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Was ist ein Tourist?

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Scheinbar trivial scheint die Frage, wer oder was ein Tourist ist, wird dieser Begriff doch im alltagssprachlichen Gebrauch von fast jedem verwendet, wobei allerdings auch unterschiedliche begriffliche Fassungen existieren. Eine der klassischen Annahmen ist, dass ein Tourist auch in seinem Zielgebiet übernachtet, d. h. nur der Übernachtungsreiseverkehr als Tourismus verstanden wird. In früheren Zeiten wurde auch versucht, über die zurückgelegte Distanz zwischen Touristen und Naherholungssuchenden zu unterscheiden, wobei manchmal – in Analogie zum Verkehrswesen – die Grenze bei 50 km gezogen wurde. In manchen Ländern der sog. Entwicklungsländer werden als Touristen nur Besucher aus dem Ausland verstanden.

Die United Nations World Tourism OrganisationUnited Nations World Tourism Organisation (UNWTOUNWTO) ist eine internationale Organisation, die sich im Auftrag der UN neben der Bereitstellung von internationalen Tourismusstatistiken auch mit international relevanten Aspekten des Tourismus (z. B. Krisenmanagement, Biodiversität) beschäftigt. Diese hat 1993 – vor allem für die Angleichung der internationalen Tourismusstatistiken einen Katalog von Begriffen unter dem Namen „Standard ‎International Classification of Tourism ActivitiesStandard ‎International Classification of Tourism Activities (SICTA)“ (SICTASICTA (Standard ‎International Classification of Tourism Activities)) beschlossen. Dort findet sich auch die inzwischen weltweit weitgehend akzeptierte Definition des Begriffes „Tourist“.

Box 2 | UNWTO-Definition des Begriffes „Tourist Tourist

„A visitor is a traveller taking a trip to a main destination outside his/her usual environment, for less than a year, for any main purpose (business, leisure or other personal purpose) other than to be employed by a resident entity in the country or place visited. These trips taken by visitors qualify as tourism trips. Tourism refers to the activity of visitors” (UNWTO 2008, S. 10).

In dieser Definition sind im Wesentlichen drei Aspekte enthalten:

1 OrtsveränderungOrtsveränderung: Ein Tourist ist eine Person, die sich im Raum von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt bewegt. Allerdings gibt es keine Mindestentfernung oder das Überschreiten von (seien es kommunalen oder nationalen) Grenzen als Voraussetzung.

2 Zeitliche BefristungZeitliche Befristung: Die Bewegung im Raum ist zeitlich befristet, dauerhafte Migrationen (sei es durch einen freiwilligen Umzug oder eine Zwangsmigration durch Flucht oder Vertreibung) zählen damit nicht als touristische Aktivität. Gleichzeitig wird keine Mindestaufenthaltsdauer, sondern nur ein Maximum von einem Jahr angegeben.

3 ZweckZweck: Die Motive für die Raumveränderung können unterschiedlicher Art sein, wobei die UNWTO neben den Hauptzwecken von freizeitmotivierten und Geschäftsreisen, die möglichen anderen Motive nicht weiter eingrenzt. Eine religiös motivierte Pilgerfahrt (egal ob zur nahegelegenen Marienkapelle oder nach Mekka) zählt damit ebenso als touristische Aktivität wie der Aufenthalt zu einem Sprachkurs im Ausland. Ausgeschlossen sind lediglich Fahrten von Berufspendlern zum Hauptort der Berufsausübung (auch wenn diese über eine nationale Grenze hinweg erfolgt).

Für die statistische Erfassung werden darüber hinaus noch ausgeklammert die Raumveränderung von Diplomaten und Angehörigen von Streitkräften, aber auch von Nomaden, Flüchtlingen und Transitreisenden.

Die Differenzierung von Touristen primär für statistische Zwecke (vgl. Abb. 2) folgt weitgehend diesen Grundvorgaben des UNWTO. So wird einerseits oftmals unterschieden zwischen freizeitorientierten Touristen und anderen Motiven (wobei hier dann vor allem der Geschäftsreiseverkehr erfasst wird, während andere Motive nur sehr begrenzt statistisch fassbar sind). Von Freizeitaktivitäten werden aus touristischer Sicht nur diejenigen erfasst, die außerhalb der eigenen Wohnung stattfinden, während häusliche Freizeitbeschäftigungen nicht berücksichtigt sind. Sowohl beim freizeitorientierten als auch beim Geschäftsreise-Tourismus werden die Besucher oftmals unterschieden in Tagestouristen und Übernachtungstouristen. Da bei einer der wichtigsten sekundärstatistischen Quellen der Tourismusforschung, der sog. „Reiseanalyse“ (vgl. FUR div. Jg.) lange nur Reisen mit mindestens 4 Übernachtungen erfasst wurden, wird oftmals auch noch zwischen Kurzurlauben (1 bis 4 Tage) und Urlauben unterschieden.

Abb. 2:

Differenzierung von Tourismus für statistische Zwecke (Quelle: eigener Entwurf)

Gleichzeitig ist in Abbildung 2 mit den grauen Pfeilen angedeutet, dass die vermeintlich klare statistische Erfassung der MotiveMotive der Realität oftmals nicht gerecht wird. Die grauen Pfeile im rechten Teil der Graphik sollen darauf hinweisen, dass auch Geschäftsreisen oder primär aus anderen, nicht freizeitbezogenen Motiven unternommene Reisen (wie z. B. Kuren, Pilgerreisen oder Sprachkursaufenthalte) zu gewissen Teilen auch freizeitorientierte Komponenten aufweisen können (genauso wie umgekehrt auch primär freizeittouristische Aufenthalte natürlich auch partiell berufliche Aspekte inkludieren können).

Für die weitere Differenzierung von Ausprägungen des Tourismus kann nach STEINGRUBE (2001) zwischen unterschiedlichen TourismusformenTourismusformen unterschieden werden. Die Festlegung von Tourismusformen „greift auf sichtbare, äußere Erscheinungen oder auf nur zum Teil sichtbare Verhaltensweisen sowie auf die nicht sichtbare Reisemotivation zurück, um die Vielfalt der touristischen Nachfrage zu gliedern“ (2001, Band 3, S. 358f.). Wie anhand der Beispiele in Tabelle 1 sichtbar wird, erweist sich die Vielfalt von unterschiedlichen Tourismusformen als offenes Konzept, bei dem je nach Betrachtungswinkel und Interessenslage Teilbereiche der konkreten touristischen Praxis ausgegliedert werden können. Dabei sind die verwendeten Kriterien „frei wählbar, nicht immer überschneidungsfrei, sie müssen nicht die Gesamtheit aller Touristen erfassen und sie müssen einander nicht ausschließen, sondern können auch miteinander kombiniert werden“ (STEINGRUBE 2001, Band 3, S. 359).

Abgrenzungskriterien Beispiele möglicher Tourismusformen
Motivation Urlaubs-, Geschäfts-, Bildungs-, Gesundheitstourismus
Jahreszeit Sommer-, Wintertourismus
regionale Herkunft Binnen-, Ausländer-, Incoming-Tourismus
soziale Gruppe Frauen-, Jugend-, Seniorentourismus
Einkommen Sozial-, Luxustourismus
Beherbergung Hotel-, Campingtourismus
Verkehrsmittel Fahrrad-, Auto-, Flugtourismus
Landschaftsform maritimer, alpiner Tourismus
Distanz Naherholung, Ferntourismus
Dauer Ausflug, Kurzurlaub, Langzeittourismus
Aktivität Ski-, Rad-, Golftourismus

Tab. 1:

Unterschiedliche Tourismusformen (Quelle: STEINGRUBE 2001, Band 3, S. 358)

Bereits bei diesen ersten Schritten der Annäherung an touristische Begrifflichkeiten wird deutlich, dass es sich um eine offene Disziplin handelt, bei der die Phänomene oftmals nicht einfach zu fassen sind. Gleichzeitig wird sichtbar, dass es ein dynamisches Feld ist, das nicht – wie z. B. das Set der chemischen Elemente – ein abgeschlossenes Konstrukt darstellt, sondern sich kontinuierlich weiterentwickelt. So werden unter dem Begriff des Dark Tourism in jüngerer Zeit entstehende Angebotsformen zusammengefasst, bei denen die „Faszination des Schreckens“ als Attraktor fungiert (QUACK & STEINECKE 2012). In den letzten Jahren sind unter dem Stichwort der „Entschleunigung“ neue Formen des sog. Slow TourismSlow Tourism entstanden (vgl. ANTZ, EILZER & EISENSTEIN 2011). Auch die Entdeckung von kulinarischen Angeboten als Element der Positionierung von Destinationen (vgl. KAGERMEIER 2011b) steht für den permanenten Innovationsprozess im Tourismusmarkt, in dem die definitorische Fassung für die wissenschaftliche Analyse oftmals der konkreten Praxis hinterherhinkt. Die Entstehung neuer Formen wird ja nicht wie z. B. in der Pharmazie von Wissenschaftlern in Labors entwickelt, sondern entsteht im Wechselspiel zwischen Anbietern und Nachfragern in der konkreten touristischen Realität. Die Rolle der Tourismuswissenschaften beschränkt sich nicht auf das analytische Nachvollziehen der konkreten touristischen Praxis. Es werden auch Grundlagen für Produktinnovationen über die Analyse von übergeordneten Trends, auf der Basis von Produkt-LebenszyklenProdukt-Lebenszyklen oder Markt- und Wettbewerbsanalysen, vorbereitet und begleitet – oftmals vom konkreten Handeln von Innovatoren auf der Angebots- und Nachfrageseite stimuliert.

Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt

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