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10.12.2011: Die Verabredung
ОглавлениеIm Zug ließ Aron noch einmal sein Gespräch mit Mutter Revue passieren. Irgendetwas in seiner Einstellung ihr gegenüber hatte sich verändert. Ein Teil seines Grolls war gewichen und hatte einer Art respektvollem Mitleid Platz gemacht. Zum ersten Mal in seinem Leben war er in der Lage, sich wenigstens ein bisschen in sie hineinzuversetzen. Ihre Schilderung der Geschehnisse in Vaters Todesnacht hatte ihn tief bewegt. Er bekam noch immer weiche Knie, wenn er daran dachte. Konnte es wirklich sein, dass Mutter die Verabschiedung geträumt hatte, während Vater starb? Ein solcher Zufall erschien ihm unmöglich. Oder verfügte Mutter über einen sechsten Sinn? Auch daran mochte er nicht recht glauben. Aber an was sollte er dann glauben? An einen Vater, der vor seiner Familie in den Tod flüchtet? Absurd! Es sei denn, Vater war gar nicht vor seiner Familie, sondern vor ganz anderen Menschen auf der Flucht. Vielleicht war er in irgendwelche Machenschaften verwickelt, von denen Mutter nichts wusste: Insiderhandel, Korruption, Industriespionage. Unwahrscheinlich, dachte er. Blieb neben einer natürlichen Todesursache nur noch ein psychisches Leiden als Erklärung, aber das hatte Mutter ja kategorisch ausgeschlossen. Doch was besagte das schon? Mutter konnte ihre Erinnerung in dreißig Jahren Trauer beliebig manipuliert haben. Er musste unbedingt weitere Zeitzeugen hören, um sich ein unabhängiges Bild machen zu können. Aber mit wem sollte er sprechen? Er könnte Mutters Schwester Anneliese anrufen, allerdings war von der keine besonders große Hilfe zu erwarten. Eine dröge Person, die er nie sonderlich gemocht hatte. Besser wäre es, mit direkten Bekannten von Vater zu sprechen, mit diesem hübschen jungen Mädchen zum Beispiel, dass immer noch in seinem Kopf herumspukte. Wie hieß sie noch gleich? Marie und irgendwas mit Haus. Hauswerk, Hauswohl, Hauswald. Ja, das war es: Marie Hauswald. Er musste versuchen, sie ausfindig zu machen. Am besten probierte er es mit dem Deutschland-Telefonbuch. Dort sollte er sie finden können, jedenfalls wenn sie inzwischen nicht geheiratet hatte. Wie wahrscheinlich war das? Sie musste heute Anfang Vierzig sein. Wie viele deutsche Frauen in diesem Alter tragen noch ihren Mädchennamen? Er hatte keine Ahnung.
Einer spontanen Eingebung folgend zog er sein Smartphone aus der Tasche und prüfte die Netzqualität. Guter Empfang. Er öffnete die Seite des Online-Telefonbuchs und gab „Marie Hauswald“ in die Suchmaske ein. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Eingetragen waren deutschlandweit nur zwei Personen mit diesem Namen. Allerdings gab es noch weitere fünf M. Hauswald. Das war trotzdem ein sehr übersichtliches Ergebnis.
Aron schaute sich die beiden Marie Hauswalds näher an und konnte es kaum glauben. Eine von beiden war in Heidelberg gemeldet. Ohne lange zu überlegen, klickte er ihre Nummer an. Die Verbindung wurde aufgebaut und kurz darauf meldete sich eine freundliche Frauenstimme mit „Hallo“.
„Guten Abend, mein Name ist Aron Breuer. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin auf der Suche nach einer Freundin meines Vaters aus Köln. Ihr Name ist Marie Hauswald.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Stille, dann hörte er sie sagen: „Aron? Aron Breuer, der Sohn von Gerhard Breuer?“
Aron wäre fast das Telefon aus der Hand gefallen. Das war doch nicht möglich! Ein Anruf - und schon hatte er sie!
„Ja, der bin ich“, sagte er unsicher. „Und sie sind Marie Hauswald?“
„Ja, natürlich. Es freut mich, dass Sie sich melden. Was verschafft mir die plötzliche Ehre Ihres Anrufs?“
Aron war so perplex, dass er ein paar Sekunden brauchte, um Anlauf zu nehmen.
„Also, ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Vielleicht brauche ich Ihnen auch gar nicht viel zu erklären, Sie scheinen sich ja noch an meinen Vater zu erinnern.“ Er hielt inne und hoffte, Frau Hauswald würde das Wort ergreifen. Sie tat ihm den Gefallen.
„Natürlich erinnere ich mich an Ihren Vater, aber warum kommen Sie erst jetzt zu mir, nach dreißig Jahren?“
Aron dachte nicht lange nach, und legte instinktiv die Karten offen auf den Tisch.
„Ich habe letzte Woche im Keller alte Unterlagen von meinem Vater gefunden, und die haben mich neugierig gemacht.“
„Neugierig gemacht“, echote sie, und es klang nicht wie eine Frage.
„Meine Mutter hat mir von Ihrer Freundschaft zu meinem Vater erzählt. Bitte verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin, aber diese Freundschaft interessiert mich. Ich würde mich gerne mit Ihnen über meinen Vater unterhalten.“
„Das haben Sie aber sehr nett gesagt. Sind Sie immer so diplomatisch?“, fragte Marie Hauswald in einem Ton, der durchaus als Flirtversuch verstanden werden konnte.
„Nein, nur heute, Ihnen zuliebe“, entgegnete er, und ahmte ihren Tonfall nach.
„Das ist aber nett, Herr Breuer“, erwiderte sie fröhlich. Dann wurde sie wieder ernster. „Um ehrlich zu sein, es wundert mich nicht, dass Sie mich anrufen. Ich hatte schon viel eher damit gerechnet. Sie brauchen mir auch nichts zu erklären, ich bin im Bilde. Ich war sehr gut mit Ihrem Vater bekannt und helfe Ihnen gerne.“
„Das freut mich. Können wir uns denn kurzfristig treffen? Es ist ja ein schöner Zufall, dass wir beide in derselben Stadt wohnen.“
„Klar.“
„Wann hätten Sie Zeit? Bei mir passt es am besten abends nach 18 Uhr oder am Wochenende.“
Ohne zu zögern antwortete sie: „Wie wäre es mit Dienstagabend? Da fahre ich nach Bad Dürkheim in die Spielbank. Wir könnten uns um 19 Uhr dort treffen, unser Glück beim Roulette versuchen und anschließend noch ein Glas Wein zusammen trinken. Was halten Sie davon?“
Aron überlegte. Er hatte am Dienstagabend nichts vor und konnte durchaus nach der Arbeit rüber in die Pfalz fahren. Außerdem fand er ihr Angebot recht originell.
„Also gut, treffen wir uns am Dienstag um sieben in der Spielbank“, sagte er.
„Perfekt. Dann also bis Dienstag.“
Aron schob sein Handy zufrieden in die Jackentasche. Das war ja einfach gewesen. Vielleicht zu einfach, schoss es ihm durch den Kopf, und für einen kurzen Moment spürte er eine seltsame Verunsicherung. Warum stieß er auf so viele Menschen aus Heidelberg, seit er der Spur seines Vaters folgte? Es musste eine logische Erklärung für diese eigenartige Ansammlung von Zufällen geben. Vielleicht würde er am Dienstag mehr darüber erfahren.