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Er war auf dem Weg zu einer weiteren Julia. Ohne ihr Wissen war ihr diese besondere Rolle zuteil geworden. Dennoch hatte sie ihr bevorstehendes Schicksal nun einmal selbst erwählt. Sie gehörte einfach zu den vielen Frauen, die sich nicht gerade klug verhielten. Warum hatten sie sich auch mit der falschen Julia eingelassen? Wussten sie nicht, dass es nur die eine Julia geben konnte? Die einzig wahre und nicht diese Hexe, mit der sie sich abgaben?

Wenigstens kamen sie dadurch in den Genuss, einmal eine große Rolle spielen zu können. Er war so dankbar, dass er ihnen auf diese Weise ihre Fehler verdeutlichen durfte, nein, musste. Und es kam zudem seinen eigenen Sehnsüchten entgegen, endlich seine größte Rolle im wahren Leben spielen zu dürfen. Er hatte bereits als Kind davon geträumt, besonders, als er später dann seiner echten und einzigen Julia begegnet war.

Sobald er eine der gehorsamen Dienerinnen der falschen Julia erwählt hatte, nahm sie den Platz in dem wunderbaren Stück ein. Sie erhielt die Rolle seiner Julia. Aber nur für die Dauer des Schauspiels. Für den Moment, in dem er ihr ihren einzigen Auftritt schenkte.

Heute hatte er sich jedenfalls sie ausgesucht, um ihr ein großes und unvergessliches Spiel zu ermöglichen. War es nicht gleichzeitig ein großzügiges Geschenk an sie? Auch wenn sie die Wahrheit nicht erkannte? Es würde ihre erste und gleichzeitig letzte Vorstellung werden. Jedenfalls schwante ihr nichts von dem drohenden Unheil. Woher auch? Jede dieser Frauen war vollkommen arglos. Eigentlich waren sie wundervolle Geschöpfe, denen noch eine vielversprechende Zukunft bevorstand. Ja, wenn sie nur nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen und sich somit dem Tode geweiht hätten. Erst recht, wenn sie bei IHR mehr als nur Freundschaft suchten und auch ... fanden.

Unbändige Wut und lodernder Hass stiegen in ihm auf, als ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß wurden. Mit aller Macht unterdrückte er seine Gefühle. Er musste sich beherrschen, sich unter Kontrolle halten. Keinesfalls durfte er sich von diesen Emotionen leiten lassen, sonst würde er am Ende alles vermasseln. Das war nicht sein Plan.

Um Romeos Mundwinkel legte sich ein grimmiges Lächeln. Es war schon wie bei Troilus und Cressida. Was für eine schicksalhafte Liebe hatte dieses Paar ereilt! Letztendlich hatte die Trojanerin das Herz des Bruders des berühmten Paris gebrochen. Es waren immer wieder die Frauen, die große Männer und mutige Helden mit ihren Versprechungen zerstörten oder gar in den Tod trieben.

Es wurde Zeit, dass sich dies änderte. Er würde kein Gift trinken, solange die falsche Julia noch am Leben war. Er würde sich nicht einfach dem Tod hingeben wie Tristan, als er über die Rückkehr seiner großen Liebe belogen wurde, oder seiner Macht berauben lassen wie einst Samson, der Delila das Geheimnis seiner Stärke offenbarte und von ihr in eine Falle gelockt wurde, wodurch er in die Gefangenschaft der Philister geriet.

Nein, dies wird nicht geschehen!

Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er wollte der wahren Julia zu ihrem gerechten Ruhm verhelfen. Aus diesem Grund musste er weiterhin seine Rolle als Romeo spielen, was ihm nicht schwerfiel. Schon sein ganzes Leben musste er seinen Mitmenschen etwas vorspielen, musste eine Rolle ausfüllen, die er, seit er sich seines wahren Wesens bewusst geworden war, nicht mehr besetzen wollte. Widerstrebend hatte er sich dem Willen seiner Eltern gebeugt, bis er erkannt hatte, dass es ihn zerstörte, seine Seele in Fetzen riss. Zu seinem Glück fand er in der Schule eine Möglichkeit seinen Geist vor dem endgültigen Fall in den Wahnsinn zu bewahren. Alles hätte gut werden können, wenn nicht der Tag der Aufführung zu seiner bittersten Stunde geworden wäre.

Ich bin Romeo!

Für immer!

Ihm hatte die Rolle zugestanden. Doch er hatte sie nicht spielen dürfen. Sie hatten ihn nicht berücksichtigt, weil sie ihn nicht für geeignet hielten, weil ausgerechnet dieses verlogene Miststück in dem Stück auftreten musste, nachdem seine Julia für immer gegangen war. Selbst davor war sie nicht zurückgeschreckt.

Brodelnder Hass kochte erneut in seinen Adern. Doch jetzt war er Romeo und diesmal würde er das Ende des Schauspiels nach seinen Regeln bestimmen. So, wie er es bereits getan hatte. So, wie er es wieder tun würde.

Lächelnd glitten seine Finger über den weichen Stoff, den er in seiner Umhängetasche verbarg. Die Berührung beruhigte ihn, brachte ihn dazu, tief durchzuatmen und sich auf sein Ziel zu besinnen.

Es war genau der Schal, der ihm bereits einen guten Dienst geleistet hatte. Wieder würde er ihn einsetzen, um die nächste Julia in die Ewigkeit zu befördern, wo sie der wahren Julia zu Diensten sein durfte. Und um dieses falsche Biest leiden zu lassen. Noch ahnte sie nicht, in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Bald würde sie erneut den Schmerz spüren, wieder daran erinnert werden, dass es nicht vorbei war, dass jeder sterben musste, dem sie ihre Liebe schenkte. Sie war schuld daran, dass die wahre Julia niemals ihren Auftritt erlebt hatte.

Julia! Warum musstest du sterben? Meine große und einzige Liebe! Ich kann dir noch nicht folgen.

Eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn, wenn diese verirrten Seelen unter seinen Händen ihr Leben aushauchten, der Funken in ihren Augen erlosch. Es entschädigte ihn für die vielen Schmerzen und gewährte ihm einen tiefen, alles erfüllenden Augenblick der Ruhe. In diesem kurzen Moment fand er seinen Frieden, der jedoch nur so lange währte, bis erneut die Erinnerungen an den Tag seiner größten Enttäuschung zu mächtig wurden und ihn zwangen, seinem inneren Drang nachzugeben.

Er schüttelte den Gedanken ab. Noch war es nicht soweit. Jetzt musste er sich dieser Julia widmen. Aufmerksam beobachtete er die Straße. Weit und breit war kein Fußgänger zu sehen. Bei den meisten Fenstern der angrenzenden Häuser waren die Vorhänge bereits zugezogen. Er löste die Finger von dem weichen Stoff und berührte einen festen Gegenstand, den er aus der Tasche holte. Es handelte sich um ein Buch. Ein Standardwerk über Betriebswirtschaft. In seinen Augen war dies ein furchtbar trockenes und langweiliges Thema. Außerdem studierten viel zu viele Menschen dieses Fach. Man konnte es nicht mit dem Bereich vergleichen, mit dem er sich jahrelang beschäftigt hatte.

Er presste die Tasche fest an sich, in der sich neben dem Schal noch ein weiteres Kleidungsstück und eine kleine, weiße Schachtel befanden. Dinge, die er in der kommenden Stunde noch benötigen würde.

Entschlossen löste er sich aus dem Schatten der gegenüberliegenden Straßenseite, überwand mit schnellen Schritten die wenigen Meter bis zum Eingang und betrat das Studentenwohnheim.

Es stellte für ihn kein Problem dar, das richtige Appartement zu finden. Er betätigte die Klingel und ihr kurzer Ton hallte durch den Gang, der aber weitestgehend von den Geräuschen aus einigen Nachbarwohnungen verschluckt wurde. Er nahm auch nicht an, dass sein Läuten besondere Aufmerksamkeit erregen würde. Schließlich gingen in dem Haus regelmäßig Personen ein und aus; es war nicht ungewöhnlich, wenn jemand Besuch erhielt.

Wenige Augenblicke später öffnete Julia die Tür. Mit einer Mischung von Neugier und Verwunderung schaute sie ihn an.

Romeo blickte sie mit einem freundlichen Ausdruck an. „Verzeih mir bitte die Störung“, erklärte er hastig, ehe sie eine Frage stellen konnte. Dabei hielt er das Buch vor sich. „Ich wollte deinem Nachbarn dieses Buch zurückgeben. Leider ist er wohl nicht daheim und ...“

Sie runzelte die Stirn, während sie auf den Wälzer starrte. „Du meinst bestimmt Frank?“

Romeo nickte stumm.

„Da hast du wirklich Pech, der ist vor einer Stunde zu seinem Training gegangen. In irgendeine Fitnessbude.“

Romeo kniff die Lippen zusammen. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere.

„Das ist wirklich blöd. Dabei wollte er das Buch unbedingt ... zurück haben. Vielleicht ... äh ... könnte ich dieses unhandliche Teil bei dir lassen? Dann muss ich es nicht dauernd mit mir herumtragen. Das Dumme an der Sache ist auch, dass ich die nächsten Wochen nicht mehr in Kassel bin und er dann länger darauf warten müsste. Ich fürchte, dass er es für seine Hausarbeit benötigt. Also wäre es furchtbar nett, wenn du ...“

Er ließ den Satz unvollendet, um den schüchternen Eindruck, den er ihr vermitteln wollte, zu verstärken. Offenbar schien ihm das zu gelingen, denn sie lächelte ihn offen an.

„Hey, das ist kein Problem. Ich kann es ihm geben, wenn er vom Sport zurückkommt.“

„Toll!“, rief Romeo aus. „Echt klasse von dir. Mann, wenn ich gewusst hätte, was für einen Aufwand diese Sache darstellt, hätte ich es mir erst gar nicht ausgeliehen.“

„War es in der Bibliothek nicht zu bekommen?“

„Du weißt doch, wie das ist. Wenn man ein Buch dringend braucht, bekommt man es oft erst ein paar Tage später, weil sämtliche Exemplare ausgeliehen sind.“

Julia nickte verständnisvoll. „Das kenne ich. Mir geht es meistens genauso. Sag mal, haben wir uns nicht schon irgendwo getroffen? Irgendwie kommst du mir bekannt vor.“

Romeo lächelte, während er so tat, als müsste er angestrengt nachdenken. „Das kann gut sein. Ich bin öfters mit meinem Laptop in der Cafeteria und schreibe an meinen Ausarbeitungen. Vielleicht hast du mich dort gesehen?“

Sie legte den Kopf auf die Seite. „Kann sein. Ich bin mir aber nicht sicher. Aber warum kommst du nicht kurz rein? Ich habe mir gerade einen Tee gemacht. Möchtest du auch einen?“

„Das klingt gut“, erwiderte Romeo. „Ich habe einen echt stressigen Tag hinter mir. Manchmal weiß ich abends gar nicht mehr, warum ich mir mein Studium aufgehalst habe.“

Julia lachte. „Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Lass uns den Tee genießen und vielleicht fällt mir dann auch wieder ein, woher wir uns kennen.“

Romeo schritt über die Türschwelle, als Julia zur Seite wich, um ihm Platz zu machen. Er hatte sein Ziel erreicht. Im Grunde war es auch fast zu einfach gewesen, sie von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Er war eben doch ein brillanter Schauspieler, auch wenn dies bestimmte Menschen immer noch nicht erkannt hatten.

„Ich bin überzeugt, du wirst es schon bald wissen.“

Seine Hand glitt in die Tasche, während er durch den kleinen Flur in den großen Raum mit der eingebauten Wohnküche ging.

Rosenblut

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