Читать книгу Der Traum - Andreas Kessler - Страница 6

10.12.2011: Mutter

Оглавление

Gedankenverloren beobachtete Aron die Flugzeuge, die sich am Horizont vom hellblauen Winterhimmel absetzten und wie an einer endlosen Perlenkette aufgereiht der Landebahn entgegenschwebten. Er war also schon in Frankfurt. In einer Stunde würde der ICE Köln erreichen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, ein seltsam dumpfer Impuls, der sich innerhalb weniger Minuten in heftigen Schluckbeschwerden manifestierte. Aron kannte dieses Gefühl. Seit er aus Köln weggezogen war, machte sich sein Unterbewusstsein regelmäßig auf diese Weise bemerkbar, sobald er sich seiner Mutter näherte.

Er griff nach der Wasserflasche und nahm einen kräftigen Schluck, um den unangenehmen Klos hinunterzuspülen. Es würde ihm leichter fallen, mit Mutter zu sprechen, wenn sein Hals nicht schmerzte und er keine Angst hatte, weder vor den Dämonen seiner Kindheit, noch vor seinem schlechten Gewissen, das ihn regelmäßig heimsuchte, seit Mutter im Rollstuhl saß. Ein Schlaganfall hatte vor drei Jahren zu einer irreversiblen Lähmung ihrer Beine geführt. Auf Genesung bestand keine Hoffnung. Mutter hatte den Schicksalsschlag zunächst nicht akzeptieren wollen und vehement darauf gepocht, trotz ihrer Behinderung den Alltag weiterhin alleine bestreiten zu dürfen, aber Aron und die Ärzte hatten ein Veto eingelegt und sie zu einem Umzug ins Pflegeheim gedrängt. Nach langem Hin und Her hatte sie schließlich nachgegeben und war in ein von Aron ausgesuchtes und nach seiner Meinung sehr schönes privates Heim gezogen. Um sich für diese Niederlage zu revanchieren, versäumte es Mutter seither nicht, Aron regelmäßig auf das angeblich unfreundliche Pflegepersonal, das abscheuliche Essen und andere untragbare Missstände im Heim hinzuweisen. Aron schaltete jedes Mal auf Durchzug. Er hatte sich in der Anfangszeit nach Mutters Umzug intensiv mit der Situation im Heim auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen, dass es Mutter sehr gut getroffen hatte und es keinen Grund für sie gab, sich zu beklagen.

In Köln angekommen schlenderte Aron durch die Sonne zum Taxistand hinüber. Die frische Luft tat ihm gut und er fühlte sich bereits besser. Als er kurz darauf das Appartement im ersten Stock des Seniorenheims betrat, kam ihm Mutter freundlich lächelnd entgegengerollt. Sie trug ein schönes dunkelblaues Kleid und hatte sich offensichtlich für seinen Besuch aufwendig geschminkt. Einen Moment war Aron auf eigenartige Weise gerührt. Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mutter beförderte sich mit zwei kräftigen Schüben zum Tisch hinüber und bat Aron, Platz zu nehmen. Es roch nach Kaffee.

Aron ließ den Blick durch das Appartement schweifen. Es sah aufgeräumt und ordentlich aus. Kurz nach dem Umzug hatte Mutter die Ordnung aus Ärger über ihre neue Bleibe eine Weile lang vernachlässigt gehabt. Zwar war diese Phase mit tatkräftiger Unterstützung der Schwestern bald vorbei gewesen, aber so ordentlich wie heute hatte er das Appartement noch nie vorgefunden.

Mutter begann über das Leben im Heim zu plaudern. Offenbar war sie heute nicht auf Krawall gebürstet, denn anders als bei seinen letzten Besuchen jammerte sie nicht, sondern lobte die neue Heimleitung. Überhaupt gab sich Mutter Mühe, das Wiedersehen mit ihrem Sohn positiv zu gestalten. Sie schenkte Kaffee ein und fragte, einem festen Ritual folgend, nach seiner Arbeit. Aron hatte inzwischen gute Laune und verzichtete auf das übliche „alles in Ordnung“, das er sonst bei dieser Gelegenheit als Bollwerk gegen persönliche Fragen zu platzieren pflegte. Stattdessen erzählte er davon, die Firma verlassen zu wollen, falls es ihm nicht gelänge, die Firmenstrategie zu verändern.

Ungeduld verleitete Aron aber, das Thema Huform schnell zu beenden. Er zog das alte Fotoalbum aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Mutter warf ihm einen erschreckten Blick zu.

„Ich habe das Album gefunden“, sagte er und schaute Mutter aufmunternd an. Endlich verschwand der ängstliche Ausdruck aus ihrem Gesicht und verwandelte sich in ein Lächeln. „Danke, Aron. Ich habe es wirklich so sehr gesucht.“

Mit einer zögerlichen Geste zog sie das Album zu sich heran und schlug es auf. Einige Minuten schaute Aron schweigend zu, wie Mutter fasziniert die Bilder betrachtete. Dann wurde ihm die Stille unangenehm und er sagte: „Ihr seht sehr glücklich aus.“

Mutter nickte, ohne den Blick von den Bildern abzuwenden.

Aron rückte näher an Mutter heran und blickte ebenfalls in das Album. Nachdem er die Bilder jetzt zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage sah, schaute er sich diesmal die Hochzeitsgäste etwas genauer an. Dabei fiel ihm auf, dass offensichtlich nur sehr wenige Gäste zu der Feier eingeladen waren. Er sah Vaters Eltern, Mutters Eltern, Mutters Schwester und zwei oder drei andere junge Paare, die er nicht kannte.

„Warum habt ihr so wenig Gäste eingeladen?“, fragte er.

Mutter überlegte einen Moment. „Gerhard wollte eigentlich gar nicht feiern. Er hat es mir zuliebe getan. Und ich habe aus Rücksicht auf ihn nur meine engsten Freunde eingeladen.“

„Hat Vater keine Freunde eingeladen?“

Mutter blätterte zurück und sah sich die Bilder noch einmal genauer an. „Nein, Gerhard hat niemand eingeladen. Nur seine Eltern waren da.“

„Aber warum? Hatte er keine Freunde?“

Wieder zögerte Mutter. „Dein Vater war ein Einzelgänger. Er hat sich nicht viel aus Freunden gemacht. Das heißt aber nicht, dass er menschenscheu gewesen wäre.“ Sie hielt kurz inne. „Außerdem war da schon ein Freund, der war auch eingeladen, hat dann aber abgesagt. Irgendwie konnte er zu Hause nicht weg oder musste arbeiten. Der war auch nicht aus Köln, sondern aus Heidelberg. Ein paar Tage später ist er dann aber doch noch zu uns gekommen und hat ein großes Geschenk mitgebracht.“

„Vater hat einen Freund in Heidelberg gehabt? Davon wusste ich gar nichts.“

„Ja, ein netter Mann. Er hat gut zu Gerhard gepasst. Sie waren sich irgendwie ähnlich, fast wie Brüder. Oft haben sie sich aber nicht gesehen, vielleicht zweimal im Jahr.“

„Kannst du dich an seinen Namen erinnern?“, fragte Aron, dem spontan die Idee kam, im Internet nach dem Mann zu recherchieren. Vielleicht lebte er noch in Heidelberg und Aron konnte ihn ausfindig machen. Aber Mutter konnte sich nicht an den Namen erinnern, nur dass er irgendwie altmodisch geklungen habe, wusste sie noch.

Mutter blätterte weiter.

„Du warst ein hübsches Baby“, sagte sie, als sie zu dem Bild kam, das Aron im Arm seines Vaters zeigte. Aron fand sich hässlich. Aber sein Vater sah gut aus. Verdammt gut.

„Hat Vater eigentlich viele Frauen gehabt?“, fragte er. „Ich meine, bevor ihr euch kennengelernt habt.“

Mutter lächelte. „Nein, überhaupt nicht. Gerhard hat immer gesagt, ich sei die Liebe seines Lebens und seine erste und einzige Frau. Das war schön.“

„Wirklich? Er sieht wie ein Frauenheld aus.“

„Er war sehr attraktiv, aber er war gewiss kein Schürzenjäger. Ich war immer seine Nummer eins. Es gab auch keine Verflossenen, mit denen er Kontakt gehabt hätte.“

Aron musste an sich selbst denken. Auch ihm hatte man schon nachgesagt, er sei ein Frauentyp, aber er hatte das bislang nie so empfunden. Eher im Gegenteil: Er tat sich schwer mit Frauen.

„Was war Vater überhaupt für ein Mensch?“, fragte Aron.

Mutter zögerte. „Wo soll ich da anfangen? Er war ein wunderbar liebevoller Mensch. Sehr introvertiert, aber mit viel Tiefe und Liebe gesegnet.“ Einen Moment hielt sie inne, dann begann es, aus ihr herauszusprudeln. „Er war zurückhaltend und schweigsam, aber wenn er etwas sagte, dann hatte es immer Hand und Fuß. Das hat ihm eine starke Autorität verliehen, ohne dass er ein lautes Wort sprechen musste. Ich habe ihn dafür bewundert. Und er war immer voller Anteilnahme für die Nöte und Sorgen anderer Menschen. Nur was seine eigenen Gefühle betraf, da war er sehr verschlossen. Das hat mich manchmal fast ein bisschen gekränkt.“

Mutter senkte den Blick und begann, weiter im Album zu blätterten. Sie schaute sich jedes Bild sehr genau an, bis sie zu einem Foto kam, auf dem Aron neben einem Mädchen zu sehen war. Aron musste die Seite beim letzten Mal überblättert haben, denn er kannte das Bild nicht. Mutter schaute nur kurz darauf und blätterte dann schnell weiter.

„Warte mal!“, sagte er. „Wer war das da auf dem Bild eben, das Mädchen neben mir?“

Mutter reagierte nicht und blätterte weiter.

„Bitte geh noch mal zurück“, beharrte er. Zögernd blätterte Mutter zurück.

„Wer ist das Mädchen?“, fragte er noch einmal.

„Marie Hauswald“, antwortete Mutter unwillig und verzog das Gesicht. „Eine Freundin deines Vaters.“

Also doch, dachte Aron. Es hätte ihn ja auch gewundert, wenn Mutter konkurrenzlos gewesen wäre, so gut wie Vater ausgesehen hat. Er beugte sich nach vorne und schaute sich das Bild näher an. Der kleine Aron war vielleicht fünf Jahre alt und hatte eine Kappe von der Verkehrswacht auf. Neben ihm stand ein dunkelhaariges dünnes Mädchen mit sehr schönen Augen und einem melancholischen Blick. Jetzt sah Aron, dass sie jünger war, als es auf den ersten Blick schien, denn ihr Körper wies noch keine ausgeprägten weiblichen Rundungen auf. Er schätzte sie auf elf oder zwölf Jahre, obwohl ihr Gesicht älter wirkte.

„Ein bisschen jung für Vater!“, sagte er feixend.

„Ja, das habe ich auch gedacht“, erwiderte Mutter ernst.

Aron sah sie mit einem fragenden Blick an.

„Nein, zwischen den beiden ist nie etwas gewesen“, beeilte sich Mutter klarzustellen. „Aber gefallen hat mir diese Freundschaft nicht, daran kann ich mich gut erinnern.“

Aron wandte sich noch einmal dem Bild zu. Je länger er es betrachtete, desto mehr faszinierte ihn dieses Mädchen. Sie war wirklich ausgesprochen hübsch. Es war vor allem ihr Blick, der Aron gefiel. Irgendetwas löste er in Aron aus, ein fernes Erkennen, ein kurzes Aufblitzen einer Erinnerung.

„Woher kannte Vater sie?“, fragte er.

„Ich glaube sie war ein Fan von ihm. Er hat doch jede Woche wundervolle Kindergeschichten in der Zeitung veröffentlicht und manchmal auch Lesungen gehalten. Ich glaube bei einer dieser Lesungen ist es ihr irgendwie gelungen, seine Aufmerksamkeit zu erringen.“

Nicht schwer, wenn man so hübsch ist, dachte Aron.

„Dein Vater hat sehr viel Zeit mit ihr verbracht. Zu viel Zeit, wie ich fand, aber sie war ja wirklich noch sehr jung, ich glaube nicht älter als zwölf. Das war eine ganz harmlose Freundschaft. Gerhard hat sie mehrfach als Babysitterin engagiert, wenn wir mal ins Kino gegangen sind. Sie hat sich recht gut mir dir verstanden. Ich glaube, du hast sie gemocht.“

Aron dachte nach, aber es gelang ihm nicht, das vertraute Gefühl, das er beim Betrachten dieses Mädchens empfand, mit einer realen Erinnerung zu verknüpfen.

Mutter blätterte weiter und Aron spürte, dass sie kein Verlangen danach hatte, länger über das Mädchen zu sprechen. Also schwieg er, beschloss aber, auf eigene Faust mehr über sie zu erfahren.

Und dann hielt Mutter plötzlich das Foto von 1927 in der Hand, das mit der Kleinfamilie auf der Alten Brücke in Heidelberg. Aron fragte, wer darauf zu sehen sei und Mutter erklärte, dass es sich bei der jungen Frau um eine Bekannte ihrer Großmutter mütterlicherseits handele, eine Hebamme, die bei ihrer Geburt zugegen gewesen sei.

Dunkel erinnerte sich Aron daran, dass die Geschichte der Geburt seiner Mutter bei Großmutter früher oft Thema gewesen war.

Komisch, dachte er. Aron hätte schwören können, dass auf dem Foto Angehörige der Familie seines Vaters abgebildet waren, weil der ältere Mann auf dem Bild seinem Vater ähnlich sah. Aber Mutter erklärte, die Losbergs hätten mit Gerhards Familie nicht das Entfernteste zu tun gehabt. Die Ähnlichkeit sei Zufall.

Als Mutter das Foto gerade zurück ins Album schieben wollte, kam Aron ein eigenartiger Gedanke. Er hielt Mutters Arm fest und betrachtete nochmals die hübsche Tochter der Losbergs. Hatte er diesen Ausdruck in den Augen nicht eben schon einmal gesehen? Er griff nach dem Album und blätterte zu dem Foto zurück, das ihn neben Marie Hauswald zeigte. Aron hielt die Bilder nebeneinander. Die Physiognomie der beiden Mädchen unterschied sich deutlich. Aber der Blick! Als wäre es die gleiche Frau, einmal mit elf Jahren und einmal mit Dreißig. Natürlich konnte das nicht sein.

Mutter wischte Arons Frage nach einer möglichen Verwandtschaft der Frauen mit einem genervten Kopfschütteln beiseite. Die Ähnlichkeit sei zwar augenscheinlich, jedoch reiner Zufall.

Für einen Moment schauten beide stumm auf das Foto. In Aron keimte das Gefühl auf, Mutter habe etwas zu verbergen. Sie wusste etwas über diese Leute, über das Mädchen neben ihm und über die Familie auf der Alten Brücke. Etwas, von dem sie nicht wollte, das Aron es erfuhr.

Mutter klappte das Album zu, rollte zum Schrank hinüber und ließ es in einer Schublade verschwinden. Ihre Gestik war so bestimmt, dass Aron nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Umso dringlicher überkam ihn das Bedürfnis, mehr über die Menschen auf den Fotos zu erfahren. Er nahm sich vor, auf eigene Faust zu recherchieren.

Dann erinnerte sich Aron daran, warum er vor allem nach Köln gekommen war, und wechselte das Thema. „Woran ist Vater eigentlich gestorben?“, fragte er.

Mutter blickte ihn überrascht an. Nach kurzem Zögern sagte sie knapp: „Das weißt du doch. Er ist an einem Herzstillstand gestorben.“

„Aber du hast damals eine Autopsie veranlasst. Warum?“

„Wird das ein Verhör?“

„Nein, bitte entschuldige meine direkte Frage, aber für mich war das neu. Ich meine das mit der Autopsie.“

„Ich hatte Zweifel. Gerhard war nie krank gewesen. Aber die Ärzte haben mir versichert, dass so etwas durchaus vorkommen kann. Kerngesund und plötzlich...“

Mutter hielt inne. Aron schaute sie aufmerksam an. Sie wich seinem Blick aus.

„Ich habe Vaters Börsenordner gefunden“, sagte er. „Ein paar Tage vor seinem Tod hat er alle Aktien verkauft und in sichere festverzinsliche Wertpapiere umgeschichtet. Hast du das gewusst?“

Mutters Gesichtsaudruck veränderte sich. Sie schaute ihn schweigend an und Aron glaubte einen Schatten in ihren Augen zu erkennen, der vorher nicht da war. Sie wusste von der Umschichtung.

„Warum hat Vater das getan?“, bohrte er weiter.

Mutter antwortete nicht. Außer dem Ticken des Weckers war kein Laut zu hören.

Als Aron gerade Luft holte, um seine Frage zu wiederholen, sagte sie: „Ich weiß es nicht.“

Aron seufzte. „Mutter, bitte! Versuch dich zu erinnern. Hat Vater mit dir über die Umschichtung gesprochen?“

„Nein“, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen.

„Hast du eine Erklärung dafür?“

„Aron, du musst eines wissen.“ Mutter war jetzt sichtlich erregt. „Die Umstände von Vaters Tod beschäftigen mich bis heute. Es gibt… so viele Fragen.“

„Was meinst du?“, fragte er ungeduldig. „Was für Fragen?“

„Willst du das wirklich hören?“

„Was hören?“

„Es ist nicht besonders schön, weißt du. Ich wollte dir das immer ersparen.“

„Mutter, bitte. Ich bin kein Kind mehr. Was ist mit Vaters Tod?“

Sie zögerte und schien mit sich zu ringen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, ob wir wirklich darüber sprechen sollten. Ich möchte nicht, dass du dich sorgst.“

„Ich sorge mich mehr, wenn du Geheimnisse vor mir hast. Du kannst mir alles erzählen, ich bin schon groß.“

„Also gut“, sagte sie leise, und schaute ihn mit einem ängstlichen Blick an. Aron überkam ein ungutes Gefühl.

„In jener Nacht, in der Gerhard von uns gegangen ist, hat er sich von mir verabschiedet. Er hat mich geküsst und gesagt, dass es ihm leid tue und er uns für immer lieben werde. Und ich dachte, ich träume. Und als ich aufwachte, lag er mit dem Rücken zu mir. Ich wollte ihn wecken und ihm von meinem Traum erzählen, da spürte ich, dass er ganz kalt war.“

Mutters Gesicht wurde kalkweiß. Aron spürte, wie sich eine längst verscharrte Erinnerung in ihm rührte.

„Dein Vater ist einfach gegangen“, sagte sie tonlos. „Er hat uns verlassen, obwohl er uns so sehr geliebt hat und obwohl wir ihn so sehr gebraucht haben.“

Aron schloss die Augen. Er sah eine Kinderhand, nach Vater ausgestreckt, und er spürte die Kälte, die von dessen Körper ausging. Verstört öffnete er die Augen. Nach einem Moment der Besinnung sagte er: „Mutter, das kann doch nicht sein! Wie soll er das gemacht haben? Glaubst du, er hat Gift genommen?“

„Nein. Die Ärzte haben nichts gefunden. Es gab keine Anzeichen für eine Vergiftung. Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.“

„Hast du in den Tagen vorher nichts bemerkt?“, fragte er. „Hat er irgendetwas gesagt oder gemacht, was ein Anzeichen für eine Krise gewesen sein könnte?“

„Seit jener Nacht denke ich jede Stunde darüber nach“, sagte sie verbittert. „Mein Leben kreist seit 30 Jahren um nichts anderes. Es gab diese Aktienverkäufe, aber die können Zufall gewesen sein. Er hat doch oft Aktien gekauft und wieder verkauft.“

„Das war kein Zufall!“

„Aber warum hätte er sich das Leben nehmen sollen?“, fragte Mutter und schaute Aron flehend an. „Kein Vater verlässt freiwillig seine geliebte Familie!“

„Keine Ahnung, sag du es mir! Du warst seine Frau! Wenn du es nicht weißt, wer soll es dann wissen?“

Mutters Blick schien einen weit hinter der Wand liegenden Punkt zu fixieren. „Vielleicht gibt es eine Erklärung“, sagte sie leise.

„Was für eine Erklärung?“

„Vielleicht wurde er gezwungen.“

„Zu was gezwungen?“

„Sich das Leben zu nehmen.“

„Warum sollte ihn jemand zu so etwas zwingen?“

„Ich weiß es nicht. Mir spukt das manchmal durch den Kopf. Wahrscheinlich ist das Unsinn. Aber als ich an dem Tag nach Gerhards Tod über seine Abschiedsworte nachgedacht habe, dachte ich, er hätte etwas von einem anderen Auftrag gesagt, wegen dem er uns verlassen müsse. Aber vielleicht war das auch nur ein Traum, ein anderer Traum. Wie soll ich das nach so vielen Jahren noch wissen?“

„Kann es sein, dass Vater psychisch krank war?“, fragte Aron. „Irgendein Leiden, von dem du nichts gewusst hast? Verfolgungswahn, Schizophrenie, oder so etwas Ähnliches.“

„Daran habe ich natürlich auch gedacht. Aber Gerhard war immer so ausgeglichen. Er war nie bedrückt oder besorgt, er war nur… - ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“ Mutter zögerte. „Ich kann es nur immer wieder sagen: Er war sehr klar, wenn du verstehst, was ich meine. Er wusste immer, was er sagt, er hat sich nie aufgeregt. Er war auch nicht launisch. So verhält sich doch kein psychisch kranker Mensch.“

„Keine Spur von Depressionen oder anderen Anzeichen für ein psychisches Leiden? Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, negatives Verhalten gegenüber anderen Menschen?“

„Überhaupt nicht! Er schlief immer sehr gut und an seinem Verhalten war nichts Negatives. Er war einfach, wie er war, und lebte das mit einer Selbstverständlichkeit, die ich manchmal fast unheimlich fand. Er konnte Dinge messerscharf beobachten. Er erkannte die wahren Absichten von anderen Menschen. Und er war der empathischste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Manchmal kam es mir vor, als sei er nicht von dieser Welt.“

„Dann war er ein guter Schauspieler“, erwiderte Aron. „Wäre er so mitfühlend gewesen, hätte er uns niemals verlassen!“

Mutter schwieg und Aron spürte, wie sich ihre Stimmung abermals veränderte. Vielleicht hätte er seine Gedanken besser für sich behalten.

„Du denkst also auch, dass er mich nicht mehr geliebt hat?“, fragte sie.

Aron nahm ihre Hand. „Nein, das denke ich nicht. Ich versuche nur zu verstehen, was damals geschehen ist.“

„Ja“, sagte Mutter bitter. „Natürlich versuchst du das zu verstehen. Ich versuche es seit 30 Jahren. Und du hast Recht. Wenn es kein natürlicher Herzstillstand war, der ihn uns genommen hat, dann muss ich davon ausgehen, dass er es mit mir nicht mehr ausgehalten hat.“

Aron dachte einen Moment über das Gesagte nach. Dann fragte er: „Warum hast du mir nie von Vaters letzten Worten erzählt?“

Mutter schaute auf und sah ihren Sohn empört an. „Hätte ich dir sagen sollen, dein Vater hat sich umgebracht? Wäre dir dein Leben dann leichter gefallen?“

„Nein, aber ich hätte dich besser verstanden. Du hast mich so gequält mit deinem Selbstmitleid. Ich habe dich gehasst dafür!“

„Ich wollte es dir erzählen, später. Aber dann war ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht doch nur geträumt hatte und Vater an einem Herzstillstand gestorben war.“

Aron schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Jetzt, da er die Geschehnisse jener Nacht wie einen Film vor seinem inneren Auge sehen konnte, wurde ihm klar, warum Mutter sich davon bis heute nicht erholt hatte.

„Ich muss mehr über Vater erfahren“, sagte er schließlich. „Vielleicht kann ich dann eine Antwort auf all die Fragen finden.“

Mutter schwieg und Aron schlug vor, einen Spaziergang durch den benachbarten Park zu machen. Die Dezembersonne stand tief und würde für ein schönes Licht zwischen den Bäumen sorgen.

Sie nahmen den Aufzug nach unten und sprachen über Belanglosigkeiten. Es war verblüffend, aber sobald Mutter mit den Gedanken in der Gegenwart war, wirkte sie deutlich älter. Sie hatte Schwierigkeiten, sich die Namen der anderen Heimbewohner und Schwestern zu merken. Mehrfach wirkte sie fast ein wenig verwirrt.

Aron schob Mutter die Rampe am Haupteingang hinunter und atmete tief durch. Die Luft war herrlich und die Sonne blinzelte durch die Bäume. Eine Weile gingen sie schweigend und lauschten dem Knirschen der Räder auf dem Kies. Dann kam Aron wieder auf Vater zu sprechen. „Kannst du dich an den Verkehrsunfall erinnern, den Vater ein paar Jahre vor seinem Tod hatte?“

Mutter dachte nach und schien plötzlich wieder zehn Jahre jünger zu sein. „Ja, ich erinnere mich. Die Ärzte haben sich zunächst große Sorgen um ihn gemacht, weil er schlimm aussah. Aber dann haben sich die Verletzungen als unkritisch erwiesen.“

„Ja, das habe ich in den Unterlagen gelesen. Die Ärzte waren verwirrt, wegen der schnellen Wundheilung.“

„Ja, sie waren so beeindruckt, dass sie Gerhard untersuchen wollten, aber er hat sich geweigert.“

„Warum hat er sich geweigert?“, fragte Aron.

„Er hat gesagt, er habe seinen Körper eben gut unter Kontrolle und die Untersuchung würde nichts bringen. Die Ärzte sollten lieber untersuchen, warum nicht bei allen Menschen der Körper so schnell verheilen würde. Das wäre für ihn interessant zu erfahren.“

„Sind seine Verletzungen denn wirklich so schnell verheilt? Vielleicht haben sich die Ärzte in der Klinik ja geirrt.“

Mutter sah ihren Sohn tadelnd an. „Die Ärzte haben sich nicht geirrt. Gerhard und ich haben damals viel über die Sache gesprochen. Er war ganz offen zu mir. Er schnitt sich extra mit einer Rasierklinge in den Finger und zeigte mir, wie sich die Wunde innerhalb von einer Stunde fast vollständig verschloss.“

Aron blieb stehen und schaute seine Mutter ungläubig an. „Das hat er wirklich getan?“

„Ja. Es war beeindruckend, aber auch nicht so sehr, dass ich Angst bekommen hätte.“

„Bist du der Sache nachgegangen?“, bohrte er weiter. „Hast du mal mit einem Arzt darüber gesprochen?“

„Als Gerhard die Untersuchung mehrfach verweigert hat, habe ich heimlich im Krankenhaus angerufen und gefragt, warum sie ihn untersuchen wollen. Sie haben gesagt, mein Mann habe so gute Heilungskräfte, wie sie es bisher nur bei ganz wenigen Patienten beobachtet hätten, und dass sie eine Ringuntersuchung mit diesen Patienten durchführen wollten. Mehr steckte wohl nicht dahinter. Das klang alles recht glaubwürdig, und als Gerhard dann mit dem Anwalt gedroht hat, haben sie aufgegeben.“

„Und du?“, fragte Aron. „Hast du keine weiteren Erklärungen von Vater verlangt?“

„Warum denn?“, sagte sie gelassen. „Er hat es mir doch erklärt. Was sollte er noch mehr tun? Und von dem Arzt wusste ich, dass es offensichtlich noch andere Menschen mit diesen Fähigkeiten gibt. Damit war die Sache für mich erledigt.“

Aron nickte und schwieg. Sie waren im Park bereits auf der dritten Runde und es fing schon an zu dämmern. In einer Stunde musste er am Bahnhof sein.

„Mutter, nach allem, was du mir erzählt hast und was ich den alten Unterlagen aus der Kiste entnehmen kann, glaube ich einfach nicht, dass Vater ein normaler Mensch war, der nur sehr viel Liebe geben und seinen Körper selbst heilen konnte. Mir scheint er vielmehr ein sehr außergewöhnlicher Mensch gewesen zu sein. Ein Mensch, der wahrscheinlich ein Geheimnis mit in den Tod genommen hat.“

„Ich habe immer gehofft, dass du das eines Tages sagen würdest“, erwiderte sie und blickte ihn über ihre Schulter hinweg an. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich du mich damit machst. Seit dreißig Jahren schwelt dieser Zweifel in mir. Er hat mein Leben bestimmt.“

„Bist du denn zu einem Schluss gekommen?“, fragte er und lenkte den Rollstuhl wieder in Richtung Haupthaus. „Hast du irgendeine Idee, was sein Geheimnis gewesen sein könnte?“

„Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist Gerhard an einem Herzstillstand gestorben, oder er hat es nicht mehr mit mir ausgehalten und sich deshalb das Leben genommen.“

„Glaubst du nicht, dass du dich etwas zu wichtig nimmst?“, fragte Aron. „Wenn er es wirklich nicht mehr mit dir ausgehalten hätte, dann wäre er zu Hause ausgezogen, so wie Millionen andere Väter auch, die ihre Familien verlassen. Wegen so etwas bringt sich doch kein Mann um.“

„Das habe ich mir ja auch immer eingeredet, aber ein Mann, der seine Familie liebt, bringt sich auch nicht um.“

„Es sei denn, er ist krank, todkrank oder psychisch krank.“

„Wenn er todkrank gewesen wäre, dann hätte er mit mir darüber gesprochen. Außerdem wäre das bei der Autopsie zum Vorschein gekommen. Und eine psychische Erkrankung hätte ich bemerkt.“

„Dann ist er eben doch an einem Herzstillstand gestorben“, sagte Aron gedankenverloren. „Aber komisch ist die Sache schon. Mir will nicht in den Kopf, warum er das Aktiendepot umgeschichtet hat.“

„Ach, Aron“, seufzte Mutter, „ich bin es inzwischen leid, darüber nachzudenken. Mein Leben ist gelebt und Gerhard kommt nicht wieder. Aber du hast mich heute glücklich gemacht. Dass du mir zuhörst und meine Zweifel verstehst, nimmt eine riesige Last von mir. Ich danke dir dafür.“

„Gerne, Mutter“, sagte er verlegen. „Ich bin selbst verwundert, dass ich mich früher nie für Vater interessiert habe.“

„Das brauchst du nicht. Es ist doch klar, so unglücklich und verzweifelt, wie ich gewesen bin. Du warst froh um jede Minute, die ich nicht wegen Gerhard gelitten habe. Bitte mach dir keine Vorwürfe.“

„Du bist also zu keinem abschließenden Urteil gekommen?“, versuchte er es noch einmal.

„Nein. Aber ich neige dazu, das zu glauben, was ich mir dreißig Jahre lang eingeredet habe: Gerhard ist an einem plötzlichen Herzstillstand gestorben. Das war auch die Meinung der Ärzte. Ich kenne mich inzwischen aber gut genug, um zu wissen, wie schnell die Zweifel zurückkommen werden.“

Sie hatten den Haupteingang erreicht. Aron begleitete seine Mutter noch in den Speisesaal, dann umarmten sie sich und er machte sich auf den Weg zum Taxistand.

Der Traum

Подняться наверх