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Medizinsoziologie

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Die Medizinsoziologie untersucht bzw. beobachtet Medizin als gesellschaftliches Phänomen. Sie befasst sich beschreibend mit dem Aufbau und der Funktion der Gesundheitsversorgung, mit dem Selbstverständnis und der Reichweite medizinischen Handelns und mit geschichtlichen (zeitlich) und regionalen bzw. internationalen Unterschieden (horizontal). Hinzu kommen die Untersuchung und Beschreibung gesellschaftlicher Einflüsse auf Gesundheit bzw. Krankheit und deren Deutung. Und nicht zuletzt die Untersuchung sogenannter sozialer Interaktionen – der Umgang zwischen Ärztinnen, Patienten, Pflegekräften, Medizin-/Gesundheitsfachkräften und anderen involvierten Personen; die Vorstellungen, Wünsche und Ängste der Menschen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, allgemein der Umgang der Gesellschaft mit Krankheit, Sterben und Tod.

Die Medizinsoziologie geht gleitend über in weitere Spezialsoziologien, vor allem die Religionssoziologie, Wissenssoziologie, Organisationssoziologie oder die Sozialstrukturanalyse. Ob Gesundheitssoziologie etwas anderes als Medizinsoziologie ist, wird weiter unten diskutiert. Aus der soziologischen Systemtheorie kommt der Begriff »Soziologie der organisierten Krankenbehandlung«,9 der die gesellschaftliche Verschränkung des Gesundheitswesens und die Wandelbarkeit von Krankheitsdefinitionen noch stärker betont und den Umgang mit Kranken und Krankheit als kulturelle Praxis analysiert.

Ist Krankheit oder Gesundheit Gegenstand der Medizin? Lange Zeit war es selbstverständlich die Krankheit. Die wachsende Fokussierung auf Gesundheit statt Krankheit seit den 1970er Jahren ist Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen – hier z. B. wachsender Individualisierung. Gesundheitssoziologie hat den Anspruch, über die Behandlung von Krankheit oder Kranken hinaus zu blicken; Medizinsoziologie betrachtet hingegen Gesundheitssoziologie als Teildisziplin mit speziellem Fokus – so auch dieses Buch. Tatsächlich gibt es kein Entweder-Oder von Gesundheit und Krankheit, da keiner der Begriffe ohne sein Gegenstück einen Informationswert hat. In der Öffentlichkeitsarbeit von Politik und Wirtschaft werden positiv klingende Begriffe bevorzugt, was auch andere Bereiche infiziert, die sie sich auf die Sprech- und Denkweisen des modernen Marketing einlassen. Positiv denken, positiv reden und damit dann eben über Gesundheit und nicht über Krankheit, außer man möchte jemandem Angst einjagen. Niklas Luhmann war dagegen der Überzeugung, dass für die Medizin als gesellschaftlichem Subsystem alleine Krankheit instruktiv sei, weil Gesundheit nicht klar bestimmbar sei, sondern eher eine Art Hintergrundrauschen von Krankheit.10 Unterschiedliche Teilbereiche und Disziplinen setzen unterschiedliche Schwerpunkte und es ist vielleicht die beste Strategie, hier flexibel zu bleiben und nicht bestimmte Begriffe vorschnell zu tabuisieren.

Die Medizin umfasst sowohl einen wissenschaftlichen Bereich als auch einen Bereich angewandten professionellen Handelns, in einem gewissen Sinne ist sie damit auch ein Kunsthandwerk (ähnlich den Erziehungswissenschaften). Jede Wissenschaft reflektiert ihren Gegenstand, d. h., sie versucht zu umreißen, womit sie sich befasst, was zu ihrem Gebiet gehört und was nicht. Der Gegenstand wird aber nicht mit Gründung einer Wissenschaft quasi per Beschluss festgelegt, sondern hat sich oft in einem langen (manchmal jahrhundertelangen) Entwicklungsprozess herausgebildet. Solche Entwicklungen können evolutionär erfolgen, sie unterliegen zufälligen Einflüssen und haben kein bestimmtes Ziel; sie sind kontingent11 – es ist gekommen, wie es gekommen ist, es hätte aber auch anders kommen können.

Medizin und Gesellschaft

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