Читать книгу Der Traum - Andreas Kessler - Страница 9
13.12.2011: Marie
ОглавлениеAls Aron am Dienstagabend seinen Wagen auf den Parkplatz vor der Spielbank lenkte, war dort noch nicht viel los. Er parkte nahe am Eingang und sah sich um. Vor dem Gebäude war niemand zu sehen. Entweder war Marie Hauswald noch nicht da oder sie wartete drinnen auf ihn. Zügigen Schrittes betrat er den Eingangsbereich des Casinos. Er erblickte sie sofort. Eine elegante Frau in einem langen Wollmantel, die ihm erkennend zunickte. Ihre kastanienfarbenen Haare trug sie kunstvoll hochgesteckt. Frisur und Haarfarbe betonten ihre ungewöhnlich großen grünen Augen, die bereits von ein paar zarten Fältchen umspielt wurden, als sie lächelte und ihm die Hand reichte. Kein Zweifel: Das Mädchen von dem Foto, inzwischen 30 Jahre älter. Aron war wie elektrisiert. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, diese Situation schon einmal erlebt zu haben.
„Guten Abend, Herr Breuer, es freut mich, Sie kennenzulernen.“
Ihr Händedruck war warm und verbindlich.
„Guten Abend, Frau Hauswald, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hoffe, Sie mussten nicht lange warten.“
„Nein, keine Sorge, ich bin auch eben erst gekommen. Es ist ja heute nicht viel los hier draußen.“
„Sind Sie denn häufiger hier?“, fragte Aron.
„Ja, eigentlich jede Woche.“
Er schaute sie überrascht an. Wie eine Spielsüchtige sah diese Frau nicht aus. Vielmehr machte sie einen sehr intellektuellen Eindruck auf Aron.
Marie Hauswald schien seine Gedanken zu erraten, denn sie lächelte beschwichtigend. „Keine Angst, meine Besuche sind nicht pathologisch veranlasst. Ich bin beruflich hier.“
„Ein Job in der Spielbank? Sie machen mich neugierig.“
„Ich erzähle es Ihnen sofort. Lassen Sie uns erstmal reingehen.“
Während sie an der Kasse ihre Ausweise vorzeigten und den Eintritt bezahlten, hatte er Gelegenheit, Marie Hauswald unauffällig etwas genauer anzuschauen. Sie war wirklich außergewöhnlich hübsch. Ihre grazilen Bewegungen waren von einer natürlichen Eleganz, wie er sie sonst nur aus dem Fernsehen kannte, von herausragenden Schauspielerinnen oder Haute Couture Models. Aron hatte Mühe, sie nicht anzustarren. Er zwang sich, cool zu bleiben und so zu tun, als sei es für ihn alltäglich, mit attraktiven Frauen auszugehen.
Dann betraten sie den Spielsalon. Marie Hauswald ging zielsicher auf die Bar zu. „Was möchten Sie trinken?“
Aron überlegte einen Moment und entschied sich dann für ein Bier. Marie Hauswald bestellte für beide. Sie hatte wie selbstverständlich die Führung übernommen - und er ließ sie gewähren, denn sie strahlte eine natürliche Autorität aus. Dabei wirkte sie auf Aron in keiner Weise streng oder dominant, eher wie eine sehr zufriedene Person, die genau weiß, wo ihr Platz im Leben ist. Ihre Ausstrahlung faszinierte Aron, und obwohl sie noch nicht viel gesprochen hatten, spürte er bereits, es mit einer außergewöhnlichen Frau zu tun zu haben.
„Schön, dass es so kurzfristig mit unserem Treffen geklappt hat“, sagte er etwas hölzern.
„Das freut mich auch, Aron. Ich darf doch Aron sagen?“
Er warf ihr einen schüchternen Blick zu. „Kein Problem, Sie haben mich ja schon als Kind gekannt.“
„Wenn es dir nichts ausmacht, können wir uns gerne duzen. Früher haben wir auch du zueinander gesagt.“
„Einverstanden“, erwiderte er. „Kannst du dich denn an damals erinnern?“
„Ja, ziemlich gut sogar.“
„Ich habe kaum Erinnerungen an diese Zeit. Du kommst mir zwar irgendwie bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns gesehen haben.“
„Kein Wunder“, erwiderte sie. „Wir haben uns nicht oft gesehen. Ich habe vielleicht zwei- oder dreimal auf dich aufgepasst, wenn deine Eltern ins Kino gegangen sind, aber da warst du höchstens fünf Jahre alt, vielleicht auch sechs.“
Aron überlegte, ob es unhöflich wäre, das Gespräch jetzt schon auf seinen Vater zu lenken - er entschied sich aber, lieber ihr die Initiative zu überlassen.
Marie nahm einen Schluck Bier und drehte sich zu den Spieltischen um. Aron folgte ihrem Blick. Das Casino war nicht gut besucht. Höchstens fünfzehn Spieler standen um die Tische herum. Es herrschte eine fast gespenstische Stille. Niemand sprach und die Croupiers verrichteten ihren Job nahezu geräuschlos. An der Bar waren sie allein. Dann fragte Marie: „Spielst du Roulette?“
„Sehr selten“, antwortete Aron. „Während des Studiums bin ich ein paar Mal hier gewesen, aber ich habe immer meinen gesamten Einsatz verloren. Das war nicht besonders motivierend.“
Marie lächelte. „Mit welcher Erwartung hast du gespielt?“
„Mit keiner. Ich bin eigentlich nur mitgegangen, weil meine Freunde mich überredet haben und ich die Atmosphäre in der Spielbank mag. Es macht mir Spaß, die Spieler zu beobachten und ihre Spielweise zu ergründen. Das Geld war mir eigentlich egal. Beim Glücksspiel muss man den Verlust vorher schon einplanen, sonst ärgert man sich nur.“
„Und am Ende gewinnt sowieso immer die Bank!“
„Genau“, sagte Aron und lächelte. „Aber du wolltest mir erzählen, was dich jede Woche in die Spielbank führt.“
„Ich mache das beruflich“, sagte Marie und genoss den fragenden Ausdruck in Arons Augen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese elegant und intellektuell aussehende Frau in der Spielbank arbeitet. Da Marie keine Anstalten machte, weiterzusprechen, fragte er: „Du arbeitest hier in der Verwaltung?“
„Null Punkte.“
„Dann bist du die Geschäftsführerin?“
„Null Punkte.“
„An der Kasse?“
„Schon eher, allerdings nicht auf der Seite der Kasse, die du meinst.“
Aron schaute sie aufmerksam an. Um ihre großen grünen Augen bildeten sich wieder diese feinen Fältchen, als sie ihn triumphierend anlächelte.
„Also bist du eine professionelle Spielerin“, spekulierte er weiter, ohne es wirklich ernst zu meinen.
„So könnte man das sagen“, bestätigte Marie. „Ich finanziere einen Teil meiner Lebenshaltungskosten durch Spielbankgewinne.“
Aron blickte sie ungläubig an. Marie schien zu spüren, was er dachte, denn sie fügte schnell hinzu: „Zusätzlich arbeite ich noch dreimal pro Woche als Kellnerin.“
Also doch eine Süchtige, dachte Aron. Nächtelang in der Kneipe jobben, um sich die Spielsucht zu finanzieren. Er verkniff sich einen Kommentar und fragte: „Du kannst von Spielbankgewinnen und einem Drei-Tage-Job leben, und das in Heidelberg?“
„Ich brauche nicht viel. Das Teuerste an meinem Leben ist meine kleine Wohnung mit Schlossblick - und ab und zu ein paar schöne Klamotten.“
Es fiel ihm als Finanzmann nicht schwer, schnell eine Hochrechnung aufzustellen. Mit dem Job als Kellnerin konnte sie vielleicht gerade die Wohnung bezahlen, wenn überhaupt. Alle anderen Ausgaben musste sie also mit Spielbankgewinnen finanzieren. War so etwas möglich, oder bezog sie noch aus einer anderen Quelle Geld, vielleicht Unterhalt von einem Ex-Mann?
„Spielst du ein System?“, fragte Aron. „Ein Kommilitone von mir hat mir einmal erzählt, es gäbe sichere Systeme, mit denen man langfristig Gewinne erzielen kann.“
„Ja, ich spiele ein System. Aber ich glaube nicht, dass es eines der Systeme ist, die dein Kommilitone gemeint hat, denn die funktionieren nicht.“
„Was für ein System spielst du dann?“, fragte er weiter.
„Da musst du schon selbst drauf kommen. Kein Pilzsammler verrät anderen den Ort, an dem er Steinpilze findet.“
Aron lachte. Sie prosteten sich zu und dann wechselte er zu einem anderen Thema, dass ihn in den letzten Tagen beschäftigt hatte. „Was hat dich eigentlich nach Heidelberg verschlagen? Für jemand aus Köln ist es ja nicht gerade naheliegend, in eine Kleinstadt zu ziehen.“
„So klein ist Heidelberg auch nicht, außerdem finde ich es sehr gemütlich hier. Ich habe wohl eine romantische Ader.“
„Und seit wann wohnst du hier?“
„Ich bin vor zehn Jahren hierher gezogen.“
„So ein Zufall, ich auch! Vor genau zehn Jahren. Darauf müssen wir anstoßen!“
Sie erhoben erneut ihre Gläser und schauten sich in die Augen. Dann sagte Marie: „Komm, Aron, lass uns ein paar Runden spielen. Anschließend unterhalten wir uns über deinen Vater.“
Sie gingen zur Kasse. Marie tauschte 200 Euro ein. Aron war vorsichtiger. Er hatte sich für diesen Abend ein Limit von 50 Euro gesetzt, mehr wollte er nicht aufs Spiel setzen.
Sie gingen zu den Spieltischen hinüber und Aron überprüfte, ob es an einem der Tische eine Serie gab. Überall waren schwarze und rote, gerade und ungerade Zahlen in unauffälliger Abfolge aufgetreten. Er musste also noch etwas warten und beschloss, zunächst Marie beim Spielen zuzusehen. Sie setzte auch auf die einfachen Chancen, schien aber nicht systematisch vorzugehen, denn sie spielte manchmal mit und manchmal gegen die Bank. Marie setzte grundsätzlich sehr spät, immer erst kurz bevor das Spiel geschlossen wurde, aber das machten andere Spieler auch. Sonst fiel ihm an ihrer Spielweise nichts Besonderes auf. Sie gewann zwar mehr als sie verlor, aber das schien eher Zufall zu sein.
Dann ging Aron zu einem Tisch, an dem bereits fünfmal hintereinander ungerade Zahlen gekommen waren. Er setzte fünf Euro auf „Pair“. Marie folgte ihm und meinte, das sei keine gute Idee. Die Kugel fiel auf die Sieben und Aron war um fünf Euro ärmer. Aber jetzt war die statistische Wahrscheinlichkeit für eine gerade Zahl noch größer geworden und Aron verdoppelte den Einsatz, um seinen vorhergehenden Verlust kompensieren zu können. Die Kugel blieb auf der 23 liegen. Wieder nichts. Marie fragte mit süffisantem Ton, ob er nun wieder verdoppeln wolle. Aron wurde mulmig, aber er wollte sich keine Blöße geben und legte 20 Euro auf „Pair“. Dann wartete er gebannt darauf, dass die Kugel rollte. Sie tanzte über den Zahlenkranz und fiel schließlich auf die 13. Nach nur drei Runden hatte Aron 35 Euro verspielt. Jetzt konnte er nicht einmal mehr verdoppeln.
„Einmal versuche ich es noch, diesmal muss eine gerade Zahl kommen“, sagte er und legte 10 Euro auf „Pair“.
„Das wird nichts!“, prophezeite Marie, als die Kugel rollte. „Hör auf damit, dein System kann nicht funktionieren!“
Marie sollte Recht behalten. Ärgerlich schaute Aron zu, wie seine 10 Euro vom Tisch geräumt wurden. Er wollte gerade seine letzten fünf Euro auf „Pair“ setzen, da hielt ihn Marie am Arm fest. „Mach mal eine Pause. Es wäre doch schade, wenn unser Spiel schon zu Ende wäre!“
Aron zögerte einen Moment, dann steckte er den Chip wieder in seine Jackettasche. Sie beobachteten die weitere Zahlenfolge: 1, 15, 20.
„Mit der Verdopplungsstrategie kommst du nicht weit!“, sagte Marie. „Solche Serien laufen oft viel länger, als du dir vorstellen kannst, und häufig wird dann auch noch mitten in eine Serie hinein der Tisch geschlossen. Und was machst du dann?“
Aron war ziemlich kleinlaut geworden. „Das ist mir schon klar“, sagte er. „Aber irgendeinen Anhaltspunkt brauche ich, um zu setzen. Einfach aus dem Bauch heraus ist es mir zu langweilig, da kann ich ja gleich eine Münze werfen.“
„Versuch mal mein System!“, sagte Marie.
„Okay, wenn du es mir zeigst“, erwiderte Aron, ohne es wirklich ernst zu meinen. Er hatte Marie vorhin beobachtet und kein System erkennen können.
Sie schob Aron an einen Tisch heran und sagte: „Warte, bis ich dir die Zahl nenne, und dann setzt du alles oder nichts! Wenn es schief geht, bekommst du die fünf Euro von mir zurück.“
Aron nickte, und kurz bevor der Croupier das Spiel schloss, flüsterte Marie: „Neun.“ Aron legte schnell seinen Chip auf die verwaiste Neun und schaute gebannt auf die Kugel, die sich auf einer immer enger werdenden Umlaufbahn dem Zahlenkranz näherte. Und dann traute er seinen Augen nicht. Das konnte nicht sein! Die Kugel fiel auf Neun, rot! Aron schaute Marie fassungslos an. Marie grinste.
„Das war Glück! Gib zu, dass das Glück war!“, entfuhr es ihm.
„Denk, was du willst, Aron. Hauptsache, du bist wieder im Spiel.“
Aron nahm seinen Gewinn von 175 Euro entgegen. Ein älterer Mann, der schon bei der langen Serie von ungeraden Zahlen viel Geld verloren hatte, raunte Aron zu, er hätte wohl heute seinen Glückstag. Aron nickte nur und sagte an Marie gerichtet, er brauche jetzt erstmal eine Pause und einen Drink.
Sie setzten sich wieder an die Bar und Aron bestellte zwei Gläser Rotwein.
„Danke, Marie, da hast du mir eben wirklich Glück gebracht. Wenn du mich beeindrucken wolltest, hättest du es nicht besser anstellen können.“
Marie strahlte Aron an. „Dein Gesicht war einfach herrlich, als die Kugel auf der Neun zum Liegen kam.“
„Das war aber Glück, oder hast du ein besonderes Verhältnis zum Croupier?“, fragte er scherzhaft und zwinkerte ihr zu.
„Wir können das beliebig oft wiederholen, allerdings käme ich dann bald in keine Spielbank mehr rein. Ich muss mein System sehr behutsam einsetzen!“
Aron glaubte immer noch an einen Scherz, Marie schien es aber vollkommen ernst zu meinen, denn sie verzog keine Miene.
„Ich habe dir vorhin beim Setzen zugesehen“, sagte er. „Du spielst gar kein System und du hast mehrmals verloren. Die Neun war also reines Glück.“
„So, glaubst du? Dann schau jetzt mal genau hin! Achte einfach auf meine Finger.“
Sie stand auf und ging zum nächsten Spieltisch hinüber. Kurz bevor der Croupier die Kugel beschleunigte, zeigte Marie hinter ihrem Rücken unauffällig das Victory-Zeichen. Aron sah kurz darauf, wie auf der Anzeigetafel über dem Spieltisch die Zwei angezeigt wurde. Was, zum Teufel, geht hier vor, dachte er, während er Marie zu einem anderen Tisch gehen sah. Im nächsten Moment winkte sie ihn heran. Er stand auf und ging rüber zu ihr. Sie raunte ihm ins Ohr: „Neunundzwanzig.“
Fassungslos sah Aron, wie die Kugel auf der 29 zum Liegen kam. Sie probierten es noch an einem weiteren Tisch und wieder sagte Marie die richtige Zahl voraus. Es gab keinen Zweifel, sie konnte die Zahlen vorhersagen. Entweder war Marie eine Hellseherin oder sie gehörte zur Mafia und stand in engem Kontakt mit den Croupiers. Letzteres erschien im wahrscheinlicher.
„Marie, du bist sensationell! Wie machst du das?“
Aron war vollkommen aufgelöst. Die anderen Gäste schauten schon zu ihnen herüber. Marie ermahnte ihn, sich zu beruhigen.
„Bleib cool, Aron. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Ich habe einfach ein gutes System. Es ist unfehlbar.“
„Was für ein System?“ Aron war immer noch ziemlich aufgeregt. „Marie, bitte, sag mir, wie du das machst!“
„Finde dich einfach damit ab, dass ich die Zahlen vorhersagen kann. Eine tolle Gabe, nicht wahr?“
Aron musste sich beruhigen und nachdenken. Konnte es wirklich sein, was er da eben gesehen hatte? Er schaute sich im Raum um. Ist es möglich, dass hier mit falschen Karten gespielt wird, fragte er sich. Könnte es sein, dass Marie die gesamte Zahlenfolge der Tische kennt oder der Croupier ihr die Zahl vorher anzeigt? Das wäre ja kriminell! Er blickte Marie an. Wie eine von der Mafia sah sie nicht aus.
„Marie, wenn du mir deinen Trick nicht verrätst, dann muss ich davon ausgehen, dass hier mit falschen Karten gespielt wird“, sagte er in einem fast ärgerlichen Ton, der ihm im selben Moment auch schon leid tat.
„Willst du mir drohen?“, fragte Marie belustigt.
„Natürlich nicht, aber bitte versetze dich in meine Lage. Was würdest du denn denken, an meiner Stelle?“
„Ich würde denken, dass du einen Trick gefunden hast, die Zahlen zu erkennen, bevor andere sie sehen können.“
Aron dachte einen Moment über das Gesagte nach. Dann fragte er: „Kannst du die Zeit verändern? Hast du so was wie eine Zeitmaschine, die es dir erlaubt, eine Minute in die Zukunft zu schauen?“
Aron fand die Idee originell, auch wenn er sie aus einem alten Kinofilm geklaut hatte. Marie lachte. „Ja, das wäre eine tolle Sache, aber die Zeit kann ich leider noch nicht verändern. Vielleicht gelingt mir das eines Tages.“
„Jetzt mal im Ernst, Marie. Du spielst doch nicht etwa mit den Croupiers ein falsches Spiel? In so etwas möchte ich nicht hineingezogen werden. Falls das der Fall ist, sag es mir bitte. Dann gehe ich lieber und wir treffen uns morgen in Heidelberg und reden weiter.“
„So ein Quatsch, Aron. Das glaubst du doch nicht wirklich.“
„Natürlich glaube ich das nicht, aber ein bisschen unheimlich bist du mir jetzt schon. Oder bist du eine Hellseherin?“
„Na ja, vielleicht bin ich wirklich so etwas wie eine Hellseherin. Aber wenn man es mal ganz nüchtern betrachtet, ist es doch gar nicht so verwunderlich, dass ich die Zahlen vorhersagen kann.“
„Warum das? Ich finde es sensationell. Ich kenne niemand, der so etwas kann. Und wenn es jemand gäbe, dann wäre diese Person längst auf den Cayman Islands - oder an sonst einem Ort, wo man sein Geld verstecken kann.“
Marie schmunzelte und Aron fuhr fort: „Jedenfalls würde diese Person nicht in Heidelberg wohnen und sich in der Kneipe abrackern. Da stimmt doch etwas nicht! Deine Geschichte ist unglaubwürdig!“
„Für dich vielleicht, weil du dir nicht vorstellen kannst, dass es Menschen gibt, die es nicht aufs Geld abgesehen haben. Aber mich interessiert Geld nicht. Ich interessiere mich für die Menschen und die Gesetze des Universums.“ Marie fiel es sichtlich schwer, ernst zu bleiben bei dieser Aussage. Auch Aron musste grinsen.
Dann verschwand das Lächeln wieder aus ihrem Gesicht und sie fuhr fort: „Aber mal ehrlich, Aron. Um Geld geht es mir nicht im Leben. Davon habe ich immer genau so viel, wie ich brauche. Dafür tue ich nichts, worauf ich keine Lust habe. Und die Gesetze des Universums beschäftigen mich wirklich, und dich sollten sie auch interessieren, jedenfalls wenn du dahinterkommen willst, wie ich die Zahlen vorhersagen kann.“
„Aber Marie, kein Wissenschaftler arbeitet an der Frage, welchem Gesetz die Zahlenfolge beim Roulette unterworfen ist. Das macht keinen Sinn. Man kann nicht vorhersagen, mit welcher Kraft der Croupier die Kugel werfen und mit welchem Drehmoment er den Teller in Rotation versetzen wird. Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“
„Und doch hast du eben erlebt, dass es möglich ist. Hast du mal darüber nachgedacht, warum dir unsere Lehrer in der Schule genau sagen können, dass jede Zahl etwa gleich oft kommt, wenn wir die Kugel eine Milliarde Mal werfen? Wie ist das möglich? Entweder ist jeder Wurf Zufall oder keiner. Wie kann eine unendliche Anzahl von zufälligen Ereignissen ein vorhersehbares Ergebnis liefern?“
„Warum? Es ist doch nur logisch, dass alle Zahlen etwa gleich oft kommen, jedenfalls wenn der Croupier nicht manipuliert und der Zahlenkranz keine Unwucht oder sonstige Unregelmäßigkeiten aufweist.“
Marie ignorierte seinen Einwand und fuhr unbeeindruckt fort: „Stell dir eine Zeit vor, in der die Menschen noch keine Ahnung von den Bewegungen des Sonnensystems und der Sterne hatten. Was sie nachts am Himmel sahen, musste ihnen wie ein zufällig zusammengestelltes Bild erscheinen. Es sah jeden Tag anders aus, und wenn jemand von sich behauptet hätte, er wüsste, wie der Sternenhimmel morgen aussieht, so wäre er verstoßen worden. Oder betrachte mal die Geschichte der Quantenphysik. Vor 150 Jahren glaubten die Menschen, bereits alles über die Physik der Materie zu wissen. Max Planck sollte nach dem Wunsch seines Vaters lieber Pianist werden, weil es in der Physik nichts Neues mehr zu entdecken gäbe. Er wurde trotzdem Physiker, gelangte zu beachtlichen Erkenntnissen und gilt quasi als der Begründer der Quantenphysik, eines Teilgebietes der Physik, das sich anschickt, unser bisheriges Wissen über die Grundlage aller Materie und das Universum zu verändern. Heute sprechen die Physiker nicht mehr davon, in Kürze ihr Werk vollendet zu haben. Im Gegenteil: Mehr denn je zeichnet sich ab, dass sie fast gar nichts wirklich verstehen, wenn sie tiefer in die Bestandteile der Materie hineinblicken. Wir stehen mit unserem Verständnis über die Wirklichkeit oder das, was wir für die Wirklichkeit halten, erst am Anfang. Es wundert mich daher nicht, dass wir noch keine Ahnung davon haben, wie die Abfolge der Zahlen in der Spielbank bestimmt werden kann. Aber eines Tages wird es keine Spielbanken mehr geben, weil die Menschen hinter das Gesetz gekommen sind. Glaubst du nicht?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Bisher ist es niemandem gelungen, und mir fehlt der Glaube, dass es irgendwann möglich sein wird.“
„Es ist heute schon möglich. Du hast es eben erlebt.“
Aron schaute Marie nachdenklich an. Er musste zugeben, dass ihre Argumentation in Verbindung mit der vorausgegangenen praktischen Demonstration Eindruck auf ihn machte.
„Du sagst also, dass wir die Zahlen nur deshalb nicht vorhersagen können, weil wir die Gesetze dahinter nicht kennen?“, fragte er.
„Genau. Aber eines Tages werden wir die Gesetze verstehen, und dann wird die Beobachtung oder Ausnutzung ihrer Effekte nichts Aufregendes mehr sein. Glücksspiele werden von einem Tag auf den anderen verschwinden.“
„Das wird nicht passieren“, entgegnete Aron. „Ich glaube nämlich, dass das Gesetz bereits bekannt ist. Wenn man genau wüsste, mit welcher Kraft der Croupier in welchem Winkel die Kugel werfen wird, und man die Reibung, die Neigung der Schale sowie alle anderen physikalischen Randbedingungen genau definieren könnte, dann wäre es möglich, genau vorherzusagen, wo die Kugel zum Liegen kommen wird. Man könnte ein mathematisches Modell mit den Randbedingungen und Variablen füttern und es würde das genaue Ergebnis ausspucken. Nur kennt keiner alle Randbedingungen, denn man kann nicht vorhersagen, mit welcher Kraft der Croupier werfen wird.“
„Genau. Deine Berechnung ist daher graue Theorie. Und trotzdem kenne ich die Zahlen! Die Zahl steht fest, bevor der Croupier wirft. Die Kraft, mit der er die Kugel wirft, ist also nicht die Ursache für das eintretende Ergebnis, sondern die Folge.“
„Die Zahl steht fest, bevor der Croupier wirft?“
„Natürlich! Hast du mich nicht beim Spielen beobachtet? Wie soll ich gewinnen, wenn ich nicht setze, bevor der Croupier wirft?“
„Logisch, aber für mich schwer vorstellbar. Bevor ich das glauben kann, müssten wir ein paar Experimente durchführen. Kannst du zum Beispiel die Zahl auch vorhersagen, wenn der Croupier gar nicht werfen wird? Er könnte einen Herzstillstand erleiden oder die Kugel könnte ihm aus der Hand fallen und unter den Tisch rollen. Und während er auf dem Boden herumkrabbelt, um sie aufzuheben, stiehlt jemand den Teller und rennt damit davon. Hast du das dann auch vorhergesehen?“
Marie grinste. „Super Frage! Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das wäre wirklich ein tolles Experiment. Lass uns das mal zu Hause probieren. In der Spielbank habe ich so was noch nie erlebt.“
„Dann behauptest du also im Ernst, die Regeln verstanden zu haben, welche die Zahlenfolge in der Spielbank bestimmen?“, fragte Aron, jetzt wieder ernsthafter.
„Ja.“
Aron schaute Marie herausfordernd an. „Und diese Regeln willst du mir natürlich nicht erklären, stimmt’s?“
„Genau, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht irgendwann, wenn wir uns besser kennengelernt haben und ich mir sicher sein kann, dass du mich nicht verrätst.“
„Aber ich könnte dich doch jetzt schon verraten“, sagte Aron und schaute Marie aufreizend an.
„Ach was!“, entgegnete sie lachend. „Keiner würde dir glauben.“
Aron überlegte, ob er aufgeben sollte, doch dann fiel ihm ein, was er zu Beginn ihres Spiels beobachtet hatte.
„Du hast vorhin auch einige Runden verloren, so unfehlbar scheint dein System also nicht zu sein.“
„Ja, natürlich verliere ich ab und an. Mit Absicht. Meinst du, ich will hier auffallen? Wie ich schon sagte, muss man behutsam vorgehen, wenn man ein Geheimnis zu hüten hat.“
Aron lächelte und schaute Marie lange in die Augen. Was war das nur für eine Frau? Marie schien abermals zu spüren, was er dachte.
„Aron, bitte mach keine so große Sache daraus. Es ist für dich nur einfach ungewohnt, was du eben erlebt hast.“
„Keine große Sache? Du bist gut. Hast du eine Ahnung, was andere Menschen darum gäben, deine Fähigkeit zu besitzen?“
„Ja, schon klar, aber das ist dumm! Jeder hat im Prinzip diese Fähigkeit, aber nur wenige wenden sie an.“
„Das glaube ich nicht. Jeder Mensch mit derartig hellseherischen Fähigkeiten würde sie anwenden.“
„Dann lass es mich anders formulieren: Warum, glaubst du, sind die Menschen so scharf darauf, die Roulette-Zahlen vorhersagen zu können?“
„Aber das ist doch klar! Sie wollen einen finanziellen Vorteil daraus ziehen.“
„Und warum?“
„Na ja, Geld kann man doch nie genug haben, oder?“
„Warum? Wofür brauchen die Menschen das Geld?“
„Um sich ihre Träume zu verwirklichen. Ein großes Haus kaufen, ein tolles Auto, einen schönen Urlaub. Solche Dinge eben. Das weißt du doch selbst. In vielen Fällen könnte es auch helfen, echte Not zu lindern. Viele Menschen leben in bitterer Armut. Muss ich dir das wirklich erklären?“
„Ich möchte nur, dass du dir darüber klar wirst, warum die Menschen das Geld haben wollen. Du denkst, sie wollen sich Dinge kaufen oder ihre Not lindern?“
„Ja, natürlich. Und sie wollen unabhängig sein, nicht mehr arbeiten müssen, keinen Chef haben, machen, was sie wollen.“
„Und das können sie ohne Geld nicht tun?“
„Nein. In unserer Welt ist man ohne Geld gar nichts. Marie, stell dich doch nicht so naiv! Sag mir lieber, worauf du hinauswillst.“
„Ich will darauf hinaus, dass nicht das Geld am Anfang steht, sondern das Verlangen nach etwas, das man machen möchte und sich wünscht.“
„Ja, aber das ist doch klar. Nur haben die meisten Menschen eben nicht genug Geld, um sich ihre Wünsche zu erfüllen.“
„Gut, Aron, dann sag mir doch mal, was du machen würdest, wenn du Geld hättest, ich meine richtig viel Geld.“
Aron musste einen Moment nachdenken. Die gute alte Lottofrage.
„Wenn ich eine Million hätte, dann würde ich sofort bei meiner Firma aufhören und selbst ein Unternehmen gründen. Oder gib mir 10 Millionen, dann kaufe ich unsere Firma und mache daraus ein Unternehmen, wie es früher einmal war.“
„Verstehe. Du hättest also gerne ein eigenes Unternehmen, das du nach deinen eigenen Regeln führen kannst.“
„Klingt doch gut, oder?“
„Und warum hast du keines?“
„Sagte ich doch eben. Weil ich nicht genug Geld habe. Ich hatte bisher im Leben nicht besonders viel Glück mit Geld. Nicht, dass es mir schlecht ginge, aber für wirklich große Sprünge reicht es nicht.“
„Das glaube ich dir nicht. Ich denke eher, dass du kein eigenes Unternehmen hast, weil du dich nicht auf den Weg gemacht hast, eines zu besitzen. Du benutzt das Geld als Alibi, dein bisheriges Versagen in Bezug auf deine Zielerreichung zu erklären.“
Aron rutschte unbehaglich auf seinem Barhocker hin und her. Marie hatte ihn genau getroffen. Er ärgerte sich über ihre direkte Art, wusste aber nichts zu entgegnen.
„Entschuldige, Aron, bitte nimm es nicht persönlich. Ich habe das nur so deutlich gesagt, damit du verstehst, was ich meine. In unserer Gesellschaft ist das Gerede von Glück und Pech und fehlendem Geld meiner Meinung nach eine Ausrede der Menschen, weil sie nicht wissen, was sie wirklich wollen. Sie lassen sich einfach treiben und treffen keine Entscheidungen. Das Schicksal trifft die Entscheidungen für sie. Es geht aber auch anders. Es gibt Menschen, die wissen, wohin sie wollen. Sie arbeiten mit positiven Gedanken an der Verwirklichung ihrer Ziele. Auf andere wirken diese Menschen, als fiele ihnen alles in den Schoß, oder, wie du es nennen würdest: Sie haben Glück, sie sind vom Zufall begünstigt, weil ihnen die Dinge zufallen. In Wahrheit glauben sie nur tief in ihrem Inneren daran, das Erstrebte zu verdienen. Ihr Glaube versetzt für sie Berge.“
Aron musste an seinen alten Schulfreund Tom Hanke denken, den er schon länger nicht mehr gesehen hatte und der mit 22 Jahren in die USA ausgewandert war. Schon zu Schulzeiten hatte er prophezeit, einmal sehr reich zu werden. Der Weg dahin war ihm vollkommen egal, er sagte nur, er wolle eines Tages im Geld baden können. Aron sah noch das Bild aus einem Donald-Duck-Heft vor sich, das sein Freund über das Bett gehängt hatte. Darauf war Onkel Dagobert zu sehen, der in seinem Geldspeicher herumschwamm. Schon ein paar Monate nach seiner Abreise in die USA erzählte sein Freund am Telefon, es liefe alles wie am Schnürchen - und Aron solle doch auch rüberkommen, aber Aron war nicht mutig genug. Dann hörte er lange nichts von seinem Kumpel. Vor etwa fünf Jahren erhielt er eine Karte aus den USA. Darauf war sein Freund in einem Whirlpool zu sehen, der bis zum Überlauf mit Münzen und Geldscheinen gefüllt war. Tom sah aus wie Onkel Dagobert in seinem Geldspeicher und grinste über das ganze Gesicht. Auf der Rückseite stand nur: Ich habe es geschafft! Grüße, Tom!
Aron musste innerlich lächeln, als er an diese Geschichte dachte. Er war damals ein bisschen neidisch gewesen und hatte seinen Freund für dessen eisernen Willen und Mut bewundert. Aron überlegte, ob er Marie die Geschichte erzählen sollte, sagte aber nur: „Du hast Recht, solche Menschen gibt es. Und ich habe mich oft gefragt, wie die das machen. Alles geht ihnen leicht von der Hand, nie haben sie Zweifel oder eiern herum. Sie gehen einen geraden Weg.“
„Der Weg ist nicht immer unbedingt gerade, aber im Prinzip hast du Recht. Und du könntest es genauso machen. Was glaubst du, was dir diese Menschen voraus haben? Sind sie nicht aus dem gleichen Stoff gemacht wie du? Eine chemische Analyse der Zusammensetzung eurer Körper ergäbe eine hundertprozentige Übereinstimmung. Was ist also anders an ihnen?“
Aron dachte einen Moment nach. Das war wirklich eine interessante Frage.
„Nichts ist anders an ihnen“, sagte er schließlich. „Es ist einfach nur Zufall. Oder Schicksal. Nenne es, wie du willst.“
„Da muss ich widersprechen. Die Menschen können durch ihr eigenes Tun ihr Schicksal jederzeit beeinflussen. Entscheidend ist die Qualität ihrer Gedanken. Ändert ein Mensch seine Gedanken, ändert sich auch sein Schicksal. Wenn du also glaubst, es sei dein Schicksal, deine Ziele nicht zu erreichen, dann wirst du sie auch nicht erreichen. Beschließt du aber, dass du von nun an deine Ziele erreichen wirst, und machst dich mit festem Glauben an die Arbeit, dann ändert sich dein Schicksal und du wirst deine Ziele erreichen. Das nennt man ’sich selbst erfüllende Prophezeiung’. Schon mal gehört?“
Aron spürte, dass ein Hauch Wahrheit in ihren Worten lag, er ärgerte sich aber über ihre Besserwisserei und suchte nach Argumenten, ihr zu widersprechen. Da ihm nichts einfiel, ging er zum Gegenangriff über. Bestimmt lief in ihrem Leben auch nicht alles so perfekt ab. Klugscheißern war es ja oft selbst nicht vergönnt, die Früchte ihrer Klugheit zu ernten.
„In der Theorie hört sich das ja alles toll an, Marie, aber so einfach ist es in der Praxis nicht. Schau dich doch selbst an. Du schuftest für kleines Geld in der Kneipe und musst in der Spielbank dein Glück versuchen. Das ist doch bestimmt nicht dein Traumleben, oder?“
Marie schaute Aron mit einem entwaffnenden Lächeln an. „Klar läuft bei mir auch nicht immer alles nach Wunsch. Ich wollte mich auch nicht als großes Vorbild hinstellen.“
„Und es fällt mir noch etwas ein, das deiner These widerspricht. Wenn du Recht hättest und jeder könnte mit seinen Gedanken sein Leben und sein Schicksal steuern, wie er es wünscht, warum gibt es dann so viele unglückliche Lebensläufe? Wollen die Menschen nicht, dass es ihnen besser geht? Wünschen sie sich Unglück?“
„Gute Frage, Aron. Das wüsste ich auch gerne. Ich kann ja immer nur für mich sprechen. Aber wenn ich Menschen zuhöre, deren Leben schwierig oder sogar problematisch verläuft, dann könnte man schon auf den Gedanken kommen, dass sie nur ihre eigenen Ängste und Befürchtungen leben und im tiefsten Inneren glauben, es nicht besser zu verdienen.“
„Das ist ziemlich hart, was du da sagst. Meinst du, die Kinder in Afrika, die nichts zu essen und zu trinken haben, sterben, weil sie nicht daran glauben, etwas Besseres zu verdienen?“
„Noch eine sehr gute Frage, und ehrlich gestanden habe ich darauf keine einfache Antwort. Es ist ein abendfüllendes Thema. Darüber sollten wir noch mal sprechen, wenn wir uns besser kennengelernt haben.“
Aron wandte sich seinem Weinglas zu. Er brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, wie er das Gespräch weiter gestalten wollte. Auch Marie schien nichts gegen eine Pause zu haben, denn sie drehte sich zur Seite und griff nach ihrem Glas.
Er spürte Müdigkeit in sich aufsteigen. Der Abend neigte sich dem Ende zu und sie hatten noch kein Wort über seinen Vater gewechselt. Es wurde langsam Zeit. Ohne lange nachzudenken, fragte er: „Woher kennst du eigentlich meinen Vater?“
Zunächst sah es so aus, als wollte sie seine Frage ignorieren, denn sie wendete ihren Blick nicht von dem Spiegel hinter der Bar ab. Dann drehte sie den Barhocker wieder in seine Richtung und sagte: „Das ist nicht ganz einfach zu sagen. Mein erstes Gespräch mit Gerhard Breuer hatte ich mit 11 Jahren auf dem Weg zur Schule. Wir haben uns auf halber Strecke getroffen und er hat mich bis zum Schultor begleitet. Das haben wir dann beibehalten und uns regelmäßig verabredet.“
„Wie bitte?“, entgegnete Aron überrascht. „Wie kam mein Vater dazu, dich zur Schule zu begleiten?“
„Wir haben uns einfach gut verstanden.“
„Aber warum denn? Er war doch mindestens zwanzig Jahre älter als du!“
„Warum soll sich ein junges Mädchen nicht mit einem älteren Mann verstehen?“
Aron überging ihre Frage. „Aber wie habt ihr euch denn kennengelernt? Auf dem Schulweg spricht man doch nicht einfach mit einem erwachsenen Mann. Das hat dir deine Mutter doch bestimmt verboten.“
„Natürlich hat sie mir das verboten, aber mit Gerhard war es etwas anderes. Immerhin war er in Köln wegen seiner Kindergeschichten relativ bekannt, da gab es einen Vertrauensvorschuss.“
„Und wie ging es dann weiter mit euch?“
„Wir haben uns so oft getroffen, wie es nur irgendwie möglich war, ohne dass sein Familienleben beeinträchtigt wurde.“
„Was habt ihr gemacht, wenn ihr euch getroffen habt?“
„Wir haben uns unterhalten.“
„Über was spricht eine Elfjährige mit einem über Dreißigjährigen?“
„Über die Menschen und das Leben. Eines Tages werde ich ein Buch darüber schreiben.“
„Aber du warst doch noch ein Kind.“
„Aber ein Kind mit vielen Interessen. Wir waren sofort auf einer Wellenlänge. Es gab so viel zu lernen von deinem Vater.“
„Sonst habt ihr nichts getan? Nur geredet?“
„Nur geredet!“
„Wirklich?“
„Aron, hältst du deinen Vater für pädophil?“
„Natürlich nicht! Aber ganz normal ist es auch nicht, wenn sich ein Dreißigjähriger mehrmals pro Woche heimlich mit einer Elfjährigen trifft.“
Marie lachte. „Ja, das ist wirklich nicht normal, aber erstens haben wir das nicht heimlich getan, deine Mutter wusste nämlich, dass wir uns treffen. Und zweitens haben wir uns einfach gut verstanden. Das haben meine Eltern gespürt, und auch deine Mutter hat, glaube ich jedenfalls, nach anfänglichem Misstrauen keine Bedenken gegen unsere Freundschaft gehabt.“
„Was weißt du über Vaters Tod?“
„Aron, ich will nicht unhöflich sein, aber möchtest du wirklich dieses sensible Thema jetzt noch mit mir besprechen? Ehrlich gestanden bin ich ziemlich müde. Lass uns den Abend für heute beenden. Wir können uns bald wieder treffen und weiterreden.“
Aron überlegte. So richtig passte es ihm nicht, das Thema zu vertagen.
„Marie, du kannst mich jetzt nicht einfach so hier sitzen lassen, ohne mir zu sagen, was du über Vaters Tod weißt. Vielleicht ist dir nicht bewusst, wie wichtig das Thema für meine Familie ist. “
„Doch, natürlich. Der plötzliche Tod eines Menschen ist immer ein einschneidendes Erlebnis für die Familie. Aber was soll ich dazu beitragen? Ist es nicht sinnvoller, wenn du darüber mit deiner Mutter sprichst?“
„Das habe ich schon, aber hinterher bin ich mit mehr Fragen als Antworten dagestanden.“
„Lass uns beim nächsten Mal darüber sprechen. Das ist kein Thema für ein paar Minuten.“
Aron zögerte. Er war mit so vielen Fragen zu diesem Treffen gekommen, und jetzt war es ganz anders verlaufen als erwartet. Antworten hatte er jedenfalls keine erhalten.
Marie erhob sich und Aron beschloss, nicht weiter nachzubohren. Er war selbst müde und freute sich auf sein Bett. Morgen hatte er einen harten Tag vor sich.
Sie bezahlten die Getränke und lösten ihre Chips ein. Während sie an der Garderobe auf ihre Mäntel warteten, fragte Marie: „Wollen wir nächste Woche weiterreden?“
„Gerne“, antwortete er. „Was schlägst du vor?“
„Am Dienstag arbeite ich ausnahmsweise nachmittags. Wir könnten abends in der Altstadt etwas essen gehen, sagen wir um halb sieben. Ginge das bei Dir?“
Ohne zu zögern schlug Aron ein. Er versprach, sie am Dienstag in der Wax-Bar abzuholen.
Kurz darauf saß er in seinem Wagen und fuhr mit dem Gefühl nach Hause, den Abend mit der sicherlich attraktivsten, gleichzeitig aber auch mysteriösesten Frau verbracht zu haben, die er je kennengelernt hatte.