Читать книгу Rosenblut - Andreas Groß - Страница 8
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Markus Jäger starrte Raphael verblüfft an. „Ich soll was ...?“ Er lehnte sich in dem Besucherstuhl zurück, der vor Wolfs Schreibtisch stand. „Du treibst einen Scherz mit mir?“
Raphael schüttelte den Kopf. „Du übernimmst vorübergehend die Leitung des Kommissariats, solange ich mich mit einer Sonderaufgabe befasse. Und ich weiß, dass du dich gut in dieser Aufgabe zurechtfinden wirst. Außerdem hast du noch Cornelia und Jens als tatkräftige Unterstützung.“
Markus hob abwehrend die Arme. „Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, wäre ich nicht so schnell in dein Büro, sondern zum Arzt gerannt, um mich für die kommenden Wochen krankschreiben zu lassen.“
Raphael unterdrückte ein Lächeln. Er wusste, dass Markus so etwas niemals tun würde. Auch wenn Jäger mit dem Gedanken spielte, sich so bald wie möglich pensionieren zu lassen, war sein Pflichtbewusstsein zu ausgeprägt, als dass er sich tatsächlich vor dieser Bürde drücken würde. Während seiner bisherigen Dienstzeit hatte Markus Jäger nur zweimal wegen Krankheit gefehlt. Mittlerweile hatte er jedoch seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert und äußerte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die letzten Dienstjahre ruhiger angehen zu wollen.
„Keine Angst, so schlimm wird es schon nicht werden“, beruhigte ihn Raphael. „Mehr als zwei Wochen dürfte ich nicht weg sein.“
Markus schnaubte. „Das glaubst du doch selbst nicht. Wie ich dich kenne, untertreibst du wieder maßlos. Und an deinem hämischen Grinsen erkenne ich doch die Schadenfreude, mich auf meine letzten Tage im Polizeidienst als Vorgesetzter leiden zu lassen.“
Wolf verzog keine Miene. „Du wolltest doch immer schon wissen, wie angenehm es ist, die Führung inne zu haben. Immerhin warst du mal als Leiter vorgesehen.“
„Du irrst dich gewaltig“, erwiderte Jäger. „Dies war nie mein Wille. Dazu liebe ich zu sehr den Müßiggang des Lebens. Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben möchte. Eventuell im Garten sitzen oder mit dem Wohnmobil gemütlich durch Europa kutschieren. Das ist mein Traum.“
„Du würdest dich bereits nach einem halben Jahr langweilen“, bemerkte Raphael. „Also, reiß dich jetzt zusammen und sieh zu, dass du den Laden sauber hältst. Und mit viel Glück werden schon keine schweren Fälle über das Kommissariat hereinbrechen. Dieses Jahr war es bisher verhältnismäßig ruhig.“
„Mal den Teufel nicht an die Wand.“ Markus Jäger richtete den Arm zum Fenster. „Selbst in Kassel kann sich die Situation jederzeit ändern. Da braucht doch nur ein Verrückter, der sich für weiß was hält, an eine Waffe geraten. Innerhalb weniger Augenblicke haben wir dann das schlimmste Blutbad.“
Wolf stieß ein Seufzen aus. „Klar, Markus. Kassel liegt auch in den Vereinigten Staaten, wo das Schwerverbrechen an der Tagesordnung ist. Mensch“, entfuhr es ihm. „Ich würde dich gerne von dieser Aufgabe entbinden, aber der Chef traut Veit die Leitung noch nicht zu und Conny sollte schon seit mehreren Monaten zur nächsten Fortbildung. Sie hat im Moment einfach zu viel zu tun.“
„Ist ja schon gut“, sagte Markus abwehrend. „Ich mache es. Aber kannst du mir wenigstens verraten, für welche Sonderaufgabe man dich abkommandiert hat? Hängt es mit dem gestrigen Empfang beim Oberbürgermeister zusammen?“
„Tut mir leid, aber ich darf darüber nichts verlautbaren lassen.“
Markus verdrehte die Augen. „Noch nicht mal eine Andeutung. Wir sind doch Freunde, da wird dies doch noch drin sein.“
Raphael presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Im weitläufigen Sinn handelt es sich um eine Art Babysitting. Und mehr werde ich dazu nicht sagen.“
Jäger runzelte die Stirn. „Und für so was braucht man den Leiter vom K11? Wir werden doch meistens erst dann gerufen, wenn das Opfer nicht mehr am Leben ist.“
„Du weißt doch. Vorbeugen ist alles“, bemerkte Raphael süffisant. „Zumindest, wenn man die Chance dazu erhält. Und jetzt sage ich wirklich nichts mehr dazu. Wenn es etwas Dringendes gibt oder du einen Rat benötigst, erreichst du mich über mein Handy. In allen anderen Angelegenheiten wende dich ruhig an unseren Kriminalrat.“
Markus sprang von seinem Stuhl auf. „Jetzt habe ich das Ganze erst durchschaut. Das ist alles nur ein perfider Plan, um dir einen schönen Zusatzurlaub zu verschaffen.“
Wolf kniff für einen Augenblick die Augen zusammen, aber als ein breites Grinsen auf Jägers Gesicht erschien, wurde ihm klar, dass sein Kollege die Bemerkung scherzhaft gemeint hatte. Verdammt, er befand sich schon zu sehr mit seinen Gedanken bei dieser Überwachung.
„Du hast es erfasst, mein Freund. Ich wusste schon immer, dass du ein hervorragender Ermittler bist“, erwiderte Wolf lächelnd und erhob sich von seinem Bürostuhl. Er schnappte sich seine Dienstwaffe und schob sie in das Schulterholster. Danach schlüpfte er in sein Sakko.
„Ich wünsche dir viel Glück“, warf er Jäger zu, ehe er das Büro verließ.
„Das kann ich gut gebrauchen“, vernahm er gerade noch das unwillige Knurren von Markus, ehe er die Tür hinter sich schloss.
Als er in seinem Auto saß, kramte er die Adresse heraus, an der sich sein Zielobjekt aufhielt. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Es war ausgerechnet eine restaurierte Burgruine, in der sich seit Ende der fünfziger Jahre ein Hotel befand. Die Sababurg war ein ehemaliges Jagdschloss. Lange Jahre war die Schlossanlage in Vergessenheit geraten und dem Zerfall preisgegeben worden. Dadurch wurde das Gemäuer von Efeu, Rosenbüschen und anderen Gewächsen umrankt, ehe man es aus seinem Schlaf erweckte. Ferner lag die Burg tief im Herzen des mächtigen Reinhardswalds. Sein romantisch- verwunschen wirkendes Aussehen sprach sich herum und aufgrund einer langen Dornenhecke, die das Schloss im Mittelalter einst umgeben hatte, wurde es allgemein als ‚Dornröschenschloss‘ bezeichnet. Hier sollte einst die berühmte Prinzessin, deren Geschichte durch die Märchensammlung der Gebrüder Grimm bekannt geworden war, gelebt haben.
Wie passend, dachte Wolf. Sie hält sich bestimmt auch für eine Prinzessin.
Er rief sich das Bild von Anja Richters ins Gedächtnis. Ein hübsches Mädchen, nein, das war ein Irrtum, sie war bereits eine junge Frau, der man ihr wahres Alter von Fünfundzwanzig nicht ansah. Auf dem Foto trug sie ihr schwarzes, schulterlanges Haar offen. In ihren Augen hatte er ihre Entschlossenheit erkannt, die im Widerspruch zu ihren sanften Gesichtszügen stand. Sie wirkte keineswegs, als könnte ihr so schnell etwas Angst einjagen. Denselben Ausdruck hatte er auch in den Augen ihres Vaters wahrgenommen. Es war eine Mischung aus Stolz und Willensstärke. Sie musste über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen.
Wer war hinter ihr her? Wer bedrohte dieses Mädchen? Aber über allen stand eine Frage: Warum?
Raphael erreichte die kleine Ortschaft, die unterhalb des Burgberges lag. Er hatte sich ein Zimmer in der Pension „Alte Mühle“ reserviert. Die Wirtin hatte ihm erst abgesagt, sich aber kurz darauf gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er ein Zimmer für mehrere Tage haben könnte. Er hätte wirklich Glück gehabt, da die Pension derzeit gut belegt sei.
Raphael bog in eine schmale Straße ab, die zu einer Ansiedlung mit mehreren größeren und kleineren Gebäuden führte und vor dem Waldrand endete. Die Wassermühle, die an dem hinter den Häusern vorbeiführenden Bach lag, war schon lange nicht mehr in Betrieb. Umrahmt von Bäumen, Auen, Wiesen und Teichen bot diese Siedlung einen friedlichen Anblick. Es schien genau der richtige Ort zu sein, um einmal so richtig auszuspannen und sich vom Alltagsstress zu erholen.
Doch daran war Raphael nicht gelegen. Er stellte seinen Wagen auf dem Platz vor dem größten der Gebäude ab und stieg aus. Der würzige Duft des nahe gelegenen Waldes schlug ihm entgegen. Als er sich umschaute, konnte er in der Ferne die Silhouette des Jagdschlosses ausmachen. Die Pension bot sich als günstig gelegener Ausgangspunkt für seine Nachforschungen und vor allem zum Observieren der Zielperson an. Er hatte diese Unterkunft nicht umsonst ausgewählt, denn Anja Richter übernachtete ebenfalls in der „Alten Mühle“, auch wenn sie sich häufig auf dem Schloss aufhielt. Immerhin waren die Zimmer deutlich günstiger als im Hotel, das in der Sababurg untergebracht war.
„Sie müssen Herr Wolf sein“, begrüßte ihn eine kräftig gebaute Frau mit einem freundlichen Lächeln. Das dunkle Haar fiel ihr bis auf die Schultern, wobei sie einige Strähnen mit einer Klammer befestigt hatte. Die herben, aber offenen Gesichtszüge strahlten ihn mit einer entwaffnenden Herzlichkeit an, die in deutlichem Gegensatz zu den meisten Einwohnern dieser Region standen, die eher von Zurückhaltung und Verschlossenheit geprägt waren.
„Ich bin Maria Suchier und freue mich sehr, dass Sie unsere wunderschöne Gegend besuchen. Wollen Sie hier Urlaub machen?“
„Suchier?“ Wolf zog fragend eine Augenbraue hoch. „Das klingt sehr französisch.“
Das Lächeln der Pensionswirtin vertiefte sich. „Meine Vorfahren waren Hugenotten und sind aufgrund der Verfolgung durch König Ludwig, dem Vierzehnten, in die Landgrafenschaft Hessen-Kassel geflohen.“
„Un roi, une loi, une foi“, erwiderte Raphael und löste damit bei Maria Suchier einen Ausruf des Erstaunens aus.
„Sie kennen sich in der Geschichte der Hugenotten aus?“
„Ein wenig“, gab Wolf zu. „Der Ausspruch des Sonnenkönigs, ein König, ein Gesetz, ein Glaube, ist mir durchaus geläufig. Durch sein Edikt erhob er den Katholizismus zur Staatsreligion und unterband de facto die Religionsfreiheit, die erst sein Großvater eingeführt hatte, um die Hugenottenkriege zu beenden.“
„Sie wissen weit mehr, als die meisten Menschen, die ich getroffen habe“, erklärte Frau Suchier. „Wenn Sie noch mehr über diese Menschen erfahren wollen, sollten Sie unbedingt das Hugenotten-Museum in Bad Karlshafen aufsuchen.“
Wolf zuckte mit den Achseln. „Leider wird mir nicht die Zeit bleiben, mich mit diesem traurigen Kapitel der französischen Geschichte und seinen Folgen für die Protestanten auseinanderzusetzen. Ich bin aus beruflichen Gründen hier, da ich an einer Reportage für ein Kunstmagazin arbeite.“
Suchier schlug die Hände zusammen. „Das trifft sich wirklich gut. Zurzeit hält sich eine kleine Künstlergruppe hier auf. Einige von den jungen Leuten wohnen sogar in meinem Haus.“
Auf Wolfs Lippen zeigte sich ein dünnes Lächeln. „Genau wegen ihrer Arbeiten bin ich hier. Mein Magazin will eine mehrteilige Reportage über aufstrebende Künstler und ihre Schwierigkeiten, mit ihren Werken in unserer Gesellschaft Anerkennung zu finden.“ Er hielt es für besser, Richters Vorschlag zu ignorieren und die Politik herauszuhalten.
„Das ist wundervoll“, rief die Wirtin begeistert aus. „Diese jungen Menschen brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können. Ich zeige Ihnen aber erst mal Ihr Zimmer, damit Sie sich danach in aller Ruhe an Ihre Arbeit machen können. Sie müssen wissen, die jungen Leute halten sich meistens auf der Sababurg oder in ihrer Umgebung auf. Sie sind ständig auf Motivsuche. Manchmal präsentieren sie mir am Abend ihre Zeichnungen.“
Raphael unterdrückte ein Seufzen und folgte Maria Suchier in das Gasthaus. Er konnte nur hoffen, dass ihre Neugier vorerst gestillt war und nicht so weit ging, absolut alles über seine Anwesenheit erfahren zu wollen. Es würde seine Aufgabe nicht gerade einfacher machen, wenn die Gastwirtin in den kommenden Tagen ständig um ihn herum schwirrte.