Читать книгу Rosenblut - Andreas Groß - Страница 13
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Markus Jäger wirkte keineswegs glücklich. Tief in seinem Innern hatte er gehofft, keinen ungewöhnlichen Todesfall gemeldet zu bekommen, solange Raphael in unbekannter Mission unterwegs war. Dummerweise hielten sich Mörder nicht an seine Wünsche. Und mit Mord hatte er es hier eindeutig zu tun. Die junge Frau war auf keinen Fall durch einen Unfall gestorben. Und nach Totschlag sah die Szenerie, die sich ihm von der Eingangstür aus bot, absolut nicht aus.
Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits abgeschlossen und lediglich ein Mitarbeiter machte noch einige Tatortfotos. Cornelia Becker und Jens Veit schälten sich gerade aus ihren Schutzanzügen und verstauten sie für eine spätere Entsorgung in Plastiksäcken.
Die junge Oberkommissarin warf den Kopf nach hinten und fuhr sich durch die blonden Haare, um einige wild abstehende Strähnen wieder in Form zu streichen. Auf Veits jungenhaftem Gesicht lag ein bedrückter Ausdruck. Ihm ging der Tod des Mädchens besonders nahe. Das war auch kein Wunder, denn schließlich stammte er aus der gleichen Generation. Die Tote durfte höchstens vier Jahre jünger als der Kommissar sein.
Die Mediziner waren erst vor wenigen Minuten aus der Wohnung verschwunden. Sie hatten sich, wie üblich, noch nicht eindeutig auf einen genauen Todeszeitpunkt festlegen lassen, sondern ihn lediglich auf einen ungefähren Zeitraum eingegrenzt. Zumindest bei der Todesursache waren sie sich einig gewesen. Die Hämatome mit dem deutlich erkennbaren Abdruck am Hals deuteten auf die starke Gewalteinwirkung hin, die bei einer Erdrosselung entstand. Genaueres würde sich nach der weitergehenden Obduktion im gerichtsmedizinischen Institut herausstellen.
Jäger überraschten die vagen Aussagen nicht. Dafür kannte er die Mediziner zu lange. Es genügte ihm zu wissen, dass die Tat vor achtzehn Uhr verübt worden war. Und dass die Frau offensichtlich ermordet worden war. Dies reichte ihm, um schon mal in eine bestimmte Richtung zu ermitteln.
Er rieb sich über das Kinn. „Habt ihr einen Ausweis von ihr gefunden?“, hakte er nach. „Handelt es sich bei der Verstorbenen um die Person, die hier wohnen soll?“
Cornelia hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch, in dem eine Scheckkarte steckte. Da mittlerweile Führerschein, Personalausweis und alle Arten von Bankkarten dieselbe Größe besaßen, konnte Jäger nicht sofort erkennen, um was es sich handelte. Erst als Conny den Beutel herumdrehte, erkannte er ein Lichtbild.
Mit einem kurzen Nicken deutete sie auf den Leichnam. „Der Name der Toten lautet Tanja Weber. Sie ist auch diejenige, die hier gemeldet ist.“
„Wie alt?“ Jägers Stimme klang belegt.
„Neunundzwanzig“, erwiderte Conny.
„Ich hätte sie für viel jünger gehalten“, gestand er.
„Vielleicht ist sie mit dem Studium gerade fertig geworden“, vermutete Veit. „Oder sie hat noch ein Zweitstudium aufgenommen.“
„Überprüft das“, sagte Jäger. „Normalerweise dürfen hier nur Studenten wohnen. Ich will wissen, ob sie sich die Wohnung möglicherweise mit falschen Angaben gemietet hat. Wer informiert die Angehörigen?“
Veit blickte betreten zu Boden. Jäger konnte seine Reaktion gut verstehen. Es war nie besonders angenehm, jemandem über das Ableben eines engen Verwandten unterrichten zu müssen.
„Ich mache das“, erklärte Conny. „Jens wird mich dabei begleiten. Immerhin müssen wir den Eltern einige Fragen zu ihrer Tochter stellen.“
„Gut“, stimmte Jäger zu. „Ich werde mich im Haus umhören. Vielleicht können mir einige Bewohner etwas über Tanja Weber erzählen. Wer hat die Tote übrigens gefunden?“
„Ein gewisser Frank Müller, ihr Nachbar und ein Student der Ingenieurswissenschaften. Er stand vorhin ziemlich unter Schock und hat ein Beruhigungsmittel bekommen, jede weitere Hilfe hat er erst mal abgelehnt“, entgegnete Veit.
„Dann werde ich mich gleich mal mit ihm unterhalten“, erklärte Jäger.
Er presste die Lippen zusammen, als er den kleinen Raum bis zu dem Bett durchquerte. Obwohl er ähnliche Anblicke bereits kannte, stieg in ihm eine tiefe Beklemmung und Zorn empor. Er würde Menschen niemals verstehen, die eine derartige Tat verübten. Besonders eine Handlung des Täters verstörte ihn zutiefst.
Tanja Weber lag auf dem Rücken auf dem Bett. Wenn die Sache mit den Augen nicht wäre, könnte man beinahe annehmen, sie würde lediglich schlafen. Doch der grauenvolle Anblick der leeren, blutverkrusteten Augenhöhlen jagte Markus Jäger einen kalten Schauer über den Rücken. Ihr Gesicht wirkte wie die Maske eines Clowns, eines bösartigen Clowns. Wie konnte jemand fähig sein, einem anderen Menschen die Augäpfel aus den Höhlen zu schneiden? Warum beging der Mörder diese grauenvolle Handlung? Nach dem geringen Ausmaß der Blutungen musste das Ritual post mortem erfolgt sein. Zumindest war er nicht so grausam vorgegangen und hatte der Studentin bei vollem Bewusstsein die Augen geraubt. Mühsam riss Jäger sich von dem Anblick los.
Die brünetten Haare der jungen Frau breiteten sich wie ein Fächer um ihren Kopf aus. Ihre Kleidung sah sehr ordentlich, aber auch recht eigenwillig aus. Nichts war zerrissen oder wirkte, als hätte jemand versucht, sich an ihr zu vergehen. Sie trug ein schlichtes Kleid, welches in seinem Schnitt recht altertümlich wirkte. Eigenartigerweise konnte man erkennen, dass sie darunter eine Jeans anhatte. Auch unter dem Dekolleté des Kleides schimmerte ein weißes T-Shirt durch.
Wer trug denn eine Hose und ein Oberteil zu einem Kleid? Und das in der eigenen Wohnung? Ihre Beine waren geschlossen und die Füße steckten in flachen Slippern. Nichts sah ungewöhnlich an ihr aus. Es gab jedoch ein winziges Detail, das Markus Jäger beim Betreten sofort aufgefallen war. Es erschien ihm, neben dem Raub der Augen, irgendwie eigenartig, zumindest außergewöhnlich. Ihre Hände waren aufeinander gelegt und zwischen den Fingern steckte eine rote Rose. Sie besaß keine große Blüte, auch fehlten Dornen. Die Blütenblätter waren weder welk noch geknickt.
Warum stahl er die Augen und steckte ihr gleichzeitig diese Rose zu?
Ein Schatten glitt über Jägers Gesicht, als Cornelia neben ihn trat.
„Was hältst du davon?“, fragte er sie. „Auf mich macht es den Eindruck, als würde es sich um eine Beziehungstat handeln.“
„Du meinst, der Mörder hat hinterher seine Tat bereut?“, erwiderte Cornelia und zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher, ob das zutrifft. Es wirkt auf mich eher wie ein Liebesbeweis. Klingt zwar genauso verrückt, aber eine rote Rose überreicht man doch eher als Ausdruck seiner Zuneigung.“
„Ein Mord aus Liebe?“ Jäger schritt langsam auf die andere Seite des Bettes. „Kann ich mir kaum vorstellen. Nach Reue sieht es mir auch nicht aus. Denn welcher Mörder, der aus Liebe, vielleicht im Affekt, tötet, würde sich dann die Zeit nehmen, die Augen herauszuschneiden?“ Er streifte sich einen Gummihandschuh über die rechte Hand. Fragend blickt er den Polizeifotografen an.
„Sie sind hier fertig?“
Der Mann senkte seine Kamera und nickte. „Ich habe alle Bilder im Kasten.“
Jäger beugte sich über die Tote und zog vorsichtig die Rose aus ihren Händen. Erst jetzt, bei genauerem Betrachten bemerkte er, dass es eine täuschend echte Nachbildung war, auf die er im ersten Moment tatsächlich hereingefallen war. Cornelia hielt ihm einen geöffneten Plastikbeutel hin und er schob die Blume hinein. Danach zog er den Handschuh wieder ab und nahm die Tüte mit dem Beweisstück an sich.
„Soweit ich feststellen konnte, hat Tanja Weber keine künstlichen Blumen in der Wohnung. Daher muss der Täter sie mitgebracht haben.“
Cornelia schaute sich kurz um. „Sieht aus, als hättest du mit deiner Annahme recht. Übrigens befanden sich auf dieser Rose keine Fingerabdrücke. Daher nehme ich auch an, dass er sie hier platziert hat. Tanja oder eine andere Person würden die Blüte bestimmt nicht abwischen.“
„Auf jeden Fall will der Mörder damit etwas andeuten“, erklärte Jäger. „Doch ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was.“
Cornelia stemmte die Hände in die Hüften und starrte die Tote an. „Nicht nur das Verschwinden der Augen deutet daraufhin, dass wir es nicht mit einer klassischen Beziehungstat zu tun haben.“
Jäger neigte den Kopf. „Was meinst du?“
„Schau sie dir doch genau an. Es ist alles ordentlich hier. Nichts wurde umgeworfen, verschoben und von seinem Platz gerückt. Tanja liegt fein aufgebahrt, als hätte man sie zum Schlafen hingelegt. Nichts deutet auf einen Kampf hin. Entweder wurde sie überrascht und alles ging wahnsinnig schnell, sodass sie sich nicht großartig wehren konnte. Oder der Täter hat hinterher auch noch aufgeräumt. Dann muss er schon sehr ordnungsliebend sein. Eine Beziehungstat wird in der Regel aus Wut oder aus Hass meist im Affekt begangen. Niemand würde sich danach noch Zeit nehmen, aufzuräumen oder sein Opfer anschließend auf das Bett zu legen. Oder eigentlich eher zu drapieren, mit den Haare und der Rose. Ganz zu schweigen von den ausgestochenen Augen.“
Jäger nickte bedächtig. „Ich habe die große Befürchtung, du könntest mit dieser These richtig liegen. Aber du weißt auch, was das bedeuten würde?“
Cornelias Kiefer traten deutlich hervor. „Ja“, sagte sie schließlich. „Er wird weiter töten oder hat bereits getötet. Sollte dies der Fall sein, haben wir es mit einem Serientäter zu tun.“
„Wovor uns Gott bewahren möge!“, seufzte Markus. „Ausgerechnet jetzt muss Raphael abwesend sein. Er besitzt ein untrügliches Gespür für derartige Monster.“ Er holte tief Luft. „Okay, behandeln wir den Fall vorerst als ein ganz normales Tötungsdelikt. Du durchleuchtest mit Jens den persönlichen Hintergrund von Tanja Weber. Wer waren ihre Freunde? Hatte sie Feinde? Gab es irgendwo Ärger, in der Uni oder in der Familie? Einfach das ganze Programm. Vielleicht finden wir Anhaltspunkte, die uns weiterhelfen.“ Er legte eine Pause ein, ehe er fortfuhr. „Und versuch herauszufinden, was das für ein Kleid ist, das sie da anhat, und warum sie es trägt. Irgendwie erscheint mir dies doch recht seltsam.“
Conny nickte. „Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich kenne kein junges Mädchen, das in ein derartiges Outfit im Schrank hat. Außer es steckt ein religiöser Grund, ein seltsames Hobby oder eine Erkrankung dahinter. Doch bevor ich mich damit befasse, suche ich als Erstes ihre Eltern auf und sehe, wie sie auf die Nachricht reagieren. Ich glaube zwar nicht, dass sie mit dem Tod ihrer Tochter etwas zu tun haben, aber ich möchte mich lieber vergewissern.“
Sie drehte sich um und ging zu Veit, der am Wohnungseingang auf sie wartete. Zwei Männer mit einem Zinksarg tauchten hinter ihm auf.
„Können wir die Frau mitnehmen?“, fragte der Ältere.
„Wir haben alle Spuren gesichert. Unsere Mediziner haben ihre Untersuchungen abgeschlossen. Bringen Sie die Leiche in die Gerichtsmedizin zu Dr. Keitel. Er soll so schnell wie möglich mit der Obduktion beginnen. So wie ich ihn kenne, wird er in seiner unnachahmlichen Art unsere Leute als unfähige Stümper bezeichnen, die seine Fähigkeiten nie erlangen werden.“
Jäger schenkte der Toten einen letzten Blick, ehe er sich abwandte. Bei dem Polizeibeamten an der Tür blieb er kurz stehen. „Sie können, sobald der Leichnam weggebracht wurde, die Wohnung versiegeln“, wies er ihn an.
Auf dem Gesicht des Beamten lag ein trauriger Ausdruck. Schweigend senkte er kurz den Kopf. Im Grunde gab es auch nichts zu sagen.
Jäger war froh, dass die Presse von der Tat noch nicht Wind bekommen hatte. Normalerweise wäre mindestens schon ein Reporter der lokalen Zeitungen aufgetaucht. Angeblich sollte es am späten Nachmittag auf der A7 zum wiederholten Mal einen schweren Verkehrsunfall mit mindestens drei Toten gegeben haben. Wahrscheinlich war ein Lastkraftwagen in ein Stauende gerast.
Jäger schüttelte kurz den Kopf angesichts des Wahnsinns, der sich mittlerweile auf Deutschlands Straßen abspielte. Die Konzentration und Aufmerksamkeit vieler Verkehrsteilnehmer galt immer häufiger nicht mehr dem Straßenverkehr. Er fragte sich, wie lange die Politiker diesem Treiben noch tatenlos zuschauen wollten. Zum Glück war es nicht seine Aufgabe, sich um diese Probleme kümmern zu müssen. Und es hielt offenbar die Mitarbeiter der Pressehäuser davon ab, hier vorzeitig zu erscheinen. In seinen Augen genügte es auch, wenn der Polizeisprecher ein kurzes Statement abgab.
Mit einem schmallippigen Lächeln drückte er auf die Klingel der Nachbarwohnung. Es dauerte eine gute Minute, bis ihm ein durchtrainiert aussehender Typ die Tür öffnete. Im Flur sah Jäger eine Sporttasche stehen, auf dem das Logo der Kasseler Huskies, einem recht erfolgreichen Eishockeyverein, prangte.
„Frank Müller?“, fragte Markus und zückte seinen Polizeiausweis.
Der junge Mann nickte und zog die Tür ganz auf, um ihn hereinzulassen. Wortlos drehte er sich um und ging zu einem abgewetzten Sessel.
Jäger schloss die Tür und folgte ihm in die spartanisch eingerichtete Wohnung. Neben dem Sessel, einem Schreibtisch, auf dem ein Laptop stand, und dem dazugehörigen Stuhl konnte Jäger noch einen großen Schrank ausmachen, der aus einem schwedischen Möbelhaus stammte. Ein Einzelbett an der anderen Seite des Raumes vervollständigte das Bild. Ein schmaler Durchgang führte zu einer angrenzenden Kochnische. Beim Vorbeigehen warf Jäger einen kurzen Blick hinein. In der Spüle stapelten sich mehrere Teller mit Essensresten und auf dem Herd stand ein Topf, dessen Rand mit einer undefinierbaren Masse verkrustet war. Es schien sich um den vertrockneten Teil einer Soße zu handeln.
Markus zog es angesichts des Staubs und der unzähligen Krümel, die auf dem Boden herumlagen, vor, in der Mitte des Raumes stehen zu bleiben.
Obwohl Frank Müller aufgrund seiner sportlichen Aktivitäten ein furchtloser und kräftiger junger Mann sein musste, zitterten seine Hände und Arme. Jäger vermutete, dass er unter Schock stand. Man stieß nicht jeden Tag auf eine Leiche. Und wer noch nie einen Toten gesehen hatte, konnte den Anblick nur schwer verarbeiten.
Jäger zückte seinen Ausweis. „Mein Name ist Markus Jäger. Ich bin der leitende Beamte bei dieser Ermittlung. Auch wenn Sie bereits mit meiner Kollegin gesprochen haben, würde ich Ihnen gerne noch einige Fragen stellen.“
Müller schaute auf und deutete auf den Schreibtischstuhl. „Bitte nehmen Sie doch Platz. Ich ... ich bin noch vollkommen durcheinander. Ich ... ich bekomme einfach diesen leeren Blick in ihren Augen nicht aus meinem Kopf“, brachte er mühsam hervor. „Sie standen so weit offen ... und schrien noch immer um Hilfe. Wenn ich doch bloß früher vom Training zurückgekommen wäre, dann hätte ich sie bestimmt retten können.“
Jäger biss sich auf die Unterlippe, als er sich auf den Drehstuhl setzte. „Sie dürfen sich nicht die Schuld an ihrem Tod geben“, versuchte er beruhigend auf den aufgelösten Studenten einzuwirken. „Ich glaube nicht, dass eine Rettung möglich gewesen wäre. Der Mörder wird bestimmt auf eine günstige Gelegenheit gewartet haben. Wissen Sie zufällig, ob sich am späten Nachmittag viele Bewohner im Haus aufhielten?“
„Es tut mir leid. Es herrscht hier ein ständiges Kommen und Gehen. Die meisten gehen nach der Vorlesung nach Hause, viele haben am Nachmittag frei, gehen jobben oder wie ich zum Sport. Einige sind dann erst sehr spät daheim. Es gibt Tage, da halten sich mehr Studenten hier auf, und dann gibt es auch Abende, da hat man das Gefühl allein in diesem Gebäude zu sein.“
Jäger nickte verstehend. „Das hatte ich schon befürchtet. Wie war es denn heute? War außer Tanja auf diesem Stockwerk noch jemand in seiner Wohnung?“
Müller runzelte die Stirn. „Heute ist ... Dienstag. Soweit ich weiß, kann höchstens noch Stefan da gewesen sein. Sonja arbeitet ab Mittag im Café und Ali hält sich mit Freunden im Fitnessstudio auf.“
„Können Sie mir die vollständigen Namen geben?“
Jäger zückte sein Notizbuch sowie einen Kugelschreiber und schrieb die Angaben auf, die ihm der Student machte.
„Ich bin mir sicher, dass Sie meiner Kollegin schon das Wesentliche gesagt haben. Trotzdem würde ich gerne noch einmal von Ihnen hören, wie Sie Tanja Weber aufgefunden haben.“
Frank Müller faltete die Hände, legte sie für einige Zeit an die Stirn, um sie anschließend wieder herunterzunehmen. Jäger sah ihm an, wie er sich deutlich zusammenreißen musste, als er die Erlebnisse erneut abrief.
„Ich war wie immer von meinem Training zurückgekehrt“, erzählte Müller. „Eigentlich gehe ich nie sofort zu Tanja, aber sie hatte mich gebeten, gegen halb sieben vorbeizukommen, da ich ihr bei einer Aufgabe helfen sollte.“
„Um welche Aufgabe handelte es sich?“, hakte Jäger nach.
„Es war ein mathematisches Problem, wenn ich mich jetzt nicht irre. Verzeihen Sie, aber ich bin einfach noch zu durcheinander, um mich an jedes Detail erinnern zu können.“
„Kein Problem“, beruhigte Jäger. „Berichten Sie einfach von dem Ablauf der Ereignisse und auch den Dingen, wie Sie Ihnen gerade in den Sinn kommen.“
„Das werde ich machen“, erwiderte Müller erleichtert. „Jedenfalls bin ich um die Uhrzeit zu ihr rüber gegangen. Aber auf mein Klingeln öffnete sie auch nach mehreren Minuten nicht. Das erschien mir seltsam, da sie immer Wert auf Pünktlichkeit legte und selten etwas vergaß. Erst nahm ich an, sie wäre eventuell eingeschlafen und würde das Läuten einfach nicht hören. Also hämmerte ich gegen die Tür und rief mehrmals ihren Namen. Aber wieder tat sich nichts. Dabei fiel mir noch eine Kleinigkeit auf, die mich stutzig machte.“
„Was war das?“ Neugierig beugte sich Markus Jäger vor.
„Sie müssen wissen, Herr Kommissar, Tanja hörte leidenschaftlich gerne Musik. Man wusste im Grunde immer, wenn sie zu Hause war, denn sie drehte ihre Anlage meistens sehr stark auf. Na ja, man konnte es selten überhören. Doch diesmal war alles still. Total ruhig. Und ich war mir sicher, dass sie nichts davon erzählt hatte, fortgehen zu wollen. Außerdem schien ihr meine Hilfe wichtig zu sein. Aus diesem Grund würde sie niemals außer Haus gehen, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen. In diesem Moment befürchtete ich schon, es könnte ihr etwas passiert sein. Da ich vor einiger Zeit von ihr einen Zweitschlüssel erhalten hatte, ging ich in meine Wohnung zurück und holte ihn.“
„Sie muss zu Ihnen ein recht großes Vertrauen besessen haben“, bemerkte Jäger.
„Das stimmt. Ich denke, sie hat mich als einen großen Bruder betrachtet.“ Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. „Als Freund bin ich für sie nie in Frage gekommen. Aber ich schweife ab, schließlich wollen Sie wissen, was dann passiert ist.“
Jäger machte eine beruhigende Geste. „Machen Sie sich kein Sorgen. Ich werde Sie schon unterbrechen, wenn es für mich unwichtig wird.“
Frank Müller knetete seine Finger. „Ich ... ich habe dann die Tür aufgeschlossen und bin hinein. Zuerst habe ich wirklich gedacht, sie wäre doch gegangen, aber dann ... Ich werde diesen Augenblick wohl nie mehr vergessen. Es war grauenvoll, sie auf dem Bett liegen zu sehen. Ich spürte sofort, dass sie ... tot war. Sie besaß einen relativ leichten Schlaf und hatte sich bei mir schon öfters darüber beschwert, bei dem kleinsten Geräusch aufzuwachen. Doch sie rührte sich nicht, als ich ihren Namen rief.“ Er leckte sich über die Lippen. „Und dann ging ich näher heran. Es war ... furchtbar. Ich ... ich sah ihr ... Gesicht ... Ich konnte nicht lange hinschauen und bin sofort in meine Wohnung zurück und habe die Polizei angerufen.“
Tränen schossen dem Studenten in die Augen und rannen ihm über die Wangen. Er wischte sie mit dem Ärmel fort.
Markus holte ein Taschentuch hervor und hielt es dem jungen Mann hin. Müller griff danach und wischte sich über das Gesicht.
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich bin wirklich kein Weichei, aber ich ...“
„Sie halten sich wirklich wacker“, versuchte Markus ihm Mut zu machen. „Ich kenne keinen Menschen, der in einer solchen Situation nicht weinen würde. Sie müssen sich bei mir nicht entschuldigen und auch nicht vor mir schämen. Alles, was hier geschieht, wird von mir vertraulich behandelt. Okay?“
Müller nickte. „Okay.“
„Gut“, sagte Jäger. „Ich werde leider Ihre Angaben überprüfen müssen. Bitte fassen Sie das nicht falsch auf, aber das gehört zur polizeilichen Routine. Wir müssen Sie als Verdächtigen ausschließen können. Schließlich war es für Sie leicht, in die Wohnung zu gelangen.“
Müller kaute auf seiner Unterlippe. „Ich verstehe. Doch ich schwöre Ihnen, bei allem, was mir heilig ist, ich habe sie nicht getötet.“
Jäger erhob sich von dem Stuhl und steckte Notizbuch und Stift wieder ein. „Sie müssen morgen bitte zu unserer Dienststelle im Grünen Weg kommen und Ihre Aussage zu Protokoll geben.“
Müller nickte. „Das mache ich.“
„Wenn Sie Hilfe brauchen ...“, begann Jäger. Müller schüttelte energisch den Kopf. „Dann kann ich Ihnen jetzt höchstens noch raten, sich mal hinzulegen. Selbst wenn Sie nicht müde sind, wird Ihnen die Ruhe guttun. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, was Ihnen wichtig erscheint, geben Sie uns sofort Bescheid.“
Frank Müller erhob sich. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlafen kann. Ich habe Angst, von ihr, von den ... blutigen Augen ... zu träumen. Sie hatte noch so viele Pläne.“
Markus blieb an der Wohnungstür stehen. Der Student konnte sich glücklich schätzen, nicht bemerkt zu haben, dass die Augen verschwunden waren.
„Wie weit war sie denn mit ihrem Studium?“
Müller kratzte sich an der Schläfe. „Für Tanja lief es derzeit endlich gut. Sie war mitten in ihrer Masterarbeit, auf die sie sich voll konzentrierte. Sie sah es auch als ihre letzte Chance an, noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag diesen Titel zu schaffen. In ihren Augen war der akademische Grad eines Bachelors lediglich zweitklassig. Nachdem sie schon ein Studium abbrechen musste, war sie halt sehr ehrgeizig darin, diesmal auf jeden Fall erfolgreich zu sein. Sie plante sogar, anschließend noch den Doktortitel zu machen, was sie als ihr größtes Ziel in den nächsten Jahren ansah.“ Er schluckte. „Ist es nicht grausam, auf eine derartige Weise aus dem Leben gerissen zu werden?“
Markus neigte mitfühlend den Kopf. „Genau das ist es, was mich antreibt, den Mörder zu fassen. Dabei fällt mir noch eine Frage ein. Hatte Tanja einen Freund? Ich meine, keinen Verehrer oder eine gute Bekanntschaft, sondern jemanden, in den sie so richtig verliebt war?“
Frank Müller schüttelte den Kopf. „Da gab es keinen. Zumindest ist mir niemand aufgefallen. Auch hat sie mir gegenüber nichts davon erwähnt. Klar kannte sie einige Männer, aber ein fester Freund fand sich nicht darunter. Sie traf sich meistens mit ein paar Freundinnen, von denen auch einige öfters bei ihr zu Besuch waren. Es schien so eine richtige Weiberclique zu sein.“
Markus unterdrückte ein Grinsen, als er den abfälligen Ton in seinen Worten vernahm. Scheinbar war der junge Mann bei den anderen Frauen nicht so gut angekommen.
„Kennen Sie zufällig einige von ihnen mit Namen? Ich würde mich gerne mal mit ihnen unterhalten.“
Frank Müller zog die Augenbrauen zusammen. „Ich muss kurz nachdenken.“ Er legte einen Finger auf die Unterlippe. „Die Weiber sahen teilweise echt klasse aus. Moment, ich hab`s gleich. Da gab es eine Sabine, eine Anja und eine hieß Esther. Den Nachnamen kenne ich aber nur von einer. Sie hat mir wirklich gut gefallen. Sabine Lange heißt sie. Genau, das ist der vollständige Name. Über die anderen kann ich Ihnen wirklich nicht mehr sagen.“
„Das ist schon in Ordnung“, erklärte Jäger. „Ein Name genügt mir. Die anderen werde ich schon herausfinden.“
Er verabschiedete sich und atmete tief durch, als er in den Flur trat. Der Kerl tat ihm irgendwie leid. Auf den ersten Eindruck würde er ihn auch nicht für Tanjas Mörder halten. Dazu wirkte er viel zu sensibel. Und das als Eishockeyspieler. Aber auch an ihm selbst ging der Tod der Studentin nicht spurlos vorüber. Verdammt, er sollte sich wirklich Gedanken darüber machen, ob er sich nicht besser aus dem Berufsleben zurückziehen sollte. Es gab zu viele schöne Sachen, die er viel lieber machen würde. In diesem Moment wünschte er sich seinen Chef an seiner Seite. Raphael war noch viel stärker von diesem Jagdtrieb erfüllt. Außerdem konnte Wolf sich besser in Mörder hineinversetzen. Er ahnte häufig, wie sie vorgingen und was sie antrieb. Er erkannte auch in scheinbar unwesentlichen Details Hinweise, die anderen im ersten Moment unwichtig erschienen. Markus nahm sich vor, Raphael am nächsten Tag anzurufen. Irgendwie verspürte er in seinem Innern den Drang, Wolf über diesen Fall informieren zu müssen.