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Lebensstilansatz zur Zielgruppensegmentierung

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LebensstilansatzIm Zuge der Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der (touristischen) Bedürfnisse kommt auch der ZielgruppensegmentierungZielgruppensegmentierung zur adäquaten zielgruppenspezifischen Adressierung eine zunehmende Bedeutung zu. So lange touristische Orientierungen Teil eines relativ fest gefügten sozialen Kontext waren, bzw. das durch die Reisen vermittelte Prestige eine große Rolle spielte, konnten die Orientierungen relativ leicht aus der sozialen Stellung der potentiellen Reisenden abgeleitet werden. Der Besuch von bestimmten Destinationen hat sich stark danach ausgerichtet, ob sich jemand „etwas leisten konnte“ bzw. welche Destinationen innerhalb der Peer-Group als „In“ und „Chic“ galten. Mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft und dem Zunehmen von auf die Selbstverwirklichung ausgerichteten Reisemotiven hat die Unterscheidungskraft des bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften verwendeten sog. Schichtenmodells (mit der Haupteinteilung in Grund-, Mittel- und Oberschicht) abgenommen.

Während der fordistischen Moderne galt die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen oder Schichten als prägendes Moment für die Orientierung von Verhaltensweisen. Mit der zunehmenden Inhomogenität und Auflösung traditioneller Klassen im Übergang zur Postmoderne verlieren diese Konstrukte ihre prägende Funktion für das (Freizeit- und Tourismus-)Verhalten. Analytisch wird versucht, die Heterogenisierung und Individualisierung der Lebens- und Konsummuster mittels sog. Lebensstilgruppen abzubilden.

Der Soziologe HRADIL definiert: „Ein Lebensstil ist […] der regelmäßig wiederkehrende Gesamtzusammenhang der Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbestände und bewertenden Einstellungen eines Menschen“ (HRADIL 2005, S. 46). Nach BOURDIEU sind Lebensstile Ausdruck einer strukturellen Vielfalt (BOURDIEU 1987), wobei sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Aspekte teilweise entkoppelt sind. Dabei wird zwischen ökonomischem, kulturellem (z. B. Bildung, Wissenskompetenz) und sozialem (z. B. Kommunikationsfähigkeit, Zugehörigkeit) Kapital (BOURDIEU 1983) unterschieden. Allerdings sind Lebensstile nicht ganz unabhängig von der materiellen Basis, sondern mit dieser in der Weise rückgekoppelt, dass sie bestimmte Verhaltensdispositionen begünstigt.

Lebensstile können als Grundhaltungen aufgefasst werden, die sich in bestimmten Präferenzen (z.B. konsum- oder freizeitbezogen) niederschlagen. Lebensstile können von anderen abgrenzen oder mit diesen verbinden. Dabei kann ein Lebensstil Ausdruck einer politisch-weltanschaulichen Einstellung sein oder starke Bezüge zu bestimmten Konsummustern aufweisen. Der starke symbolische Gehalt von Lebensstilen hat Rückwirkungen auf die Art der Konsumentenansprache im Rahmen des Marketings, das zielgruppenspezifisch Elemente der Lebensstile aufgreift.

Auch im Urlaub wird nicht mehr quasi automatisch das nachgefragt und konsumiert, was man sich leisten kann. Vielmehr treten individuelle Grundhaltungen als Hintergrundmotive für Konsumpraktiken in den Vordergrund. Dementsprechend gewinnt die Identifizierung von sog. Lebensstilen für die Konsumforschung und auch die Tourismuswissenschaften an Relevanz, um entsprechend konditionierte Angebote entwickeln zu können.

Eine der im deutschsprachigen Raum bekanntesten Einteilungen in Lebensstilgruppen ist die vom Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus entwickelte Einteilung in die sog. „Sinus-MilieusSinus-Milieus“. Auch wenn die traditionelle Schichtendifferenzierung (und damit auch die Kaufkraftunterschiede) in das Lebensstilmodel mit einfließen werden drei Grundorientierungen zur Ausdifferenzierung von sog. „Milieus“ unterschieden:

1 Tradition (mit den Milieus der „Traditionellen“ und der „Konservativ-Etablierten“)

2 Modernisierung/Individualisierung (mit den Milieus der „Prekären“, der „Bürgerlichen Mitte“, dem „Sozial-ökologischen“ und dem „Liberal-Intellektuellen“ Milieu sowie

3 Neuorientierung (mit den „Hedonisten“, den „Adaptiv-Pragmatischen“, den „Expeditiven“ und den „Performern“; Reihenfolge der Milieus jeweils in der Reihenfolge zunehmender Kaufkraft; vgl. Sinus 2014, siehe auch Abb. 131 in Kap. 7.3.1).

Grundprinzip der von Sinus nicht genau offen gelegten Vorgehensweise ist bei allen Einteilungen in Lebensstilgruppen auch eine Berücksichtigung von sog. „Stated Preferences“, d. h. Aussagen der Individuen über Präferenzen hinsichtlich von Werthaltungen oder Verhaltensmustern. Die Erfassung erfolgt meist mit sog. Likert-Skalen, bei denen zu einzelnen Items positiv oder negative formulierte Aussagen zu Konsum- und Freizeitverhaltensmustern bzw. -präferenzen abgefragt werden. Dabei können die Probanden ihre Zustimmung oder Ablehnung in mehreren, vorgegebenen Abstufungen – z. B. von „stimme voll zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“ – angeben. Auf der Basis der Einzelaussagen werden dann mit einer Clusteranalyse Teilstichproben relativ ähnlicher Merkmalsausprägungen zu einstellungs- und verhaltensähnlichen Gruppen abgegrenzt. Die Bezeichnung der Cluster erfolgt anschließend anhand der typischen Merkmalsausprägungen innerhalb der Cluster.

Diese Verfahrensweise erklärt auch, warum die Festlegung von Lebensstilgruppen je nach einbezogenen Variablen und den Parametern der Clusteranalyse so gut wie nie zu identischen Gruppierungen führt. Es zirkuliert daher eine Vielzahl von – oftmals zwar ähnlichen, aber im Detail dann doch etwas unterschiedlichen – Zuordnungen (und auch die von Sinus festgelegten Milieus haben sich im Laufe der Jahre verändert).

Die Relevanz der Einteilung in Milieus oder Lebensstile soll anhand des nachfolgenden Beispiels kurz veranschaulicht werden. Bei einer Befragung zur Freizeitmobilität wurden Freizeitstilgruppen über ein breites Spektrum von Aussagen zu Präferenzmustern der Freizeitgestaltung gebildet (genauer bei GRONAU & KAGERMEIER 2007). Bei einer Gegenüberstellung der unterschiedlichen Freizeitstilgruppen mit der diese bei der Wahl des Verkehrsmittels auf funktionale Aspekte (Sicherheit, Zuverlässigkeit, Preiswürdigkeit) oder spaß-orientierte Aspekte (Freude am Fahren, Autofahren als Selbstzweck) Wert legen, zeigt sich deutlich, dass unterschiedliche Freizeitstilgruppen den funktionalen und den spaß-orientierten Aspekten verschieden großes Gewicht beimessen (vgl. Abb. 10).

Abb. 10:

Spaß- und Funktionsorientierung bei Verkehrsmittelwahl in der Freizeit für unterschiedliche FreizeitstilgruppenFreizeitstilgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach GRONAU & KAGERMEIER 2007, S. 129)

Dementsprechend weisen sie auch eine unterschiedliche Affinität zur Inanspruchnahme von relativ umweltverträglichen Verkehrsmittelalternativen auf. Eine solche Analyse im Vorfeld der Einführung von z. B. ÖPNV-Angeboten zur Erschließung einer Freizeiteinrichtung kann mit dazu beitragen, das konkrete Potential genauer einzugrenzen. Vereinfacht ausgedrückt ist es schwieriger, „spaß-orientierte Autofreunde“ für den Besuch einer Motorsportveranstaltung durch ein entsprechendes Zubringerbusangebot anzusprechen als z. B. familienorientierte Besucher eines Freizeitparks.

Die Segmentierung der Lebens- und Konsumstile weist dabei eine gewisse Beliebigkeit auf. Je nachdem, welche Ausgangsparameter in die Clusteranalysen eingespeist und mit welchen Vorgaben diese durchgeführt werden, entstehen teilweise voneinander abweichende Gruppen ähnlicher Ausprägungen, die dann anhand ihrer Gemeinsamkeiten mit schlagkräftigen Bezeichnungen versehen werden. Teilweise entsteht dabei der Eindruck, dass manchmal mehr Kreativität und Energie in die Generierung von Begriffen verwendet wird als in die methodisch sauberere Ermittlung. Ähnlich ist es auch bei der stark umworbenen Gruppe der sog. 50plus-Generation, die als mit so schillernden Metaphern wie Silver Consumer, Best Ager, Generation Gold, Golden Ager oder Master Consumer bezeichnet wird, ohne dass dahinter eine große analytische Substanz steht.

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