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Der Traum
ОглавлениеAron fror. Instinktiv griff er hinter sich, um sein Jackett von der Stuhllehne zu nehmen, doch seine Hand fasste ins Leere. Verwundert stand er auf. Ein Holzschemel. Warum saß er auf einem Holzschemel? War er denn nicht im Büro?
Sein Herz schlug schneller, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Offensichtlich hatten sie ihn eingesperrt, ausgesetzt, in einer Zelle, einem kahlen Raum, kaum größer als drei mal drei Meter, ohne Tür und ohne Fenster. Nur den Schemel hatten sie ihm gelassen. Und einen Holztisch, auf dem Schulhefte lagen, ordentlich aufgereiht, wie Mutter sie ihm nach den Ferien immer bereitgelegt hatte, auf Schlampigkeiten überprüft und neu eingebunden. Die Hefte waren für ihn bestimmt, daran bestand kein Zweifel. Und es wurde Zeit, sich mit ihrem Inhalt zu beschäftigen. Für morgen war die Prüfung angesetzt. Sie würde über seine Zukunft entscheiden. Hopp oder top. Ohne bestandene Abiturprüfung würde er seine Diplomurkunde zurückgeben müssen und in der Folge seinen Job verlieren.
Aron wischte den unangenehmen Gedanken beiseite, griff nach einem der Hefte und schlug es auf. Mathematische Gleichungen. Er hatte nicht viel Zeit und machte sich fahrig daran, deren Sinn zu verstehen, doch die Zahlen verschwammen vor seinen Augen. Er hörte das Ticken einer großen Wanduhr und geriet in Panik. Es war zu spät. Er würde es nicht schaffen.
Im selben Augenblick glaubte er eine Bewegung hinter sich zu spüren, ein Gleiten, lautlos und doch wahrnehmbar. Ein Schauer jagte ihm den Rücken hinunter und seine Nackenhaare richteten sich auf. Ängstlich blickte er sich um. Nichts. Und doch blieb das unheimliche Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein. Irgendetwas hatte sich verändert. Aron brauchte einen Moment, bis er verstand, dass es die plötzliche Stille war. Die Uhr! Sie hatte aufgehört zu ticken. Der Strom seiner Gedanken riss jäh ab. Die vollkommene Stille, die ihn jetzt einhüllte und von seinem Inneren Besitz ergriff, löste ein eigenartiges Gefühl der Unendlichkeit in ihm aus, tranceähnlich. Und doch blieb er wachsam, wie ein Frontsoldat, der in einen Sekundenschlaf fällt.
Und dann hörte er es. Leise zwar, aber doch deutlich genug, um seine Sinne in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ein Schlurfen, als bewegten sich Schuhe auf steinigem Grund. Aron nahm all seinen Mut zusammen und drehte sich um. Ein kalter Schreck durchfuhr ihn. Mitten im Raum stand ein Mann. Reglos, wie eine Statue. Er trug einen dunkelgrauen Mantel und hatte die Hände in den Taschen verborgen. Sein volles braunes Haar war sorgsam zurückgekämmt. Nichts an diesem Mann wirkte bedrohlich und so wagte es Aron, ihm direkt in die Augen zu schauen. Und dann kam das Erkennen.
„Vater!“
Der Anflug eines Lächelns huschte über das Gesicht des Mannes. Unsicher machte Aron einen Schritt auf ihn zu. „Wo warst du so lange, Vater? Warum kommst du erst jetzt?“
Mit einer langsamen Bewegung deutete der Mann auf etwas, das sich hinter Aron zu befinden schien. Aron drehte sich um. In der Wand, direkt neben dem Holztisch, sah er eine schmale Öffnung, die er vorher nicht bemerkt hatte. Er trat an die seltsame Scharte heran. Vor ihm spannte sich der Himmel auf, schwarz, kalt und doch funkelnd, voller Sterne. Niemals zuvor war Aron dem Himmel so nah gewesen. Fasziniert und beängstigt zugleich gab er sich dem Anblick hin.
Mit einem Mal schien der Tag anzubrechen. Ein heller Schimmer zog am Horizont herauf. Aron hatte in seinem Leben genug Sonnenaufgänge gesehen und wollte sich wieder seinem Vater zuwenden, doch er hielt inne. Irgendetwas irritierte ihn und ließ ihn zögern. Zu schnell wurde es hell und der Horizont schimmerte weiß und nicht wie gewohnt in warmen Rot- und Orangetönen.
Und dann sah Aron die Quelle des Lichts. Langsam, und doch schneller als für gewöhnlich die Sonne, ging am Horizont ein Planet auf. Er schimmerte schneeweiß und tauchte die Umgebung in ein seltsam unwirkliches Licht. Was für ein wundervoller Anblick!
Doch dann war es ihm, als würde der Planet rasch größer werden, gerade so, als käme er auf die Erde zu. Er war jetzt so groß wie fünf Monde und wurde immer noch größer. Sein weißes Licht wurde heller. Aron erstarrte.
Gleißend weißes Licht flutete jetzt den Himmel, fiel in die Zelle und drang in seine Augen.
Er riss die Hände vors Gesicht und erwartete den Einschlag, den kurzen lauten Moment des Schmerzes, das Ende.
Doch alles blieb still.
Irgendwann brachte Aron den Mut auf, die Hände herunterzunehmen. Das weiße Licht war gegangen. Der Planet war nicht mehr zu sehen. Und Aron lebte.
Ehe er sich vom Fenster abwenden konnte, hörte er die Stimme seines Vaters.
„Komm, Aron, ich bringe dich in unsere Firma.“
Aron ergriff die Hand seines Vaters und folgte ihm durch eine kleine Öffnung, die sich unvermittelt vor ihnen auftat. Jetzt bemerkte er, dass sie in einem Hotel waren. Sie durchschritten die menschenleere Lobby und stiegen eine mächtige raumbeherrschende Treppe empor, an deren Ende sich eine weite Flügeltür öffnete und den Blick in einen großen Ballsaal freigab. Träumte er? Wo kamen auf einmal die vielen Menschen her? Offenbar gab es Anlass zu feiern, denn Aron sah lachende Gesichter und tanzende Paare, die sich im Walzertakt wiegten. Am Kopfende des Saales wurde ein Rednerpult aufgebaut. Von der Decke hingen schwere Kronleuchter. Die Szenerie in dem Saal wirkte seltsam altmodisch auf Aron - und sie gefiel ihm nicht.
Eine junge Frau winkte ihm aus der Ferne zu. Sie trug ein wunderschönes weißes Hochzeitskleid und strahlte glücklich. Aron wandte sich ab. Er musste hier verschwinden, hier gehörte er nicht hin.
Am anderen Ende der Tanzfläche, im hinteren Bereich des Saals, sah er eine angelehnte schwere Kassettentür. Einem plötzlichen Impuls folgend, lief er los. Er drängte mitten durch die Menge, sah dunkle Anzüge vorbeigleiten, Krawatten, Fliegen, aufwendige Abendkleider, lachende Gesichter, schemenhaft, unscharf. Alles war in Bewegung, kreiste um ihn, ließ ihn taumeln. Schließlich stand er vor der schweren Kassettentür. Einen Moment zögerte er, dann schlüpfte er hindurch.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erschrak er. Keine zwei Meter von ihm entfernt stand eine Frau. Sie schien geweint zu haben, denn ihre ungewöhnlich großen Augen glänzten feucht. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung erfasste ihn und er streckte die Hand nach ihr aus. Im gleichen Moment traf ihn ein heftiger Windstoß von hinten und ließ die Haare der Frau aufwehen. Irritiert drehte er sich nach dem Fenster um. Es war geschlossen, aber die Verglasung fehlte und kalte Luft strömte herein. Aron wandte seinen Blick zurück zu der Stelle, an der eben der Wind die Haare dieser wunderschönen Frau erfasst hatte. Halluzinierte er? Verstört schaute er sich um. Hier war niemand. Aron stürzte zurück in den Festsaal, aber auch dort war keine Menschenseele zu sehen. Er war vollkommen allein.
In dem Moment überkam ihn ein so unbeschreibliches Gefühl der Trostlosigkeit, dass er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Sein Oberkörper begann zu beben und all sein Schmerz brach aus ihm heraus, rann über seine Wangen und tropfte auf den Boden.
Er schluchzte noch, als ein elektronischer Ton an sein Ohr drang, zunächst leise, dann immer eindringlicher und lauter. Das Geräusch schien aus einer anderen Welt zu kommen. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war, doch dann begriff er.