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5.-9.12.2011: Huform
ОглавлениеEs regnete, als sich Aron am Montag mit seinem kleinen Firmenwagen in den morgendlichen Berufsverkehr einreihte. Ein eher ungewöhnliches Wochenende lag hinter ihm. Weder hatte er an seinem Kostensenkungsplan gearbeitet, noch war er in die Firma gefahren, um seine Post durchzusehen und die Ablage zu erledigen, so wie er es sonst am Samstag zu tun pflegte. Er hatte am Wochenende einfach gar nicht an die Firma gedacht. Umso heftiger traf ihn seine Unlust, als er die Schranke zum Firmengelände der Huform GmbH passierte und den großen SUV von Peter Schneider auf dem Parkplatz mit dem Schild „Geschäftsführung“ neben dem Eingang des Verwaltungsgebäudes stehen sah. Aron hatte sich Schneider wie jeden Morgen möglichst weit weg gewünscht, auf einer Asienreise oder noch viel weiter weg, auf dem Mond zum Beispiel.
Im ersten Stock stieg ihm Kaffeeduft in die Nase. Arons beste Mitarbeiterin, Bettina Lange, genannt Betti, war schon da. Aron mochte Betti. Die stellvertretende Finanzchefin gehörte zu den dienstältesten Angestellten von Huform, obwohl sie noch keine vierzig Jahre alt war. Aron hielt einen Smalltalk mit ihr, nahm sich Kaffee und ging dann in sein Büro. Er schaltete den Rechner ein. Normalerweise war das der Moment, in dem er sich überlegte, wie er den Tag angehen wollte. Doch heute konnte er sich nicht konzentrieren. Er blickte auf den noch schwarzen Bildschirm und wartete gedankenlos darauf, dass die Eingabemaske für das Passwort erschien. Ihm war nicht nach Arbeiten zumute. Und dann kam auch noch Betti mit einer schlechten Nachricht herein. Schneider habe angerufen und wolle ihn bis spätestens halb neun sehen. Klar, dachte Aron, nächste Woche muss Schneider den Investoren seinen Rationalisierungsplan vorstellen. Und wer macht die Vorarbeit? Natürlich er, Aron, der Finanzchef von Huform. Dafür war er auch Prokurist und inoffizieller Stellvertreter des Geschäftsführers. Offiziell hatte Schneider das zwar nie bestätigt, aber er war der einzige Mitarbeiter mit Prokura und bei allen schwierigen Angelegenheiten Schneiders Ansprechpartner Nummer eins. Prokurist, Finanzchef und Assistent der Geschäftsleitung. Logisch, dass er für den Kostensenkungsplan zuständig war. Und jetzt wird Schneider nervös und will den Zwischenstand wissen, dachte Aron, während er seine Unterlagen zusammensuchte. Dann machte er sich auf den Weg in den zweiten Stock.
Schneider erwartete ihn schon. Das Gespräch dauerte keine 30 Minuten und Aron hatte das Gefühl, dass Schneider im Großen und Ganzen zufrieden mit seiner Arbeit war. Kein Wunder, waren es doch Schneiders Ideen, die Aron in seinen Plan übertragen hatte. Aron ärgerte sich, nicht mehr Widerstand geleistet zu haben, aber irgendwie hatte er momentan einfach nicht genug Energie, nicht ausreichend Selbstbewusstsein, um zu kämpfen und seine eigene Vorstellung von dieser Firma gegenüber Schneider und den Investoren zu vertreten. Und er scheute den Konflikt. Wenn er nicht mitspielte, würden sie ihn austauschen und er müsste sich einen anderen Job suchen. Danach stand ihm wirklich nicht der Sinn. Bewerbungen schreiben, Vorstellungsgespräche, die Unsicherheit. Lieber wollte er seine Energie darauf verwenden, endlich eine Partnerin zu finden. Er war schließlich schon 36. Die meisten seiner Freunde waren längst verheiratet und hatten Kinder.
Zurück im Büro ließ sich Aron in seinen Schreibtischstuhl fallen. Er war den Tränen nahe. Warum nur bekam er sein Leben nicht in den Griff? Die Arbeit wuchs ihm über den Kopf, ließ ihn seine Seele verkaufen, und eine Partnerin, bei der er Kraft und Optimismus hätte tanken können, war auch nicht in Sicht. Seit dem unschönen Ende mit Simone war es ihm nicht mehr gelungen, auch nur in die Nähe einer Beziehung zu kommen. Er hatte zu viel Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung. Manchmal überlegte er, einfach wegzulaufen, von einem Tag auf den anderen zu verschwinden, wie es ein Schulfreund gemacht hatte. Ab nach Amerika und dort ein neues Leben anfangen. Aber Aron scheute davor zurück, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Was, wenn er die falsche Entscheidung traf?
Vielleicht geht es heute wenigstens an der Börse aufwärts, dachte er, und loggte sich bei seinem Online-Broker ein. Aber was er da sah, passte zu seiner Stimmung: Alles rot! Die Kurse sackten heute noch weiter durch. Bisher war es ihm trotz aller Bemühungen nicht gelungen, eine positive Rendite an der Börse zu erzielen. Dabei hatte er Betriebswirtschaftslehre studiert, um an Vaters Erfolge anknüpfen zu können. Doch es war anders gekommen. Nach dem Studium hatte er in Frankfurt zwei Jahre bei einer Bank in der Investmentabteilung gearbeitet. Ein Albtraum. Alles, was ihn vorher an der Börse fasziniert hatte, verlor bei diesem Job seinen Glanz. Er musste unter unvorstellbarem Druck arbeiten. Das Kaufen und Verkaufen von Wertpapieren hatte dort nichts von der spielerischen Leichtigkeit, an die er sich bei seinem Vater zu erinnern glaubte. Wenn das Gehalt nicht so unverschämt hoch gewesen wäre, hätte es Aron bei der Bank nicht lange ausgehalten. So aber wartete er, bis ihm sein Chef die Entscheidung über seine Zukunft abnahm und ihm die Kündigung überreichte, aus betrieblichen Gründen, wegen einer Umstrukturierung. Aron wusste es besser. Er hatte einfach nicht den Anforderungen genügt, war ein „Underperformer“ gewesen. Doch er konnte es verschmerzen. Die Finanzbranche war sowieso nicht sein Ding gewesen. Außerdem meinte es das Schicksal gut mit ihm. Keine fünf Tage nach der Kündigung hatte sich eine kleine Personalberatung aus Frankfurt bei ihm gemeldet und ihm einen Job bei einem Mittelständler im Norden Baden-Württembergs angeboten. Weiß der Teufel, wie die ausgerechnet auf ihn gekommen waren, jedenfalls hörte sich das Angebot nicht schlecht an, und da Aron einen neuen Job brauchte, ließ er sich auf ein Vorstellungsgespräch ein.
Und so kam er nach Heidelberg zu Huform, einem Hersteller von Kunststoff-Spritzgießwerkzeugen mit angeschlossener Spritzerei. Der Gründer und Inhaber der Firma, Hubertus Hugenbach, suchte einen neuen Controller. Schon beim ersten Vorstellungsgespräch war Aron begeistert. Hugenbach hatte klare Vorstellungen von seinem Unternehmen und eine sehr menschliche und authentische Ausstrahlung. Sein unternehmerisches Ziel beschrieb er als die Verwirklichung seiner persönlichen Leidenschaft für das Konstruieren von Werkzeugen und die Schaffung von sicheren Dauerarbeitsplätzen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen für alle Mitarbeiter. Aron gefiel Hugenbachs menschliche Art auf Anhieb, und so fing er schon am nächsten Tag bei Huform an.
Ein Klopfen an der Tür riss Aron aus seinen Gedanken. Jan, der Produktionsleiter von Huform, kam herein gestürmt und knallte geschäftig seine Unterlagen auf den Besprechungstisch. Jan kam Aron wie gerufen, hatte Schneider ihn doch gebeten, mit Jan über die geplante Produktionsverlagerung nach Malaysia zu sprechen.
„Ich habe das ganze Wochenende an euren Verlagerungsplänen für die Produktion herumgerechnet“, legte Jan los. „Da habt ihr mir ja ein schönes Ei ins Nest gelegt.“
Aron lächelte gequält und bat Jan Platz zu nehmen.
„Ich meine es wirklich ernst“, fuhr Jan fort. „Bei Betrachtung der reinen Primärkosten würde sich ein Umzug sogar lohnen. Und wenn ich diese Zahlen an Schneider weitergebe, dann sind wir im Frühjahr schon in Malaysia.“
Aron schauten seinen Kollegen ungläubig an.
„Keine Sorge, Aron. Die Rechnung sieht nur auf den ersten Blick gut aus. Bei Betrachtung der Folgekosten wendet sich das Blatt. Außerdem sind wir uns ja wohl einig, dass ein Umzug des Werkzeugbaus den endgültigen Tod der Firma Huform bedeuten würde.“
„Die Firma ist an dem Tag gestorben, an dem Hubertus Hugenbach zum letzten Mal mit seinem alten Mercedes vom Hof gefahren ist“, erwiderte Aron. „Was wir jetzt erleben, sind doch nur die Spätfolgen!“
„Aber muss das wirklich so sein?“, fragte Jan. „Sollten wir nicht versuchen, Schneider von der Idee abzubringen, die Produktion zu verlagern?“
„Jan, darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Huform gehört nun mal nicht mehr einem alten verrückten Ingenieur, dessen kompletter Lebensinhalt diese Firma ist. Die Investoren, die dem neuen Inhaber ihr Geld gegeben haben, wollen eine hohe Rendite sehen - und Schneider muss sie liefern. Er steht unter brutalem Druck. Warum sollte er die Produktion nicht nach Asien verfrachten, wenn er damit die Rendite hochhalten kann?“
„Dann lass mich dir meine Berechnung erklären. Wir werden, wenn wir die Werkzeuge in Asien produzieren lassen, zwar geringere Produktionskosten haben, dafür werden die Reklamationen zunehmen. Und dann werden wir die Preise weiter senken müssen, bestimmt um 5 bis 10 Prozent. Da die Produktionskosten nur einen Teil unserer Gesamtkosten ausmachen, aber das weißt du ja besser als ich, reichen 10 Prozent Preisreduktion schon aus, um den ganzen Vorteil der Produktionsverlagerung aufzubrauchen. Und dann kommt noch der Imageverlust hinzu: Huform wird zur Billigmarke! Wir werden weiter Bestandskunden verlieren und die Preise noch weiter senken müssen, um neue Kunden zu gewinnen. Ein Teufelskreis. Ich sage Dir, wir laufen auf den Abgrund zu!“
Aron schwieg. Natürlich hatte Jan Recht. Aron ergriff ja nur deshalb Partei für Schneider, weil er keine Lust hatte, sich mit seinem Chef anzulegen. Eigentlich trauerte auch er den alten Zeiten nach. Unter Hugenbach war die Firma ein Musterbeispiel für Transparenz und Menschlichkeit gewesen. Sicher, Hugenbach hatte viel von seinen Mitarbeitern verlangt. Wer krank feierte, gegen den Ehrencodex der Firma verstieß oder durch sein Verhalten Firmeneigentum oder andere Kollegen schädigte, wurde sofort gefeuert. Dafür hielt Hugenbach gierige Investoren von der Firma fern und schüttete die Gewinne zum großen Teil an die Mitarbeiter aus, und zwar nicht prozentual zum Gehalt oder Lohn, sondern absolut. Jeder Mitarbeiter bekam also die gleiche Summe. Insbesondere für die Arbeiter in der Produktion war das eine tolle Sache. Entsprechend niedrig war die Fluktuation. Die hohe Mitarbeiterzufriedenheit wirkte sich auch positiv auf den Umsatz aus. Die Kunden schätzten die motivierten Mitarbeiter und die transparente Preispolitik von Huform.
Wie alles im Leben hatte aber auch diese Medaille zwei Seiten. Hugenbach war Tag und Nacht für seine Firma da. Seine Familie machte das sehr lange mit, aber nachdem die Kinder ausgezogen waren, kam es zum großen Knall. Aron kannte die Details nicht, aber die Scheidung artete wohl zu einem Rosenkrieg aus, an dessen Ende Hugenbach keine andere Wahl hatte, als die Firma zu verkaufen, um seine Frau auszubezahlen. Das passierte ausgerechnet im Jahr 2008, als eine schwere Wirtschaftskrise die Welt erfasste. Für einen viel zu niedrigen Preis übernahm schließlich die deutsche Private-Equity-Gesellschaft PEF Hugenbachs Anteile. Der Firmengründer verschwand daraufhin mit seiner neuen Freundin nach Südfrankreich, um sich zukünftig mit Philosophie und Antiquitäten zu beschäftigen.
Seitdem musste sich Aron mit einem neuen Chef herumschlagen: Peter Schneider, eingesetzt von PEF, um die Rendite von Huform auf Vordermann zu bringen. Als erste Amtshandlung schaffte Schneider die gleichteilige Mitarbeiterausschüttung ab und wandelte sie in ein Bonussystem für das Management um. Zusätzlich wurden Stellen gestrichen und Leute entlassen. Das übliche Programm.
„Eigentlich geht es uns doch um etwas ganz anderes“, sagte Jan. „Es ist mir egal, ob die Verlagerung der Produktion in ein Billiglohnland gut für die Rendite ist oder nicht. Es geht mir um die Identifikation, um uns, um dich und mich, um Betti und die Jungs an den Maschinen. Bist du noch stolz, wenn du morgens in die Firma kommst? Freust du dich, wenn unser Geschäftsführer im Haus ist?“
Aron gab keine Antwort.
„Ich sage dir was“, fuhr Jan fort. „Wenn wir jetzt nicht die Kurve kriegen und uns etwas einfallen lassen, dann hau ich ab. Ich werde nicht zuschauen, wie das alles hier vor die Hunde geht, was ich mit Hugenbach in 20 Jahren aufgebaut habe. Eigentlich habe ich mir das schon viel zu lange angeschaut. Und du sitzt immer noch da und verteidigst die Investoren und sprichst von Rendite. Klar, das mag ja alles richtig sein, aber wo bleiben wir? Wo ist unsere Rendite?“
„Mein Gehalt hat sich nicht schlecht entwickelt, seit Hugenbach weg ist“, entgegnete Aron trotzig. „Darüber kann ich mich wirklich nicht beklagen.“
„Du nicht, du bekommst ja deinen Bonus. Aber was ist mit den anderen, mit den Jungs und Mädels bei mir unten? Außerdem denke ich dabei nicht nur ans Geld. Ich will mich mit meiner Arbeit identifizieren und sie soll auch einen Sinn haben. Jetzt arbeite ich nur für unsere gierigen Investoren, die sowieso schon randvolle Taschen haben. Verstehst du nicht, was ich meine?“
„Klar verstehe ich, was du meinst, aber die Zeiten ändern sich nun mal.“
„Tun sie das wirklich? Ich glaube, die Menschen haben die Schnauze voll von der reinen Fokussierung auf Rendite. Ich sage dir: Hugenbach war seiner Zeit um Jahre voraus. Das ist es, was wir Schneider beibringen müssen!“
„Sei doch nicht naiv, Jan. Schneider kann doch nicht herummenscheln, wie es ihm gerade passt. Der muss sein Budget erfüllen, sonst ist er weg vom Fenster!“
Jetzt war es Jan, der schwieg.
Aron lenkte ein: „Aber du hast ja Recht. Es wäre mir auch lieber, wenn wir wieder so arbeiten könnten wie unter Hugenbach. So schlecht war die Rendite der Firma damals auch nicht. Ich konnte jedenfalls gut damit leben.“
„Klar, ich auch“, stimmte Jan zu.
Für einen Moment schwiegen beide, dann fuhr Jan fort: „Wir waren durch die Übernahme so eingeschüchtert, dass wir alles gemacht haben, was Schneider von uns verlangt hat. Damit muss jetzt Schluss sein! Es bringt nichts, abzuwarten und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wir müssen die Realität anerkennen. Es wird nicht besser, es wird immer nur schlechter. Wir entfernen uns immer weiter von dem, was uns Spaß und Freude macht. Lass uns innehalten und wirklich überlegen, was wir ändern können.“
„Klingt toll. Aber ich sage dir: solange Schneider das Sagen hat, ändert sich gar nichts“, entgegnete Aron.
„Woher weißt du das? Hast du mal mit ihm darüber gesprochen? Kennst du seine Meinung zu den Dingen? Hast du ihn jemals in eine Diskussion verwickelt?“
„Das ist gar nicht notwendig. Er sagt doch genau an, wo es langgeht. Mit seinen Vorstellungen hat er ja nie hinter den Berg gehalten.“
„Aber hast du ihm mal erklärt, was diese Firma unter Hugenbach ausgemacht hat und warum wir so ein verschworener Haufen waren? Ein Haufen, der ihm bald auseinanderlaufen wird.“
„Nein, hab ich nicht.“
„Dann wäre es vielleicht mal an der Zeit, das zu tun, schließlich bist du am nächsten an ihm dran. Und wenn du es nicht tust, dann tue ich es.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Lass uns jetzt bitte über etwas anderes sprechen.“
„Okay, wie wäre es mit dem Thema Frauen?“ fragte Jan grinsend.
Aron verzog das Gesicht. Warum quälte Jan ihn heute so beharrlich? Er hatte doch sowieso schon ein latent schlechtes Gewissen seinen Kollegen gegenüber. Noch mehr schämte sich Aron aber vor sich selbst. Schneider hatte ihn damit betraut, die Umsetzung der bereits beschlossenen Kostensenkungsprogramme zu kontrollieren und zu verfolgen. Da blieben Konflikte mit der Belegschaft nicht aus. Einige Kollegen hatten ihn bereits als Schergen des Teufels bezeichnet. Aber bisher war der Ärger mit den Kollegen für ihn immer noch das geringere Übel gewesen, verglichen mit der Option, gegen seinen Chef aufzubegehren und seinen Job aufs Spiel zu setzen. Gut tat ihm das allerdings nicht. Aron merkte selbst, dass er so nicht weitermachen konnte, verschob aber die Entscheidung darüber, wie er seine Zukunft bei Huform gestalten wollte, von einem Monat zum nächsten und verdrängte seine Unzufriedenheit. Irgendwie gelang es ihm immer noch, ausreichend zu funktionieren und sein Arbeitspensum einigermaßen unbeschadet herunterzuspulen. Er näherte sich aber einem Punkt, an dem er nicht mehr weitermachen konnte. Jetzt noch einen Kostensenkungsplan gegen seine Kollegen und seine Überzeugung umzusetzen, würde er nicht durchstehen. Aber welche Alternative hatte er? Er musste Zeit gewinnen und in Ruhe darüber nachdenken.
„Lass uns morgen weiterreden“, sagte er. „Ich bin heute nicht gut drauf.“
„Ist okay, ich muss sowieso wieder in die Produktion“, erwiderte Jan. „Aber bitte tu etwas. Gib Schneider endlich Kontra, bevor es zu spät ist.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Versprochen.“
Jan verließ das Büro und Aron blieb regungslos am Besprechungstisch sitzen. Er hörte das Blut in seinem Kopf rauschen. Sein Herz schlug schnell. Was wollten sie nur alle von ihm? War er der Heiland? Er musste hier raus! Er konnte morgen seine Kündigung einreichen, seinen Schreibtisch räumen und drei Monate Urlaub machen. Wer hinderte ihn daran? Aron gefiel die Idee. Sie würde ihn auf einen Schlag von 50 Prozent seiner Sorgen befreien. Jedenfalls vorerst. Aber was sollte er nach dem Urlaub tun? Von irgendetwas musste er schließlich leben. Er verwarf die Idee mit der Kündigung und machte sich daran, die Präsentation für Schneider fertigzustellen, diesmal aber als ungeschönte Version, mit einigen kritischen Kalkulationen zur Produktionsverlagerung. Am nächsten Morgen schickte er die Datei mit zittrigen Fingern ab.
Aron musste bis Freitag auf ein Feedback von Schneider warten. Als er am Nachmittag endlich zu seinem Chef vorgelassen wurde, war er nervös. Doch das Gespräch dauerte nicht einmal fünf Minuten und nahm einen vollkommen unerwarteten Verlauf. Schneider bedankte sich für die Präsentation und kündigte an, nächste Woche mit einer neuen Aufgabe auf Aron zuzukommen, nämlich mit der Vorbereitung eines Verkaufs von Huform. Dann entschuldigte sich Schneider, eilig zum Flughafen aufbrechen zu müssen, und versprach, Aron am Mittwoch nächster Woche über die Beschlüsse der PEF Gesellschafterversammlung zu informieren. Bis dahin solle Aron das Gesagte vertraulich behandeln.
Verwirrt, aber durchaus besser gelaunt als vor dem Gespräch, ging Aron zurück in sein Büro. Eine Weile dachte er über die möglichen Konsequenzen von dem nach, was er da eben erfahren hatte, war aber nicht in der Lage, sich ein klares Bild zu machen. Also rief er Jan an und erzählte ihm von dem wahrscheinlich bevorstehenden Verkauf der Firma. Auch Jan war nicht sicher, ob er die Nachricht positiv oder negativ aufnehmen sollte. Am Ende des Gespräches waren sich dann aber doch beide einig, die Sache als Chance zu betrachten.
Am späten Nachmittag disziplinierte sich Aron, an etwas anderes zu denken, an eine Privatangelegenheit, die ihn am Wochenende beschäftigt hatte. Er zog den Brief des Professors aus der Tasche, der 1977 seinen Vater zu dem Ringversuch über Selbstheilungskräfte eingeladen hatte. Er rief in der Klinik an. Von einer Assistentin erfuhr er, dass Professor Blasius schon lange pensioniert sei, es aber einen Nachfolger gäbe, einen Professor Maximilian Thorn, der allerdings aufgrund einer Dienstreise erst nächste Woche wieder zu sprechen sei. Aron ließ sich die E-Mail-Adresse von Professor Thorn geben und formulierte eine Nachricht, in der er die Ringuntersuchung aus dem Jahr 1977 erwähnte, und dass sein Vater damals dazu eingeladen worden war. Da sein Vater inzwischen nicht mehr lebe, er aber wichtige Erkenntnisse über dessen außerordentliche Selbstheilungskräfte gewonnen habe, wolle er sich gerne mit Professor Thorn über das Thema unterhalten.
Aron las seine Nachricht noch einmal durch und schickte sie zufrieden ab. Bestimmt würden seine Worte die Neugierde des Professors erregen.