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1927: Nora und Luise

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„Ich liebe dich“, sagte Nora und ergriff seine Hand.

Ich liebe dich auch, dachte Robert und schwieg.

Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sie zu küssen. Doch er drückte nur ihre Hand und sah sie schweigend an. Warum musste er sich ausgerechnet jetzt in Nora verlieben, jetzt, da doch alles glatt zu laufen begann und sein Ziel in greifbare Nähe rückte?

Er blickte sie an: „Sehen wir uns morgen?“

Nora verneinte. Sie müsse morgen ihrem Vater in der Praxis helfen und habe daher in der Fabrik ihre Abwesenheit angekündigt.

Robert nickte. Für ihn bedeutete das, morgen in der Fabrik ein Problem weniger zu haben. Trotzdem war er nicht froh darüber. Er mochte Nora wirklich, wahrscheinlich liebte er sie sogar, vom ersten Tag an, als sie ihm vor einem Jahr als neue Mitarbeiterin im Schreibbüro vorgestellt worden war. Er war sofort von ihr fasziniert gewesen, von ihrem außergewöhnlich hübschen Gesicht und dem fast magischen Grün ihrer großen Augen. Von diesem Tag an war er ständig auf der Suche nach Gründen gewesen, im Schreibbüro vorbeizuschauen. Aber Nora hatte auch etwas rätselhaftes an sich, dass ihn verunsicherte. Und musste sie mit 35 Jahren nicht längst verheiratet sein?

Diese Frage war aber nicht der einzige Grund, warum es Robert schwer fiel, sich seine Liebe zu Nora einzugestehen. Er hatte schlichtweg andere Pläne. Seit er vor zwei Jahren als Konstruktionsleiter bei der Fabrik für Chirurgische Instrumente von Theodor Haug in Heidelberg angefangen hatte, war es für ihn sehr gut gelaufen. Er verstand sich von Beginn an ausgezeichnet mit Herrn Haug und erfuhr jegliche Art der Förderung. Das betraf auch sein Privatleben, denn Theodor Haug schritt nicht ein, als sich dessen Tochter Luise, die potenzielle Alleinerbin der Fabrik, in Robert verliebte. Das war vor ungefähr einem Jahr passiert, schicksalhafter Weise zur gleichen Zeit, zu der er auch Nora kennengelernt hatte. Luise war Aron scheinbar zufällig auf dem Gang vor Haugs Büro über den Weg gelaufen. Sie hatte ihn ohne Umstände angesprochen und gefragt, ob er der Konstruktionsleiter sei, über den Vater zu Hause so viel Positives erzählen würde. Robert hatte verlegen reagiert, auch weil er sofort gespürt hatte, dass er der Tochter seines Chefs gefiel. Zwar war sie nicht unbedingt sein Typ, aber sie war jung, klug, humorvoll und wohlhabend. Vier gute Gründe, ihr Interesse nicht zu ignorieren. Außerdem war sie sehr ehrgeizig. Luise hatte in Rekordzeit an der Universität Heidelberg Jura studiert und anschließend eine Anstellung in der größten Kanzlei Heidelbergs angenommen. Nebenbei half sie ihrem Vater in der Fabrik bei strategischen und juristischen Fragen. Robert war beeindruckt von ihrer Zielstrebigkeit und Energie. Sie war eindeutig eine gute Partie und sie wurde ihm auf dem Silbertablett präsentiert. Und doch vergingen nach ihrem ersten Treffen im Gang vor Haugs Büro sechs Monate, bis sie sich zum ersten Mal küssten. Kurz darauf folgte eine Einladung zum Abendessen in das Privathaus von Familie Haug, und seit jenem Abend stand eine Heirat zwischen Luise und Robert unausgesprochen im Raum. Vater Haug strahlte aus jeder Pore den Wunsch aus, Robert möge seiner Tochter endlich einen Heiratsantrag machen und damit zum Firmenchef in spe aufsteigen. Ein reizvoller Ausblick, der Robert nah an sein Ziel herankatapultierte, sich und seiner Mutter zu beweisen, dass er doch kein Schwächling und Versager war, wie sein Vater immer behauptet hatte.

Allerdings ging Robert seit einem halben Jahr auch mit Nora Losberg aus. Bislang war es dabei noch nicht zum Austausch von Zärtlichkeiten gekommen, aber Nora hatte offensichtlich vor, das zu ändern und ihre Beziehung auf eine verbindlichere Basis zu stellen. Sie war von Anfang an sehr zielstrebig vorgegangen und hatte Robert schon bald mit ihrer Familie bekannt gemacht. So hatte er bei einem gemeinsamen Abendessen in einer Heidelberger Gaststätte auch Noras Vater kennengelernt, einen Psychologen, der im eigenen Haus eine kleine Praxis betrieb. Robert war beeindruckt gewesen von der warmen Ausstrahlung dieses Mannes. Die ganze Familie war an jenem Abend sehr herzlich und liebevoll gewesen, auch im Umgang untereinander. Noras Eltern schienen vollkommen zufrieden und glücklich zu sein mit sich und ihrem Leben. Gleiches galt im Prinzip auch für Nora, allerdings glaubte Robert in ihren Augen den Hauch eines Schattens erkennen zu können, so als wäre da eine tief sitzende Furcht vor einer ungewissen Zukunft. Oder war es seine eigene Unsicherheit, die sich in ihren Augen spiegelte?

Robert spürte, dass es Zeit wurde, eine Entscheidung zu treffen. Vom Verstand her tendierte er zu Luise, sein Unterbewusstsein schüttete jedoch jedes Mal Glückshormone aus, wenn er sich mit Nora traf. Robert versuchte regelmäßig diese Gefühlswallungen in Schach zu halten, denn sein Verstand erhielt tatkräftige Unterstützung von seiner Mutter, die sich dafür aussprach, Robert möge sich durch eine Heirat mit Luise Zugriff auf einen Teil des Haugschen Vermögens sichern, und so die Scharte des eigenen verschenkten Familienerbes auswetzen.

Erschwerend kam hinzu, dass es in der Fabrik erste Gerüchte gab, Nora würde Robert nachstellen. Luises Vater hatte ihn daraufhin in seiner unnachahmlichen Art aufgefordert, seinen Schreibtisch in Ordnung zu halten und sich zu entscheiden, mit welchem Füllfederhalter er in Zukunft schreiben wolle. Ein klares Signal.

Und die Lage sollte sich offenbar noch weiter zuspitzen, denn während Robert all dies durch den Kopf ging, sprach Nora für Samstag eine Einladung zum Abendessen im Kreise ihrer Familie aus. Das brachte ihn durchaus in Bedrängnis, war er doch für Sonntag bereits bei Familie Haug zum Abendessen eingeladen. Sollte er sich wirklich einem derart aufwühlendem Wochenende aussetzen?

Nora bemerkte sein Zögern und senkte den Kopf. Leise sagte sie: „Wenn du nicht möchtest, dann sag es mir bitte. Sag es klar und deutlich. Bitte verletze mich nicht mit einer Ausrede.“

„Ich werde kommen“, sagte er mit fester Stimme. Es wurde Zeit für eine Entscheidung.

Der Traum

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