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1.3.2 Krankheit
ОглавлениеGegenstand der Medizin war zuerst Krankheit, nach Ansicht der soziologischen Systemtheorie hat sich das auch nicht geändert. Es gibt zwei grundlegende Krankheitskonzepte. Das eine – eher moderne – Konzept ist das der Funktionsstörung. Es gibt einen Normalzustand des biologischen Organismus, der bei Bedarf nach bestimmten äußeren Umständen unterschiedlich gewichtet werden kann, und Krankheit ist eine schädliche oder gefährliche Abweichung davon. Das andere Konzept ist das der gestörten Harmonie. Es gibt verschiedene Prinzipien, Kräfte, Energien oder Beziehungen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, und Heilung besteht in der Wiederherstellung der Harmonie (Yin und Yang, vier Säfte, die Beziehung zu Gott oder anderen übernatürlichen Mächten, der Einklang mit der Natur bzw. dem Kosmos). Diese beiden Prinzipien sind sich recht ähnlich und die Unterschiede bestehen eher in den Details der Ausgestaltung. Die Wiederherstellung von Normalität ist anschlussfähiger für die moderne Wissenschaft und Technik, die Harmonie für Religion und Romantik, aber auch das ist nicht zwingend, wie in Kapitel 6.8.2 gezeigt wird ( Kap. 6.8.2).
Vermutlich war die Behandlung von Krankheit und Kranken aber zuerst ein religiöses Problem – im Zuge einer Religionsauffassung, wonach Religion der Versuch ist, mit unverständlichen bzw. unheimlichen Phänomenen umzugehen (aktiv als Einflussnahme oder passiv als Bewältigung/Integration). Die religiöse Deutung und Bearbeitung von Krankheit gibt es bis heute, aber sie ist weit an den Rand gerückt bzw. nur noch für gesellschaftliche Milieus bedeutsam, die eine besondere Religiosität pflegen. Heil und Heilung sind eng verwandt, und der Begriff der Heilung ist in Medizin und Religion gleichermaßen wichtig, wenn auch mit unterschiedlicher Bedeutung bzw. Reichweite. Die medizinische Heilung ist enger gefasst und kann konkret schon darin bestehen, dass eine DRG19-Einheit abgearbeitet, erfasst und abgerechnet ist. Medizin als Handwerk, Profession und schließlich Wissenschaft entsteht mit der Erkenntnis, dass man durch menschliches Handeln auf Krankheitsverläufe Einfluss nehmen kann und darf.20
Ein Blick in die Medizingeschichte zeigt, dass dies je nach Situation mehr oder weniger hilfreich war; man denke an alte Praktiken wie den Aderlass, oder an die Arzneiverwendung nach heuristischen Grundprinzipien wie dem Analogieprinzip (Walnüsse sind gut fürs Gehirn, rote Beeren sind gut fürs Blut, Nashorn als Potenzmittel) oder – im Gegenteil dazu – dem Simileprinzip, das bis heute in der Homöopathie Verwendung findet (Gleiches wird mit Gleichem behandelt – Fieber mit Wärme, eine allergische Reaktion mit dem Allergen).21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Punkt erreicht, an dem medizinische Behandlung insgesamt mehr nutzte als schadete und man mit grundsätzlich positiver Erwartung bzw. Aussicht zum Arzt gehen konnte. Talcott Parsons betont, dass erst im 19. Jahrhundert der wissenschaftliche Stand der griechisch-römischen Antike wieder erreicht war.22 Gleichwohl bleibt auch heutzutage im Einzelfall ein Unsicherheitsbereich – es gibt immer noch unheilbare Krankheiten und unangemessene, überflüssige oder schädliche Behandlungen, aber die Grenze hat sich weit in den positiven Bereich verschoben.
Für eine soziologische Betrachtung ist der Bereich der Pathologien und Dysfunktionen von größerem Interesse. Es soll hier aber nicht vorrangig darum gehen, die moderne Medizin schlecht zu reden, sondern sie als soziokulturelles Phänomen im Rahmen der Gesamtgesellschaft zu analysieren. Konflikte und Probleme haben schlichtweg einen höheren Informationsgehalt – wenn alles läuft und nichts klemmt, gibt es wenig zu bereden. Krankheit liegt vor, wenn Körper und Psyche des Menschen nicht so funktionieren, wie sie sollen, was eine Vorstellung vom Sollzustand erfordert. Dies kann ein Ideal sein oder schlicht die Normalität, der Mittelwert, das Gewöhnliche. Viele Kontroversen um Krankheit und Krankheitsmodelle drehen sich um abweichende Normalvorstellungen, Missverständnisse oder auch absichtliche Unterstellungen. Erschwerend kommt eine mehrdeutige Verwendung des Attributs krank in der Alltagssprache hinzu. Neben dem nüchtern-medizinischen Aspekt transportiert es noch eine ästhetische und moralische Missbilligung bis hin zur totalen Ablehnung. Krank kann auch – ohne medizinischen Bezug – abartig, widerwärtig und verdorben bedeuten, und der Umgang mit Krankheit hängt stark vom Ausmaß dieser moralischen Beigabe ab: Ob das Kranke (als vom Menschen Abgrenzbares) bzw. der Kranke geheilt werden soll oder ob es bzw. er als gefährlich, infektiös, minderwertig und schädlich separiert oder gar ausgemerzt werden soll. Die Unterscheidung von Organismus und Krankheitserreger durch die Entdeckung der Mikroben brachte auch eine moralische Entlastung der Kranken mit sich. Heutige Bestrebungen nach Ganzheitlichkeit muten zunächst harmonisch, fast schon romantisch an. Sie sollten aber mit Vorsicht behandelt werden, denn man kann sich mit der ganzheitlichen Heilung auch die ganzheitliche Krankheit einfangen – eine weniger sympathische Vorstellung. Das viel kritisierte klassische mechanistische Modell von Krankheit als einem Defekt der Körpermaschine, der repariert werden muss und kann, hat seine Vorzüge und reicht für viele Anwendungsfälle aus.