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3.12.2011: Die Kiste

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Mit der linken Hand tastete Aron nach seinem Wecker. Der schreiende Alarm verstummte. Zögernd schlug er die Augen auf. Mit Erleichterung erblickte er das fahle Licht der Stadt, das wie gewohnt durch den dunkelblauen Vorhang schimmerte. Er war zu Hause, nicht im Hotel.

Aron setzte sich auf. Was war das für ein Traum? Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Sein Körper vibrierte. Hatte er wirklich geweint? Aron berührte mit den Fingerspitzen sein Gesicht. Es war feucht.

Vor seinem inneren Auge sah er wieder diese Frau, sah die Tränen in ihren Augen und wie ihr Haar aufwehte. Für einen Moment glaubte er, wirklich dort gewesen zu sein, in diesem Hotel. Natürlich war das unmöglich, und doch ließen ihn die Bilder nicht los, als wollten sie ihn zurückziehen in ihre Welt, die Welt der Erinnerungen. Erinnerungen an Dinge, die gewesen sind, an Dinge, die sein werden oder an Dinge, die hätten sein können. Aron versuchte das seltsame Gefühl abzuschütteln. Er war kein Träumer! Es wurde Zeit aufzustehen. Also riss er sich zusammen und ging ins Bad.

Im Spiegel blickte ihn ein verheult und abgekämpft aussehender Mann in den Dreißigern mit verstrubbelten Haaren trostlos an. Ihm gefiel überhaupt nicht, was er da sah. War das wirklich Aron Breuer? Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und wusch die Tränen fort. Mit den nassen Händen fuhr er sich durch die vollen braunen Haare und strich sie sorgsam zurück. Schon besser, dachte er, während er im Spiegel das Ergebnis betrachtete.

Sein Vater kam ihm in den Sinn. Er hatte ebensolche Haare gehabt, stets ordentlich zurückgekämmt. Von ihm hatte er auch die braunen Augen geerbt. Seltsam, dachte er. Obwohl Vater seit 30 Jahren tot war, fiel es ihm nicht schwer, das Gesicht im Spiegel mit dem Gesicht des Mannes abzugleichen, den er eben im Traum gesehen hatte. Oder stammte seine Erinnerung von alten Fotos, von Bildern aus einem zerzausten Album, das jahrelang auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen hatte? Aron war immer stolz darauf gewesen, dem Mann auf den Fotos ähnlich zu sehen. Er war froh darüber, den dunklen Teint seines Vaters und nicht die fast durchsichtige Blässe und die farblosen grauen Augen seiner labilen Mutter geerbt zu haben. Der einzige Schönheitsfehler in seinem ebenmäßigen, fast mädchenhaft anmutenden Gesicht, war die seltsame Verwachsung, die an seiner rechten Schläfe prangte. Eine kleine Mulde, als hätte ihm der Teufel im Mutterleib den Daumen auf den noch weichen und formbaren Knochen gedrückt. Es war eigenartig, aber Aron glaubte an diesem Morgen an jener Stelle ein Pochen zu spüren. Vorsichtig berührte er mit dem Zeigefinger die Mulde. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Er starrte auf sein Spiegelbild, die Hand an der Schläfe, als richtete er eine Waffe gegen sich selbst. Das Pochen wurde heftiger. Schnell nahm er die Hand herunter. Das pulsierende Gefühl ließ schlagartig nach, aber sein Herz raste.

War es wirklich der Traum, der ihn so aus der Fassung brachte, oder stand er kurz davor, in eine Krise zu stürzen? Vielleicht sollte er heute lieber zu Hause bleiben und sich ausruhen, dachte er, während er nach seinem Rasierapparat griff. Es war Samstag und eigentlich wollte er früh ins Büro fahren, um den Kostensenkungsplan für die Geschäftsführung fertigzustellen. Keine gute Idee, entschied er. Er würde den Tag lieber ruhig angehen und sich schonen. Das war er seinem Körper schuldig.

Mit diesem Entschluss beruhigte sich sein Herzschlag und er begann mit der Rasur.

Als Aron kurz darauf am Frühstückstisch saß und gerade in sein Toastbrot beißen wollte, schrillte das Telefon. Er warf einen Blick auf das Display. Mutter. Kurz überlegte er, sie auf den Anrufbeantworter umzuleiten, doch dann irritierte ihn die Uhrzeit des Anrufs. Mutter rief nie vor acht an. Also hob er ab.

„Hallo Mutter.“

„Guten Morgen Aron.“

Für einen Moment war es still in der Leitung. Aron beschlich ein ungutes Gefühl.

„Ist etwas passiert?“, fragte er.

„Ich suche das rote Fotoalbum, du weißt schon, das mit den Hochzeitsfotos.“

Das zerzauste alte Album! Genau an dieses Album hatte er vor zehn Minuten gedacht.

„Ich könnte heulen, Aron. Ich finde es nicht. Es ist weg.“

„Mutter, bitte! Du weißt genau, dass es dir nicht gut tut, an Vater zu denken.“

„Reg dich nicht auf, Aron! Es ist alles in Ordnung. Ich will nur wissen, wo das Album ist. Es kann doch nicht weg sein.“

„Natürlich kann es nicht weg sein.“

„Ich habe jeden Winkel abgesucht. Es ist nicht hier.“

„Warum ist das denn auf einmal so wichtig? Du solltest dich wirklich nicht mit dem alten Kram belasten.“

„Ich hatte einen Traum.“

Kurz war es still in der Leitung. „Was für einen Traum?“, fragte er irritiert.

„Ich habe von meiner Hochzeit geträumt. Das ist doch wohl ein Grund, die Fotos rauszusuchen.“

Aron dachte an seinen eigenen Traum. Eigenartiger Zufall.

„Kann es sein, dass das Album bei dir ist?“, fragte Mutter.

„Keine Ahnung. Gesehen habe ich es nicht. Wenn, dann ist es irgendwo im Keller, bei dem Kram, den ich aus unserer Kölner Wohnung mitgenommen habe.“

„Bitte sieh nach, Aron!“

„Mach ich, wenn ich das nächste Mal im Keller bin.“

„Bitte mache es heute! Es ist mir wirklich wichtig.“

Aron seufzte, versprach aber, nachher runter in den Keller zu gehen. Es war besser, Mutter keinen Grund zu liefern, sich aufzuregen.

„Ich muss jetzt aufhören, Mutter. Mein Toastbrot wird kalt. Ich ruf dich nachher an, wenn ich im Keller war.“

Mutter schwieg.

„Ist noch was?“, fragte er leicht genervt.

„Habe ich dir etwas getan, Aron?“

Aron zögerte. „Nein, was sollst du mir getan haben?“

„Dein Vater hat mich im Traum gefragt, ob ich mich bei dir entschuldigt habe.“

„Entschuldigt? Für was?“

„Ich weiß es nicht. Es war während der Hochzeitsfeier. Er fragte mich, ob ich dich um Verzeihung gebeten habe. Ich dachte: seltsam, du bist doch noch in meinem Bauch. Dann bin ich aufgewacht.“

„Mach dir keine Gedanken, Mutter. Es war nur ein Traum.“

Mutter zögerte. „Ja, es war nur ein Traum, aber irgendwie hat er mir Angst gemacht. Ich habe ein richtig schlechtes Gefühl jetzt. Ist alles in Ordnung zwischen uns?“

Aron wurde mulmig. Mutter schien kurz vor einem neuen Depressionsschub zu stehen, vielleicht war sie bereits mittendrin. Er musste dringend ihren Arzt anrufen.

„Mutter, bitte, lass es gut sein. Es ist alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen.“

„Schon gut, Aron, ich lass dich frühstücken. Wir sprechen nachher noch mal. Es war ja nur ein Traum.“

Mutter beendete das Gespräch und Aron starrte gedankenverloren auf sein Toastbrot. Seit Mutter im Seniorenheim lebte und ihre Depression dank regelmäßiger Medikation einigermaßen unter Kontrolle war, hatte sie nicht mehr von Vater gesprochen. Und jetzt fing sie ausgerechnet heute Morgen wieder von ihm an, nachdem er selbst von Vater geträumt hatte. Spontan beschloss er, nach dem Frühstück das besagte Fotoalbum zu suchen.

Vorher rief er aber noch Mutters Arzt an. Zu seiner Beruhigung wusste dieser zu berichten, dass Mutter keineswegs auf eine neue Episode zusteuere, sondern in einem sehr stabilen und ermutigenden Zustand sei.

Eine halbe Stunde später stand er in seinem muffig riechenden kleinen Kellerverschlag, den er bestimmt seit drei Jahren nicht mehr betreten hatte. Er musste nicht lange nach Mutters Sachen suchen. Mitten im Raum standen drei Kartons von einem Kölner Umzugsunternehmen. Das mussten die Kisten sein, die er aus der Kölner Wohnung seiner Eltern mit zu sich nach Heidelberg genommen hatte, als Mutter vor drei Jahren ins Seniorenheim umgezogen war.

In der ersten Kiste fand Aron nur altes Geschirr. Er stellte sie zur Seite und öffnete die zweite Kiste. Sein altes Kinderspielzeug. Es versetzte ihm einen Stich. Er erinnerte sich daran, wie er die Sachen zusammen mit Simone eingepackt hatte, um sie für ihre gemeinsamen Kinder aufzuheben, die sie damals noch zu kriegen beabsichtigten. War das jetzt schon wieder drei Jahre her? An seine Exfreundin Simone und ihre damalige Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft mit Kindern wollte er wirklich nicht erinnert werden. Er war inzwischen vom Kinderkriegen so weit entfernt wie die Erde vom Mond.

In der dritten Kiste fand Aron Aktenordner und lose Blättersammlungen. Er griff nach einen Ordner mit der Aufschrift „Börse 79-80“ und schaute hinein. Depotauszüge und Börsenorders. Sehr interessant. Er fragte sich, warum er diesen Ordner nicht kannte. Er hätte längst hineingeschaut, schließlich war er selbst an der Börse aktiv. Aron schob den Ordner zurück in die Kiste und zog einen anderen mit der Aufschrift „Zeitung“ hervor. Gleich vorne fand er eine ausgerissene Seite der „Zeitung am Abend“, auf der eine Geschichte abgedruckt war. „Die Geschichte von Space dem Geist“, Autor: Gerhard Breuer. Es wurde immer interessanter.

Und dann sah er das Fotoalbum. Es lag ganz unten und er erkannte es sofort. Einen Moment starrte er es an, als sei es ein böses Tier, das er unter einem Stein entdeckt.

Aron beschloss, die Kiste in seine Wohnung zu tragen und sich die Fotos und die anderen Sachen in Ruhe bei anständigem Licht anzuschauen.

Während er Tee kochte, dachte er darüber nach, was er eigentlich über Vater wusste. Seine Eltern hatten sich im Theater in der Warteschlange an der Garderobe kennengelernt. Drei Jahre später hatten sie geheiratet und kurz darauf ein Kind bekommen: Aron. Vater schrieb damals Kindergeschichten für die Zeitung und spekulierte mit Erfolg an der Börse. Sechs Jahre später war er plötzlich gestorben, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, wie Mutter immer behauptet hatte, an einem Schlaganfall oder so etwas Ähnlichem. Aron erinnerte sich dunkel daran, dass Mutter die Todesursache lange Zeit angezweifelt und oft mit Ärzten gesprochen hatte. Aber Genaues wusste Aron nicht, denn sein Verhältnis zu Mutter war immer sehr schwierig gewesen. Sie hatte sich nach Vaters Tod oft in ihre eigene Welt zurückgezogen und Aron mit unberechenbaren Gefühlsschwankungen gequält, in denen sie an manchen Tagen kalt und abweisend und an anderen Tagen übertrieben fürsorglich gewesen war. Das waren keine Umstände, die intensive Gespräche zwischen Mutter und Sohn begünstigt hätten. Vielmehr war Aron über jede Minute froh gewesen, in der Mutter nicht an Vater gedacht hatte.

Er setzte sich im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee auf den Boden und begann, die Kiste auszuräumen. Zunächst griff er nach dem Fotoalbum und schlug es auf. Schwarzweißfotos, offensichtlich vor dem Standesamt aufgenommen. Sein Vater im eng geschnittenen dunklen Anzug und seine Mutter ganz in Weiß, mit Schleier. Sie sieht so glücklich aus, dachte er, und spürte ein eigenartig beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. Auch Vater wirkte sehr zufrieden, jedoch nicht so ausgelassen wie Mutter. Irgendwie ernster. Aron fand, dass Vater sehr gut aussah, mit seinem wachen und intensiven Blick. Vielleicht zu gut für Mutter, die ihm eher durchschnittlich vorkam, trotz ihres hübschen Hochzeitskleides. Aron schämte sich für diesen Gedanken und blätterte weiter. Mutter lachend beim Essen, mit Zigarette, dann wieder mit Weinglas, mit den Gästen anstoßend, und immer wieder mit glücklichen Blicken für ihren Mann. Er: weiterhin zufrieden und still. Keine Zigaretten, kein Wein, höchstens ein Lächeln.

Ein paar Seiten weiter tauchte dann Aron auf. Nackt, dick und schreiend, in einer Emaillewanne badend. Dann eingewickelt in weiße Tücher in Mutters Armen, auf Vaters Schoß, in Vaters Armen. Aron hielt inne. Er betrachtete das Bild genauer. Eines der wenigen Farbfotos. Vater hatte wieder diesen intensiven Blick, der Aron schon auf einigen der Hochzeitsfotos aufgefallen war. Hypnotisch, fast ein wenig unheimlich. Ein Gefühl von Neugierde überkam Aron. Was war sein Vater eigentlich für ein Mensch gewesen?

Aron blätterte weiter. Ein loses Foto rutschte aus dem Album und fiel auf den Boden. Es war größer als die anderen und zeigte drei Personen, offenbar eine Kleinfamilie, die auf der Alten Brücke in Heidelberg posierte. Heidelberg! Die Stadt in der er heute lebte. Das Foto faszinierte Aron sofort. Es war von guter Qualität und schien doch älter als die anderen Bilder zu sein, wahrscheinlich aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren. Die jüngere Frau, offensichtlich die Tochter, war außerordentlich hübsch. Sie kam Aron irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er das Bild früher schon einmal gesehen, als das Album noch auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen hatte. Erinnern konnte er sich allerdings nicht daran. Die ältere Frau auf dem Bild sah der jüngeren sehr ähnlich.

Er wollte das Bild gerade wieder ins Album legen, da blieb sein Blick an dem älteren Mann auf dem Foto hängen. Dessen intensiver Blick erinnerte ihn irgendwie an das Foto seines Vaters weiter vorne im Album. Ein Verwandter, dachte er. Aron blätterte zurück zu dem Foto, das ihn als Baby im Arm seines Vaters zeigte. Frappierende Ähnlichkeit. Beide Männer hatten zurückgekämmte Haare und diesen eigenartig intensiven Blick, nur dass der Mann auf der Alten Brücke deutlich älter und schon ergraut war. Aron drehte das Foto um. Jemand hatte mit Bleistift „Nora Losberg und Familie, Heidelberg, 1927“ darauf geschrieben.

Nora Losberg. Den Namen hatte Aron irgendwo schon einmal gehört, aber er konnte ihn nicht einordnen. Er musste Mutter fragen, wer diese Leute waren.

Aron legte das Album zur Seite und griff nach den Geschichten, die Vater für die „Zeitung am Abend“ geschrieben hatte. Es ging um einen Geist namens Space, der aus den Weiten des Universums gekommen war, um die Kinder der Erde kennenzulernen. Ganz nett, dachte Aron, ohne Lust zu verspüren, die Geschichten ausführlicher zu lesen. Also legte er sie beiseite und holte den Ordner „Börse 81-82“ aus der Kiste. War Vater nicht 1981 gestorben? Tatsächlich, der Ordner war nicht einmal halb voll. Vater hatte darin seine Börsenorders und Depotauszüge abgeheftet. Zahlreiche Käufe und Verkäufe, immer Aktien, teils von kleinen unbekannten Unternehmen, teils von großen Firmen. Aron blätterte bis zum Ende und fand dort eine Aufstellung von Transaktionen, welche die Bank am 29. Mai 1981 durchgeführt hatte. War Vater nicht Ende Mai gestorben? Offensichtlich hatte er kurz vor seinem Tod alle Aktien verkauft und gegen Bundesanleihen und -schatzbriefe eingetauscht. Alles sichere Anlagen, mit denen Vater vorher nicht gehandelt hatte.

Diese Depotumschichtung irritierte Aron. Hatte Vater seinen Tod vorhergesehen? Unwahrscheinlich, denn Mutter hatte nie den Verdacht geäußert, Vater könnte sich das Leben genommen haben.

Er zog den Ordner „Börse 79-80“ aus der Kiste und blätterte die Depotlisten durch. Ausschließlich Aktien. Warum hatte Vater kurz vor seinem Tod plötzlich den Aktien abgeschworen und sichere Zinspapiere ins Depot gelegt, die er vorher niemals angerührt hatte? Befürchtete er einen Börsencrash? Er würde Mutter danach fragen müssen.

Aron räumte jetzt die gesamte Kiste aus. Ganz unten fand er einen Ordner mit der Aufschrift „Krankenversicherung Gerhard“ und begann sofort, ihn von hinten durchzublättern. Ohne lange suchen zu müssen, fand er einen Obduktionsbericht zum Tod seines Vaters. Der Bericht besagte, dass die Obduktion polizeilich veranlasst worden war, um ein Tötungsdelikt oder einen Selbstmord durch Gifteinnahme auszuschließen. Tatsächlich wurden bei der Obduktion keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod oder eine Vergiftung gefunden. Allerdings schieden auch ein Schlaganfall oder sonstige Gesundheitsbeeinträchtigungen als Todesursache aus. Der Autor des Berichts kam daher zu dem Schluss, dass Gerhard Breuer an einem Herzstillstand unbekannter Genese gestorben war.

Deshalb also hatte sich Mutter so lange mit Vaters Todesursache beschäftigt, dachte Aron, und verspürte zum ersten Mal in seinem Leben Lust darauf, mit Mutter über Vaters Tod zu sprechen.

Aron begann den Ordner von vorne durchzublättern. Zwischen langweiligen Versicherungsdokumenten fand er einen Unfallbericht, der seine Aufmerksamkeit erregte. Vater war in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen und dabei offensichtlich so schwer verletzt worden, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Noch an der Unfallstelle waren schwere Schnittwunden und mehrere Knochenbrüche diagnostiziert worden. Davon hatte Mutter nie etwas erzählt, wunderte sich Aron. Sie musste doch vollkommen aufgelöst gewesen sein, nach so einem Unfall.

Aron blätterte weiter. Als nächstes war eine Rechnung der Unfallklinik abgeheftet. Er sah sich die darauf vermerkten Positionen genauer an: Desinfektion von Wunden, Röntgenaufnahmen vom rechten Schien- und Wadenbein, Kniegelenk und Oberschenkel sowie eine Nacht im Krankenhaus zur Überwachung.

Jetzt verstand Aron, warum Mutter der Sache keine große Bedeutung beigemessen hatte. Vater war nur eine Nacht im Krankenhaus gewesen und schon am nächsten Tag ohne größere Verletzungen nach Hause geschickt worden. Aron zögerte. Da stimmte doch etwas nicht. Der Unfallbericht und die Krankenhausrechnung passten nicht zusammen. Bei schweren Schnittverletzungen hätten die Wunden genäht werden müssen. Mehrfache Knochenbrüche hätten zu einer Operation, mindestens aber zu einer Rechnung über das Eingipsen von Körperteilen geführt.

Aron blätterte weiter und fand einen ausführlichen Arztbericht. Gerhard Breuer wurde am 12.1.1977 um 16:15 Uhr bewusstlos und mit stark blutenden Schnittwunden an Kopf und Armen und einem mehrfach stark deformierten rechten Bein in die Unfallklinik eingeliefert. Die Blutungen wurden sofort gestillt und Gerhard Breuer für eine Bein-OP vorbereitet. Weiter wurde berichtet, dass Gerhard Breuer noch auf dem Weg in die Anästhesie aufwachte und sofort Angaben zum Unfallhergang machen konnte. Da er nicht über Schmerzen klagte, wurde er ohne Betäubung zunächst zum Röntgen gebracht, was jedoch keinen auffälligen Befund ergab. Der Verdacht auf mehrfachen Beinbruch konnte nicht bestätigt werden. Die Schnittwunden mussten nicht genäht werden, da eine außergewöhnlich schnelle Wundheilung eingesetzt hatte, die das Gewebe schon mehrere Stunden nach dem Unfall fast vollständig verschloss. Gerhard Breuer wurde am nächsten Morgen entlassen. Eine Nachuntersuchung des Beines einen Monat später ergab ebenfalls keinen Befund. Der Bericht schloss mit der Feststellung, dass Gerhard Breuer über eine außergewöhnlich gute Wundheilung verfüge.

Aron blätterte weiter. Er fand ein Schreiben der Unfallklinik, in dem sein Vater aufgefordert wurde, sich einer allgemeinen Körperfunktionsanalyse zu unterziehen. Als Grund wurde eine deutschlandweit durchgeführte, breit angelegte Forschungsarbeit zum Thema „Stärkung der Selbstheilungskräfte“ genannt, für die Gerhard Breuer aus statistischen Gründen ausgewählt worden sei. Es folgten zwei weitere Schreiben, in denen sein Vater immer eindringlicher aufgefordert wurde, an der Untersuchung teilzunehmen. Alle Schreiben waren von Professor Dr. Herbert E. Blasius unterzeichnet. Offensichtlich hatte Vater auf diese Schreiben nicht reagiert, denn in einem dritten Schreiben wurde als Alternative für eine Untersuchung um die Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber einem Fachärztegremium gebeten, damit sein Fall im Expertenkreis analysiert werden könne.

Auf der nächsten Seite fand Aron ein Antwortschreiben seines Vaters, in dem er zwar die Entbindung von der Schweigepflicht für das Fachgremium erteilte, gleichzeitig aber für den Fall eines Missbrauchs oder einer weiteren Belästigung die Einschaltung eines Anwalts ankündigte. Weiter fand Aron keine Unterlagen zu dem Unfall, nur die abschließende Abrechnung mit der Krankenkasse.

Aron klappte den Ordner zu und setzte sich aufs Sofa. Er musste nachdenken. Dafür, dass er nur ein paar alte Unterlagen durchgeblättert hatte, war er auf ziemlich viele merkwürdige Dinge gestoßen. Insbesondere die signifikante Depotumschichtung kurz vor Vaters Tod, in Kombination mit einer mehr oder weniger ungeklärten Todesursache, gefiel Aron gar nicht. Auch die Geschichte mit dem Unfall erschien ihm unklar.

Je länger er über die Unterlagen nachdachte, desto unbehaglicher fühlte er sich. Vielleicht sollte er zu Mutter nach Köln fahren und mit ihr reden. Weihnachten stand vor der Tür und ein Besuch war sowieso längst überfällig. Aron griff zum Telefon und wählte ihre Nummer. Mutter freute sich hörbar über seinen Rückruf. Noch mehr freute sie sich über seine Ankündigung, nächstes Wochenende nach Köln zu kommen und das Fotoalbum mitzubringen. Auch Aron freute sich, und das war neu. Er hätte es nicht genau erklären können, aber irgendetwas in seiner Einstellung zu Mutter begann sich kaum merklich zu verändern.

Der Traum

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