasse. Nervige Schlampe. Die kommt her, sieht gut aus, macht in ein paar Wochen vieles gut, ja klar und schon liegen ihr alle zu Füßen. Es wird Zeit, dass sich die Fehler, die ich ihr untergeschoben habe, bemerkbar machen! Dann wird meine jahrelange Leistung wieder anerkannt. Kontinuität wird doch sonst immer so stark bewertet! Perverse Welt. Notgeile Welt!“

Ihr kalter Blick schlich langsam über den Schreibtisch.

„Heute habe ich einen Hefter voll mit Akten aus ihrem Schrank verschwinden lassen. Und ich mache währenddessen einfach ruhig und zuverlässig meine Arbeit und hoffe, dass der Kratzinger mit geöffneten Augen durchs Leben geht. Nicht zu weit geöffnet, sonst erkennt er meine Messerstiche oder würde von Danielas Äußerem geblendet werden. Er soll doch einfach nur Erfahrung anerkennen. Das Recht des Älteren ins Spiel bringen!“

Minka hatte sich mittlerweile unbemerkt versteckt, aber Lara erklärte ihr weiterhin in hartem, aber nicht zu lautem Ton ihre Ideen.

„Ich habe auch schon überlegt einfach den Kontakt ihres Bürotelefons mit einem Klebestreifen abzukleben. Dann hätte der Apparat geklingelt, aber sie hätte nach dem Abheben nichts gehört. Kein Wort!“ Lara lachte hinterhältig, grinste schief. „Das habe ich mich dann aber doch nicht getraut. Es wäre zu auffällig gewesen. Was mich aber schon noch reizen würde, wäre ein... Ein Abführmittel. Es müsste am besten nächste Woche irgendwie in ihren Kaffee gelangen. Wenn ich dann im Urlaub bin, wird sie noch mehr Aufgaben zu erledigen haben. Und denen wird sie dann nicht mal ansatzweise nachkommen, weil sie die meiste Zeit auf der Toilette verbringen wird. Diabolisch aber gut. Oder? Im Gegensatz zu ihrem Darm würde sie einen regelrechten Produktionsstau verursachen.“


Erschöpft, traurig und verzweifelt richtete sich Laras Blick nach ihren Tiraden auf die Wand vor ihr. Sie schloss bedrückt die Augen und betrachtete sich selbst in ihren Gedanken vom Türeingang aus. Sie sah sich auf dem mächtigen Sessel sitzen, klein und hässlich. Sie sah ein fürchterliches Weib, das nichts besonderes war und aus dieser Grundlage heraus besonders hässliche Dinge an besonders netten Menschen verübte und zu verüben plante. Ihr zweites, gedankliches Ich packte den klobigen Monitor ihres Computers und schmetterte ihn schreiend gegen die Wand. Es krachte laut, gebrochenes Plastik und Scherben übersäten mit bunten Leitungen das Bett. In der Wand prangerte eine Delle, groß wie ein Suppenteller. Es zermürbte ihr gedankliches Ich sich selbst so zerstört und verzweifelt zu sehen. Aber die Wut, die ihre Gedanken kreierten, die sie zum lautlosen Echauffieren brachten, wurde eben auch nur gedanklich in Aggression übersetzt. Nur die Worte formten die Realität.

Wie ausgestopft saß sie auf dem Sessel und starrte in die Luft. Nur ein Bein ihrer Katze spitze noch hinter dem Schrank hervor und im Hintergrund grummelte die Spülmaschine monoton, wurde plötzlich abrupt, aber nur kurz, lauter und riss sowohl Minka als auch Lara aus deren Träumen und Illusionen.

„Komm her, Minka.“ Sie klopfte auf ihre Oberschenkel, bis sich die Katze auf sie zubewegte und darauf sprang. Lara streichelte ihr Haustier liebevoll und zärtlich.

„Wir könnten auch mal eine dieser Mails beantworten und einen Steckbrief von Daniela anhängen.“ Sie grinste erheitert und Minka leckte sich ignorierend ihre linke, weiße Pfote, um sich damit als nächstes schnurrend den Kopf zu putzen.

„Na ja“, sagte Lara. „Guten Morgen mein Liebster“, fügte sie an und weckte ihren Rechner aus dessen Traum.

„Tatsächlich. Da ist schon wieder eine neue Mail. Minka, ich lese sie dir gleich vor.“ Ihre Katze döste schon wieder vor sich hin.

„Ach. Ich les´ einfach leise für mich selbst.“

Leise schaukelten die hohen Birken im sanften Wind. Ihr Geäst schwankte darin, wie die Flügel der Vögel, die darüber hinweg zogen und ich ergötzte mich an der farbenfrohen Pracht des Lenz, der gerade dabei war, sich mit dem Sommer zu bekleiden. Kein einziger Schatten lag auf der Wiese, die in sattem Grün erstrahlte, in das sich an manchen Stellen weiße Flecken mit Gänseblümchen mischten.

Lara musste laut lachen und ihre Katze erwachte ängstlich.

„Ist das immer noch dieser Killer? Der schreibt ja wie ein Romantiker, wie ein Poet!“

Die Sonne legte sich warm auf die alte, dunkle Scheune, den großen Gemüsegarten und das hohe, breite, gelbe Haus meiner Großmutter. Erst letztes Jahr war es neu gestrichen worden und erstrahlte übermächtig in der Mitte des Grundstücks. Es war immer wieder schön zuhause zu sein. Bei meiner Großmutter. Mein Rücken erwärmte sich schnell und ich hörte leise einen Zug in der Ferne vorbeifahren, als ich das Haus betrat. Ich legte den Koffer in mein Dachgeschosszimmer und huschte schnell unter die Dusche.

Frisch und sauber aß ich anschließend zu Abend. Meine Großmutter hatte mir einen Teller Kartoffelsuppe bereitgestellt und eine Scheibe Brot daneben gelegt.

„Wie ist es so in Bangkok?“, fragte sie mich mit kratzender Stimme.

„Da ist ganz schön viel los“, sagte ich. „Als ob man einen überdimensionalen Karton bis zum Rand mit allen erdenklichen Spielsachen gefüllt hätte. Und dieser Karton hat keine Luftlöcher!“

„War die Luft recht schlecht dort unten?“

„Oh ja. Das war sie.“

Meine Großmutter stand vom Stuhl auf und ging, gestützt durch ihren Stock, zum Kühlschrank.

„Willst einen kalten Holundersaft? Den hab ich gestern selbst gemacht.“

„Ja, bitte.“

Sie schenkte mir ein Glas voll und stellte es auf den Tisch. „Schön, dass du wieder da bist.“

„Ich war ja gar nicht lange weg.“

„Aber du könntest noch Holz ins Haus tragen, jetzt dann.“

„Holz? Es ist doch so warm.“

„Aber mir ist schon noch ein bisschen kalt.“

„Na ja, eigentlich wollt ich jetzt dann schon wieder gehen...“

„Schon wieder? Wohin denn?“

„Ich hab mich mit Jana verabredet. In der Stadt.“

„Immer fort. Die jungen Leute laufen immer fort. Da scheint die Sonne auch nicht länger wie zuhause. Wenn die Jana wenigstens deine Freundin wäre... Oder ist sie´s?“

„Nein. Ich hol dir morgen Früh das Holz, ja?“

Ich stand auf, nahm die Autoschlüssel vom Schlüsselbord aus dem Flur und verabschiedete mich von meiner Großmutter.

„Auf dem Kasten im Gang liegt ein Brief für dich“, rief sie mir noch zu.

Ich riss ihn unverzüglich auf.

8.000 € lagen darin und es roch gut.

„Danke Oma.“

Ich war nur zehn Minuten zu spät bei Jana, die in einem Vorort wohnte. Wie immer fuhr ich mit diesem einen kleinen Funken Hoffnung zu ihr, den ich jedes Mal in mir trug. Seit ich sie das erste Mal gesehen habe, weiß ich, dass sie meine Traumfrau ist. Nur leider erkenne ich jedes Mal, wenn ich sie sehe, mich mit ihr treffe oder mich einfach nur mit ihr unterhalte sofort, dass sie diese Gefühle nicht ansatzweise mit mir teilen kann. Seit Jahren versuche ich daher einfach nur ihre Nähe zu genießen. Daraus hat sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt, auf die ich eigentlich stolz sein müsste.

Ich klingelte an Janas Haustüre. Sie lebte noch bei ihren Eltern, um sich ihr Studium leisten zu können.

Nach einer halben Minute hatte immer noch niemand auf das Geräusch reagiert und ich drückte erneut auf den kleinen, kreisrunden Knopf. Diesmal kam Jana an die Türe.

„Hey! ´tschuldigung, ich war noch im Bad.“ Ich grinste ihr verzeihend zu und sie umarmte mich herzlichst. Ihre rotbraunen Haaren streiften meine linke Wange und ihr Duft fuhr in mich, wie ein Streichkonzert in die Ohren der lauschenden Bewunderer.

„Fahr´n wir gleich los?“

„Ja, schon. Christoph ist bestimmt auch schon drin.“

„Wer ist Christoph?“, fragte Jana.

„Ich kenn´ ihn von der Arbeit.“

Auf dem Weg zu der Bar redeten wir nicht allzu viel. Jana fragte mich nur, wie es in Bangkok war und ich antwortete prägnant: „Laut. Es ist verdammt viel los. Nicht nur von der Menge des Gebotenem, sondern auch von der Vielfalt. Man muss es einfach selbst erlebt haben.“ Ich zwinkerte ihr zu, doch sie blickte nur aus ihrem Fenster. Die tiefstehende Sonne schimmerte in ihrem Haar und ihre Augen leuchteten grüner als sonst.


Nach zwanzig Minuten stellte ich den Wagen auf einem Schotterparkplatz ab und wir gingen über eine eiserne Brücke hin zu der Bar, in der auch schon Christoph war. Jana trug einen schwarzen Rock und eine rote Bluse, die ihre Figur vorteilhaft betonte.

„Wie lange dauert eigentlich so ein Flug nach Bangkok?“, fragte sie.

„Zehn Stunden.“

„So ein langer Flug?“

„Ja. Wieso?“

„Rentiert sich das überhaupt? Ich meine für die Arbeit.“

„Es rentiert sich immer. Aus guten Kritiken resultieren viele neue Buchungen.“

Als wir an der Bar ankamen, erkannte ich auf einem großen Flachbildschirm, der dort an der Wand hing und von zahlreichen Menschen in den Blick genommen wurde, gerade den Anstoß der zweiten Halbzeit des Fußball-Europa-League-Finales. Jana sah mich fragend an. Sie spielte mit ihrem Blick aber nicht auf mein fußballerisches Interesse an, sondern wollte erfahren, wohin wir uns begeben mussten. Ich deutete auf einen runden Tisch vor einem der hohen Fenster, an dem Christoph stand. Die Bar war gefüllt mit frenetisch feiernden Fußball-Fans und das schummrige Licht kam ausschließlich von elektrischen Fackelimitaten, die an den Wänden angeschraubt waren. Langsam drückten wir uns durch die Menge, kämpften uns zu meinem Freund aus der Arbeit.

Christoph schüttelte mir zur Begrüßung die Hand und nickte unmerklich. Gegenüber Jana stellte er sich dafür umso höflicher vor.

„Hübsche Freundin hast du da“, sagte er zu mir und Jana zog ihren süßen, kleinen Kopf verlegen ein.

„Ach was“, sagte sie.

„Doch doch!“ Wie scharfe Dolche drangen seine Komplimente in meinen Körper. Sie waren an Jana gerichtet, aber berührten mich am intensivsten.

„Danke.“ Sie lächelte Christoph lange an, da kam die Bedienung und nahm unsere Bestellungen auf. Christoph hatte bereits ein Bier beordert. Sein Willibecher stand schon neben der kleinen, hellen Blumenvase auf dem runden Holztisch. Jana gab einen Pfirsich-Eistee und ich eine Hefe-Weisse in Auftrag.

„Wie war´s in Bangkok?“, fragte mich Christoph.

„Hat alles gepasst.“

„Auftrag erfüllt, sozusagen?“

„Genau. Einwandfrei.“

„Wunderbar. Und was treibst du so, Jana?“

„Ich studiere an der Uni hier Pädagogik.“

„So so. Wo hast du denn dieses kluge Mädchen aufgegabelt?“, fragte mich Christoph heiter.

„Wir waren sechs Jahre lang gemeinsam auf der Realschule.“

„Ach so, dann kennt ihr euch ja schon ewig.“

„Sehr richtig.“

Schon brachte die flotte Bedienung unsere Getränke und ein entsetztes kollektives Schreien schallte durch die Bar, als ein Stürmer eine riesige Chance zur vermeintlichen Vorentscheidung vergab. Es stand noch 1:0.

Wir stießen gemeinsam an und tranken den ersten Schluck. Eifersüchtig sah ich die nächste Zeit zu, wie sich Jana und Christoph besser kennenlernten. Sie unterhielten sich noch eine Weile über Beruf und Studium. Jana schien sehr angetan von den Geschichten, die ihr Christoph erzählte. Sie fand es sehr erwachsen, wie er seine Pläne Preis gab, nächstes Jahr weiter auf die Schule gehen zu wollen, um anschließend Tourismus-Management zu studieren. Fast schon verführerisch redete er mit ihr, wickelte ihre Aufmerksamkeit um seine Worte und es glich einer raffinierten Hypnose, in der sie sich an die erlebten Freuden erinnern sollte, die er ihr wieder geben könnte. Zumindest sah ich es so. Er konzentrierte sich auf ihre Augen, nur auf ihre Augen. Sein Mund bewegte sich kaum, doch seine Worte drangen klar daraus hervor. Aus Janas Wahrnehmungsradius war ich anscheinend schon lange verschwunden und als sie dann kurz auf der Toilette war machte ich meinem Unmut bei Christoph Luft.

„Was erzählst du denn da?“

„Wieso? Hast du ihr etwa die Wahrheit erzählt?“

„Nein. Aber... Tu ihr bitte nicht weh!“

„Was redest du denn da?“ Christoph grinste schief und ohne seine ohnehin rhetorische Frage zu beantworten begleitete ich mit meinen Augen angespannt einen Gothic-Anhänger mit langen schwarzen Haaren unter seinem dunklen Hut und einem noch viel längeren, schwarzen Ledermantel, der vor dem Fenster vorbeizufliegen schien. Im zweiten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes öffnete ein Mann mit freiem Oberkörper ein Fenster. Er hatte wohl eben geduscht, denn der Wasserdampf floh sichtbar in Massen aus dem Badezimmer. Die Umwelt sollte mich ablenken, war doch die Spannung in meinem Gesicht so enorm, das mir Tränen nahten. Aber Christoph grinste mich immer noch an.

„Entspann´ dich, Kumpel.“

Ich versuchte ihn grimmig anzusehen, doch es schien mir nicht wirklich zu gelingen. Christoph kicherte ein wenig und ich bemühte mich ruhig zu bleiben. Das wollte und musste ich.

Doch es riss mir am Herzen, als dann Jana vom Klo zurückkam und sich, ohne mich zu beachten, neben Christoph stellte. Wie konnte sie das tun? Wie konnte ich so dumm sein?


Unachtsam stieß meine linke Hand nur zwei Minuten später gegen die Vase und warf sie um. Vielleicht war es Absicht, ich weiß es nicht. Das Blumenwasser lief auf den Tisch und tropfte zu Boden.

„Na, wenn du in der Arbeit auch so ein Tollpatsch bist...“, sagte Jana belustigt.

Diesmal hatte ich seltsamerweise kein Problem damit, den Emotionen in meiner Mimik freien Lauf zu lassen.

„War doch nur ein Scherz. Wieso starrst du mich so böse an?“

„Entschuldige“, antwortete ich, senkte meinen Blick beschämt auf den Boden und holte mehrere Papiertaschentücher aus meiner Hosentasche, um mein Missgeschick wieder unkenntlich zu machen.

Wenngleich ich auch ständig versuchte mir die Konversation der beiden nicht zu Ohren kommen zu lassen, so bekam ich doch irgendwann mit, wie sie sich über die aktuellen Kinostreifen unterhielten.

„Der soll gut sein“ sagte Christoph und ich sah das giftige Verlangen in seinen Augen.

„Wir könnten ihn uns ja ansehen, oder?“

„Ich hole dich ab“, meine Christoph kompromisslos. Ich konnte nicht mehr, musste mich ablenken und schielte wieder auf den Bildschirm, die Schlussphase des Finales. Immer noch führte der Favorit mit 1:0. Christoph schien der klare Favorit bei Jana zu sein.

Ich fühlte mich wie ein Hund, den Jana bei Bedarf an der Leine führte und der ihr jeden Tag die Zeitung bringt. Wie ein dummer Hund, der immer lieb gestreichelt und gefüttert wird, aber trotzdem nie im Bett des Frauchens schlafen darf und hinter dessen Rücken womöglich nur über ihn gelacht wird.

Meine Hand umklammerte den Stutzen fest, als ob sie ihn zerdrücken wollte, als ich zu einem großen Schluck ansetzte.

„Ich bin am Klo.“

Für kurze Zeit fühlte ich mich, als wäre mir der Alkohol zu schnell in den Kopf gestiegen und ich drückte mich rücksichtslos durch die Fußball schauende Menschenmenge, um zur Toilette vorzudringen. In dem kleinen, braun gefliesten und mit Leuchtstoffröhren ausgestatteten Flur stand ein etwa achtzehnjähriger Junge, der betrunken auf dem Fensterbrett saß. Seine Füße baumelten gegen einen kalten Heizkörper und sein Kopf hing kraftlos zu Boden. Stark verzögert reagierte er auf mein Erscheinen und sah mich ausdruckslos an.

„Äh, ich hab eben gehört, du sollst da rein“, sagte ich und deutete auf die Türe zum Damenklo auf der groß und deutlich eine schwarze Frau abgebildet war.

„Da rein?“

„Ja. Schau doch mal rein.“

Der Junge erhob sich unbeeindruckt und öffnete die Türe zur Damentoilette. Während ich auf der anderen Seite ins Herrenklo eintrat, hörte ich einen weiblichen, lauten Schrei und ein ekelhaftes Geräusch, das vermutlich durch das Erbrechen des Jungen erzeugt wurde. Ich fühlte mich schlecht. Schlecht und Verzweifelt. Beschämt urinierte ich ins Pissoir und versuchte die aufgeklebte Fliege zu treffen. Mein Strahl wich keinen Moment von ihr ab. „Wieso lande ich bei Jana nie einen Treffer“, fragte ich mich stumm. „Aber wenn ich ihr sage, was ich für sie empfinde, dann zerstöre ich unsere Freundschaft und davor habe ich viel zu große Angst.“

Eine feige Ausrede ist das, mehr nicht. Das weiß ich.

Mit leerer Blase aber bedrücktem Herzen kehrte ich zurück zu meinen Freunden. Beide lachten und sahen glücklich aus. Als ich mich wieder zu ihnen stellte, schienen sie mein Erscheinen gar nicht wahrgenommen zu haben und ich versuchte mich auf die letzten Minuten des Fußballspiels zu konzentrieren. Immer wenn ich alleine war, dann wollte ich bei Jana sein. Und wenn ich dann bei ihr war, musste ich mit ansehen, wie ich nur einem Traum hinterherlief.

Wenige Minuten später war auch das Fußballspiel vorbei. Der Favorit gewann 1:0 und ich blätterte die bunte Getränkekarte durch.

„Wieso bist du denn heute so ruhig?“, fragte mich Jana und ich tat so, als ob ich es nicht gehört hätte. Meine Augen brannten leicht, ich hätte schon wieder heulen können. Und erst als sie mir die Frage zum zweiten Mal stellte, reagierte ich darauf und kniff meine Augen zusammen, um bloß jeden Ansatz einer Träne zu verbergen.

„Ich... Wollte mir einfach nur das Fußballspiel ansehen.“

Jana unterhielt sich weiter mit Christoph.

Es tat so weh und ich fragte mich, was ich so alleine tun sollte. Akribisch musterte ich ihr Armband, als sie ihre Hand auf den Tisch legte. An dem silbernen Kettchen hing ein kleiner, ebenfalls silberner Teddybär, ein runder, gepunkteter Ring und diverse geometrische Figuren. Da fiel mir an ihrem Hals der violette, leuchtende Edelstein auf, den sie vor mehreren Jahren von ihrem Ex-Freund geschenkt bekam. Wieso trug sie ihn noch?

Mitten in meiner geistigen Fokussierung auf Janas Accessoires tippte mir jemand von hinten auf die rechte Schulter. Es war eine sanfte Berührung, von daher eher eine Frau und als ich mich umdrehte fühlte ich mich bestätigt. Aber welche Überraschung.

„Franzi!“

„Hey!“ Ihr außergewöhnlich hellblondes Naturhaar war zu einem Zopf gefasst, der bis zu der Stelle ihres Rückens, an der ihre Nieren sein mussten, reichte. Ihre kristallklaren, blauen Augen versteckten sich hinter einer dicken, roten Brille.

„Und?“, sagte sie fragend und grinste dabei fröhlich. Ihr Kopf wippte erwartungsvoll hin und her.

„Alles klar bei dir?“

„Alles klar. Und selbst? Wie geht’s so?“, fragte ich zurück.

„Vor drei Wochen hatte ich meine Abschlussprüfungen!“

„Ja klasse! Wie ist es denn gelaufen?“ Franziska absolvierte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Schon im Alter von fünf Jahren wurde sie zur Halbwaise, weil ihre Mutter an einer Lungenentzündung starb. So lernte sie schon als Kind die Hausarbeit von der Pike auf und schlüpfte früh in die Rolle einer tadellosen Hausfrau. Es hätte mich deshalb auch sehr verwundert, wenn sie nicht Folgendes gesagt hätte:

„Super! Mir ging´s einfach nur super!“

„Das freut mich. Wirklich! Hast du dir hier das Spiel angesehen?“

„Ja, richtig. Wer ist denn das?“ Sie deutete auf Christoph und zwang mich dazu ihn vorzustellen. Aber eigentlich kam es mir ganz gelegen. Es unterbrach den Gesprächsfluss meiner beiden Freunde und vielleicht begann Franziska sogar einen Dialog mit ihm.

„Das ist Christoph“, sagte ich. „Jana kennst du ja.“

„Ja, Hallo.“

„Hallo“, sagte auch Jana.

„Christoph, das ist Franziska. Ich kenne sie von....Woher kennen wir uns eigentlich?“

„Das weißt du nicht mehr?“

„Ich habe das Gefühl wir kennen uns schon immer.“

„Wir waren gemeinsam im Kindergarten! Ich kam mit vier Jahren hinein und du warst schon sechs.“ Für einen kurzen Moment schien sie sich an ihre verstorbene Mutter erinnert zu haben, die ja noch gelebt hatte, als sie in den Kindergarten kam. Nachdenklich starrte sie an die Wand.

„Ja, natürlich. Also schon immer.“ Mein linker Mundwinkel zuckte mehrmals schnell nach oben und entlockte Franziska dann doch noch ein Lächeln. Christoph reichte ihr förmlich die Hand und stellte sich knapp vor.

Nun war Jana wieder frei. Ich bewegte meine Lippen und setzte gerade zu einem Wort an, da wandte sich Christoph schon wieder ihr zu. Ich war zu langsam, viel zu langsam. Er setzte das Gespräch mit Jana da fort, wo es zuvor pausiert hatte. Wie eine Statue stand ich im Raum. Ruhig und starr, aber in mir drehte sich alles. Es wand sich ineinander, verkrampfte kurz und begann zu brodeln. Schwindel breitete sich in mir aus, ich sah verschwommen.

„Also... Was machst du so?“, fragte Franziska und nach ein paar Sekunden der Suche nach meinem Gleichgewicht schwenkte sich meine Hüfte. Sie sah mich scheinbar lieblich an, aber ich konnte nichts mit ihr anfangen.

„Warte“, sagte ich, fasste mir an die Stirn und setzte mich auf meinen Stuhl. Meine Linke tastete hastig nach dem Tisch, um sich daran festzuhalten. Die Geräusche bündelten sich zu einem hochfrequenten Ton, der die heißen, violett verschwommenen Bilder vor meinem Auge begleitete. Die Konfusion in meinem Kopf belastete mich so sehr, dass das Auflösungsvermögen meines Auges kurzzeitig auf ein Minimum herabgesetzt wurde.

Aber es verging.

„Mir war gerade nicht gut.“

Ich hoffte dass Jana es bemerken würde und eine Heimfahrt vorschlüge, doch ich hörte sie mit Christoph ohne Unterbrechung tuscheln, als ob sie beide ganz alleine in einer eigenen Dimension wären und ich absolut keinen Einfluss mehr auf sie hätte.

„Geht´s wieder?“, fragte Franzi und beugte sich über mich. Ihre linke Hand lag auf meiner Schulter und ihr Kopf war ganz dicht bei Meinem. Als ihr Gesicht dem Meinen so nah war, erkannte ich unbeeindruckt die porentiefe Reinheit ihrer Haut. Franziska war zweifellos ein hübsches Mädchen. Und nett war sie auch.

„Ja, ja. Danke. Es ist schon wieder in Ordnung.“

Jana kümmerte sich nicht, nahm es nicht wahr. Sie interessierte sich für nichts anderes mehr. Nur noch für Christoph. Es war furchtbar.

„Bist du alleine hier?“

„Nein“, sagte Franzi, die jetzt wieder aufrecht neben mir stand. Ihre rechte Hand hielt ihren linken Arm auf Höhe des Ellbogens fest. Sie wirkte schüchtern, wie sie so bei mir stand.

„Eine Arbeitskollegin ist noch hier. Sie sitzt da drüben bei ihrem Freund.“ Franziska deutete quer durch die Leute auf ein Pärchen, das an der Bar saß. Ein dicklicher, schwarzhaariger Mann mit Vollbart hatte seinen Arm um die ebenso schwarzhaarige Freundin mit dem Rundrücken gelegt. Sie trugen beide nur schwarze Klamotten. Vielleicht war das der Grund weshalb Franziska ihren Mund schief verzog, als ich von den beiden wieder zu ihr aufsah. Als ob sie mir sagen wollte: „Tja, du siehst es selbst. Die beiden sind wie zwei miteinander verschmolzene Kohlenstoffatome. Da passe ich als einzelner, heller Wasserstoff nicht dazu.“ Ich nickte und sah zu Jana. Sie lächelte. Aber nicht zu mir.

„Also Franzi, was wirst du nach deiner Ausbildung tun?“

„Ich weiß es noch nicht genau. Wahrscheinlich erst einmal weiter arbeiten.“

„Mach doch auf der Schule weiter! In dir steckt noch viel mehr.“

„Danke“, sagte sie. „Mal sehen, vielleicht werde ich das tun. Und du? Wie sieht deine berufliche Zukunft aus?“

„Ja, ist ganz OK. Ich reise momentan viel ins Ausland, aber immer nur kurz...“

„Hey“, unterbrach mich Jana sanft. Ich konnte ihren Blick nur schwer einordnen. Es lag etwas Kritisches in ihm.

„Ich bin müde, wollen wir fahren?“ Auch wenn es etwas ungelegen kam, so war ich froh darüber.

„Ja gut. Fahren wir.“ Vielleicht wollte sie auch das Gespräch zwischen Franzi und mir unterbrechen. Vielleicht lag ihr doch mehr an mir. Nein, das war womöglich nur eine Illusion.

Ich war erleichtert, als wir endlich wieder die Bar verließen und Christoph in eine andere Richtung gehen musste. Franzi gesellte sich wieder zu ihrer Arbeitskollegin und deren dicklichen Freund und Jana spazierte neben mir zum Auto. Eine wunderbare Gelegenheit. Auf dem Weg dorthin ließ sie aber meine letzten Hoffnungen für heute platzen. Sie fragte mich nach Details zu Christoph und nicht nur sein Drei-Tage-Bart schien ihr zu imponieren.


„Christoph hat erzählt, dass ein guter Freund von euch beiden morgen einen Auftritt hat“, sagte sie, als wir bereits im Auto saßen.

„Ja, das stimmt. Thomas spielt morgen mit seiner Band im L.U.D.E.R.E.R.“


„Im L.U.D.E.R.E.R.“, sagte Lara erhitzt. „Davon hab ich gelesen! Der ist... Hier! In der Stadt! Er ist hier! Er wohnt hier!“ Sie fuhr sich aufgeregt durch die Haare.

„Hier! In der Stadt!“

„Sehr schön. Ich glaub das hör ich mir auch an.“

„Echt? Toll. Soll ich dich holen?“

„Nein, danke. Du hast mich schon so oft abgeholt. Ich komm schon selber rein.“

„Es wäre echt kein Problem für mich.“

„Nein, danke. Ich werde morgen mal den Bus nehmen.“

„Na ja, gut. In Ordnung. Wie du meinst“, lenkte ich ein.

Jana wirkte etwas angespannt. Ihre rechte Hand berührte ungewöhnlich lange das Kinn.

Es war einige Zeit still im Wagen. Wir hatten die Stadt bereits verlassen und durchquerten einen Wald, dessen Grün so dunkel war, dass es nicht mehr vom erdrückenden Schwarz der Nacht zu unterscheiden war. Da begann Jana die Stille wieder zu unterbrechen.

Sie drehte den Radio auf und bewegte den Lautstärke-Regler, bis man endlich verstehen konnte, was die Nachrichtensprecherin erzählte. Rauschend dröhnte es aus den Boxen. „...wird es warm und sonnig. Ein durchwegs schöner und wolkenloser Tag im ganzen Land.“

Jana drehte den Radio sofort wieder ab. Endlich lächelte sie. Es war ein unbeschwertes und freies Lächeln, das in ihrem hübschen Gesicht schwebte.

„Morgen gibt es schönes Wetter“, sagte sie.

„Es wäre vielleicht schön wenn sie nicht alle 30 Minuten sagen müssten dass es so wird.“

„A ha, bist du schlecht drauf?“

„Nein.“

„Wirklich? Du klingst genervt. Was ist denn los?“

„Nichts. Wirklich nichts.“

„Na ja. Darf ich dich was fragen?“

„Was?“

„Was ist für dich schön?“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, was wäre für dich ein... Ein traumhaft schöner Moment?“

„Ach so.“

„Sag mir was du siehst.“

Ich blickte in ihre Augen. War da etwas?

„Ich muss doch auf die Straße achten.“

„Sag´s mir einfach.“

„Ich sitze auf einem Stuhl. Kein besonders bequemer, aber auch keiner der schmerzt. Der Stuhl steht auf einer Wiese, mitten in der Natur. Ein kleines Tal liegt vor mir. Tausend verschiedene bunte Blumen. Dahinter ein Wald. Im Tal ein Fluss, der sich durch die Auen schlängelt. Ich sitze dort im warmen Schein der Sonne. Ein paar kleine Wolken ziehen am Himmel entlang, aber sie werfen keine Schatten auf mich. Vögel zwitschern hinter mir. Ich verspüre weder Durst, Hunger noch sonst irgendwelche Bedürfnisse. Ich zeichne mit einem Bleistift auf einen Block. Nur ein Block und ein Bleistift, so sollte es sein. Kein Radiergummi.“

„Wieso?“

„Weil das das Leben ist. Es geht immer nur weiter nach vorne. Nicht zurück. Man zeichnet einen Fehler und im Laufe der Zeit entsteht Neues aus dem Fehler. Dann wird es kein Fehler mehr gewesen sein.“ Als ich das sagte, fragte ich mich insgeheim, ob ich selbst auch wirklich so lebte, oder ob ich es einfach nur wusste. Ich weiß es nicht.

„Ich verstehe. Sehr schön. Und sonst noch etwas, das zu deinem schönsten Moment zählt?“

„Ja. Dann tritt ein Mädchen an mich heran. Ein schönes und nettes Mädchen, dass ich liebe und das mich küsst.“ Mein Herz raste.

„Oh, wie lieb. Das klingt echt toll! Kennst du das Mädchen schon?“

Ich war sehr nervös, als mich Jana das fragte und ich hoffte, dass man es mir nicht ansah. Meine Hände wurden feucht, rutschten entlang des Lenkrad und ich trocknete sie mir schnell an meiner Hose ab.

„Ja, ich glaube ich kenne sie schon.“

„Oh, wie toll!“ Jana freute sich riesig. „Wie schön! Ich bin echt so froh, dass du ein Mädchen gefunden hast. Etwa Franziska? Ich glaube sie mag dich auch sehr gerne. Also so wie sie dich heute angesehen hat, könnte da schon...“ Euphorische Worte schossen zwischen ihren Lippen hervor, aber ich musste sie unterbrechen.

„Nein! Was? Nein!“

„Nicht? Ach, komm schon. Findest du sie hübsch?“

„Nein. Also schon, ja. Aber...“ Ich wollte noch sagen, dass sie nicht das Mädchen ist, von dem ich sprach, aber es erschien mir sinnlos. Jana rechnete offensichtlich nicht im geringsten damit, dass sie das Mädchen aus meiner Traumvorstellung war. Es war eben leider nur ein Traum. Und der Traum ist doch die bessere Realität.

„Ist es wegen der Brille?“

„So etwas hängt doch nicht von einer Brille ab! Ich entscheide nicht danach, ob ein Mädchen dunkle, blonde oder rote Haare hat. Auch nicht danach ob ihre Augen grün, blau oder braun sind. Auch nicht nach Körpergewicht oder -größe. Und eben auch nicht danach ob sie eine Brille trägt. Das sind alles Daten und Fakten, die man auf Papier schreiben kann. Dinge, die auf Ausweisen stehen. Aber so etwas kann doch Schönheit nicht beeinflussen, oder?“ Im Nachhinein klingt das naiv und idealistisch. Aber schön.

„Stimmt.“ Sie lächelte mir zu, in ihrer Stimme lag aber nicht nur Begeisterung, sondern auch etwas undefinierbar Nachdenkliches.

Jana umarmte mich nur halbherzig im Auto bevor sie ausstieg und ins blaue Haus ihrer Eltern trat. Die schiefe Straßenlampe beleuchtete die Fassade, die von schwarzen, vertikalen Feuchtigkeitsstreifen durchzogen war, und stand in keinem Verhältnis zur wunderschönen Jana. Schon zu oft war ich vor diesem Haus gestanden und fühlte das selbe wie jetzt. Wenn meist auch in abgeschwächter Form, denn die sich zu entwickeln scheinende Beziehung zwischen Christoph und ihr bereitet mir noch mehr Sorgen. Nur der kleinste Gedanke daran, wie er sie verführt und genüsslich penetriert, schnürt mir die Kehle ab und sämtliche Blutgefäße entschließen sich zu verstopfen. Alles in mir verkrampft und droht dennoch gleich gewaltig zu explodieren.

Aber vielleicht habe ich zu viel in ihre Unterhaltungen mit Christoph interpretiert. Schließlich gibt es nicht viel, dass sie mich in der Zeit hätte fragen können. Sie weiß alles über mich. Fast alles. Aber Christoph ist eine neue Person. Vielleicht wollte sie einfach nur neue Kontakte knüpfen. Der Gedanke linderte den Schmerz umgehend.

Aber nur kurz.

Doch dann ist Christoph trotzdem eine Gefahr. Denn ich kenne niemanden, der die Frauen so sehr nach seinem Willen verführen kann wie er. Ich glaube, bislang konnte ihm noch keine widerstehen.

Hoffentlich ist Jana eine Ausnahme, denn es war nicht zu übersehen, wie willig und fast schon siegessicher Christoph sie angeblickt hat. Ich kenne ihn und ich kenne diesen Blick.

Und dieser Blick macht mir Angst.

Angst, die ich nicht einfach ausblenden möchte, weil sie mich zu sehr bedroht, weil sie meinen Gefühlen zu nahe kommt. Natürlich weiß ich, dass ich jede Form von Angst einfach ausblenden kann. Nicht vergessen, aber ausblenden. Doch das funktioniert nur, wenn ich mir zu 100 Prozent sicher bin, dass ich es möchte. Und gerade in jenem Moment wollte ich es nicht.

Ich labte mich noch im Selbstmitleid und fuhr gewohnt traurig nach Hause, um mich dort sofort schlafen zu legen.

Erst ein Schrei meiner Großmutter riss mich am Morgen aus dem Schlaf, dessen Träume ich sofort vergaß. Sie ermahnte mich, nicht das Holz zu vergessen, das ich noch ins Haus tragen sollte. Ich kam ihrer Aufforderung augenblicklich nach und verbrachte den restlichen Vormittag damit, Jana zu zeichnen.


„Schönes Bild. Und eine ganz schön lange Mail“, murmelte Lara erstaunt vor sich hin und trocknete ihre feuchten Hände an den Ärmeln.

„Und er wohnt höchstens... Dreißig Kilometer weg von hier! Minka! Stell dir das vor! In diesem Moment...“ Sie hielt inne und blies sanft durch ihre Lippen.

„Mir tut er Leid, der Killer.“ Grübelnd blickte sie nach links und nach rechts.

„Mir tut ein Killer Leid?“ Sie nahm einen Schluck Wasser. Minka sprang von ihrem Schoß, weil sie ebenfalls etwas trinken wollte und Lara erhob sich von ihrem Sessel, verfolgte ihre Katze bis in die Küche und füllte dort die kleine, gläserne Schüssel zu einem Drittel mit Wasser, um dann noch einen Spritzer Milch hinzuzugeben.

Wieder zurück in ihrem geräumigen Schlafzimmer kippte sie das Fenster hinter den vorgezogenen, weißen Vorhängen. Es lag ein unangenehmer Mief in der Luft, der augenblicklich verschwinden musste.

Und Lara setzte sich schon wieder an ihren Computer. Es war kurz vor neun Uhr abends. Ihre alte, vergilbte Maus klebte bereits an den Stellen, an denen regelmäßig ihre rechte Hand auflag. Lara besuchte eine Website zum Video-Chatten. Dort konnte sie kinderleicht mit tausenden Fremden aus aller Welt über die Webcam in Kontakt kommen und augenblicklich kommunizieren. Jedem konnte man dort begegnen. Jedem mit Internet-Zugang.

Nach wenigen Sekunden war das Fenster geladen und sie saß zwei osteuropäischen Jungen gegenüber. Gerade als sie „Hi“ schreiben wollte, verschwanden ihre Chat-Partner und ihr wurde ein Neuer zugelost. Die beiden klickten sofort „Weiter“, als sie Lara sahen. Unbeeindruckt guckte sie in die Webcam, die auf ihrem alten Monitor angebracht war. Es war nur das Internet, da war es weitaus nicht so peinlich und verletzend, abserviert zu werden. Man war in der Lage dasselbe mit allen anderen auch zu tun, in dem man sein Gegenüber im Bildschirm einfach wegklickte.

Jeder hatte die gleiche Macht. Das gefiel Lara so besonders daran.

Ein etwa 60-jähriger Grieche lag auf seinem Bett und schielte lüstern auf seinen Bildschirm. Die Kamera fing ihn von halblinks ein und man konnte nur noch erahnen, wie seine linke Hand in die Unterhose glitt, als er mit der Rechten Lara aus seinem Bildschirm kickte.

Nun saß ihr eine Gruppe junger, blonder Mädchen aus Amerika gegenüber. Lauter hübsche Kinder, so hübsch wie Daniela. Sie kicherten, ohne auf den Bildschirm zu achten und diesmal war es Lara, die nach einem neuen Partner suchte.

„Hey“, schrieb der Nächste. Man konnte sein Gesicht nicht sehen. Nur Teile seines nackten, braunen und rasierten Oberkörpers.

„Hi“, antwortete Lara.

„Where U From?“

„Germany.“

„You look sweet.“

Lara lächelte. „Thanks. You too.“ Sie fragte sich wie er wohl wirklich aussah.

„Can I see more from you?“, fragte Lara.

„Oh, so fast? OK. But at first I want to see more from you. Really more.“

Lara zögerte. Sie war noch nicht oft auf dieser Seite, wurde noch nie zu so etwas aufgefordert. Doch es war das Internet, da fällt bekanntlich fast alles leichter. Sie tat es.

Lara streifte sich ihr Sweatshirt vom Leib.

„Wow.“ Daraufhin drehte der Mann die Kamera so, dass Lara sein Gesicht erkennen konnte.

„Good“, schrieb sie und war wirklich beeindruckt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der junge Mann auch nur halbwegs ansehnlich war. Der südländisch anmutende Fremde trug einen Drei-Tage-Bart und kurzes, schwarzes Haar.

„Now it´s your turn again.“

Lara lachte kurz schüchtern, erhob sich vom Sessel und knöpfte langsam ihre Hose auf. Sie hörte den Mann jubeln und ließ sich prompt dazu animieren, ihre Hose auch ganz abzulegen.

Abgesehen von den Socken stand sie nun nur noch in Unterwäsche vor der Kamera. Ihr Herz pochte nervös und sie faltete schüchtern ihre Arme vor ihrem Oberkörper zusammen. Als der Mann in ihrem Bildschirm langsam seine Jeans entfernte, bekam Lara eine Gänsehaut. Gleich würde es passieren. Oft hat sie davon geträumt und jetzt war es auf einmal real! Ein hübscher Mann und sie, nackt! Sie fühlte sich erregt und öffnete ohne jegliche Aufforderung ihren BH.

Es war so ungewohnt, so gut! Eine Tat wie keine andere je Erlebte. So falsch, so bewusst falsch. Doch ihr Herz war stark wie nie.

„Hey girl“, schrieb der Mann und Lara erkannte eine unübersehbare Schwellung in seiner blau-weiß-gestreiften Unterhose. „I have an idea!“

„What“, tippte Lara schnell ein.

„You could put off the little rest of your clothes and reposition your web-cam.“

„And why?“

„I would do the same and we could play a little funny game.“ Sein Gesichtsausdruck blieb ernst.

„OK, wait a moment. And you have to put off your clothes first.“

Lara spurtete schnell zum Fenster und schloss es wieder. Die Luft war mittlerweile besser. Außerdem wollte sie nicht, dass andere Personen sie hören konnten, falls sie irgendwelche Geräusche von sich geben würde.

Sie war nervös, sie war so unglaublich nervös. Hoffentlich fiel es ihm nicht auf. Es schien ihre erste sexuelle Erfahrung mit einer anderen Person zu werden. Etwas, das doch nur die Hübschen hatten, oder? Als sie wieder zurückkehrte lag der südländische Mann bereits nackt auf seinem Bett. Nackt! Da war er. Oh, da war er. Es würde geschehen. Es würde gleich geschehen!

Der Fremde hielt die Kamera so, dass sein erregter Penis einen beachtlichen Teil des Bildes ausfüllte und nach unten, in Richtung Laras Webcam-Bild deutete. Es sah etwas widerlicher aus, als sie es sich vorgestellt hatte, aber Neugierde und ungestillte sexuelle Erregung ließen sie nicht mehr los. Der Mann tippte gerade etwas und Lara bekam eine Gänsehaut am Rücken.

„Now you could strip to the buff and hold your cam the way I do. It will look like we would have sex. On the screen. Understand?“

Lara nickte zweimal schüchtern und zitterte, als sie sich ihres Höschens entledigte. Ihr wurde kalt und heiß zugleich. Das Herz pochte, die Atmung beschleunigte sich. Sie setzte sich wieder auf ihren Sessel und legte zögerlich ihre gespreizten Beine auf den Tisch. Irgendwie wurde ihr ein wenig unwohl, obwohl man sie auf dem Bildschirm bislang nur vom Kopf bis zum Bauchnabel sehen konnte.

Sie fragte sich, ob sie das wirklich wollte.

Ob sie nun ihr `erstes Mal` haben sollte.

Es geht so schnell, so gut, so leicht.

Das Glück scheint da, scheint hart und weich.

„Ja, ich muss es tun.“

Lara sah sich im Bildschirm, darüber erschien nach wie vor das Bild des erregten Penis, der direkt auf ihren Kopf zeigte. Merkwürdigerweise bewegte sich rein gar nichts vor der Kamera ihres Chat-Partners. Lara wurde misstrauisch, bekam Angst, fühlte sich ein bisschen schlecht und gleichzeitig weniger erregt. Aber es war die Gelegenheit. Sie sollte nicht nachdenken und sie einfach nutzen. Ihre Scham konnte sie ja überwinden und das Glück sowie die sexuelle Lust würden viel größer sein. Viel größer.

Da entdeckte sie einen dünnen, weißen Rand um das Bild ihres Chat-Partners. Ein Rand, der zuvor nicht gewesen war.

Lara sprang schockiert vom Stuhl.

Das war nicht wirklich das Glied des Mannes, sondern nur eine billige Fotografie auf einem Blatt Papier! Wohl das Stück eines beliebigen anderen Mannes. Und sie war darauf reingefallen! Empört hob sie ihre Unterhose vom Boden auf, als der Mann vor der anderen Kamera Lara aus dem visuellen und auditiven Dialog verbannte und sie automatisch mit einem anderen Anschluss verbunden wurde. Zwei junge Freunde, nicht älter als fünfzehn Jahre, trauten ihren Augen kam, als sie Laras Hintern beim Bücken und dann sogar ihre Brüste sahen.

Fremde! Fremde sahen ihre Unschuld, die so lange ungesehen war! Die Unschuld, die jetzt noch immer allein im Zimmer, doch besudelt von fremden Blicken in Schamgefühl verwickelt wurde. Erschrocken sprang sie aus dem Bild.

Sie wurde brüskiert!

Schon wieder!

Auch das Internet brachte ihr gegenüber nicht die Sympathie, die es zu versprechen schien. Sie fühlte sich schlecht. Bis unter die Haut. Billig, genötigt, schlecht. Sie fühlte sich häufig so und es war ihr sehr wohl bewusst, dass sie es mit solchen Taten nicht unbedingt besser machte. Aber sie hatte es dennoch getan.

Sie sprach kein Wort mehr. Weder zu ihrer Katze, noch zu ihr selbst. In der Fötus-Stellung lag sie in ihrem Bett. Gekleidet. Nur noch der Kopf lugte unter der Decke hervor und sie ließ sich von siechendem Selbstmitleid in den Schlaf geleiten.

World Wide Wohnzimmer

Подняться наверх