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Vulnerabilitäts-Stress-Modell
ОглавлениеDas Vulnerabilitäts-Stress-Modell bezieht sich u. a. auf die psychologischen Stresstheorien von Selye, Lazarus oder Jerusalem, die ab den 1960er Jahren entwickelt wurden.37 Das biomedizinische Krankheitsmodell wird erweitert, um zu erklären, weshalb manche Menschen unter ähnlichen äußeren Umständen krank werden, andere aber nicht. Vulnerabilität heißt übersetzt Verletzlichkeit, und zwar in Form einer individuell unterschiedlichen Anfälligkeit gegenüber Stress und Stressursachen (Stressoren). Vulnerabilität kann genetisch, organisch, psychologisch oder sozial verankert sein. Ein Mensch mit höherer Vulnerabilität hat ein größeres Risiko, infolge von Stress krank zu werden. Es geht dabei um Wahrscheinlichkeitswerte, die sich auf Populationen38 beziehen; für das einzelne Subjekt kann keine sichere Voraussage gemacht werden. Beispiele für Vulnerabilität wären
• ein genetischer Defekt, der die Entstehung bestimmter Krebserkrankungen begünstigt
• eine psychosozial nachteilige Herkunftsfamilie (z. B. Elternteile, die jähzornig, alkoholabhängig oder abweisend sind)
• eine Phase unzureichender Ernährung während eines Krieges oder einer Wirtschaftskrise
• allgemein schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Stress ist für das Modell sehr allgemein gefasst – im Prinzip jeder äußere Einfluss, der den Organismus oder die Psyche belastet. Im Alltagsverständnis denkt man bei Stress meist an schädliche Umweltreize wie Lärm oder Schadstoffe oder an soziale Konflikte. Stressoren können aber auch Mikroben sein, die den Organismus attackieren. In manchen Stresstheorien wird zwischen positivem und negativem Stress unterschieden, in anderen wird der Stressreiz vom Subjekt durch Attribution (Zuschreibung einer Bewertung) positiv oder negativ interpretiert. Mehrheitlich geht man heute davon aus, dass länger andauernder Stress grundsätzlich schädliche Folgen nach sich zieht.
Abb. 5: Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Die Doppelpfeile in der Darstellung ( Abb. 5) symbolisieren Rückkopplungsprozesse. Einige – nicht alle – Risikofaktoren sind nicht fix und können durch die Stressreaktion und ihre Folgen nachträglich verstärkt oder abgeschwächt werden. Ebenso können sich manche Risikofaktoren gegenseitig beeinflussen. So kann eine ungünstige Familienkonstellation eine ungünstige psychische Verfassung des Kindes hervorbringen, die dann wiederum die Probleme in der Familie verschärft. Anders herum kann ein förderliches soziales Umfeld zur Entschärfung eines genetischen Risikofaktors führen – im einfachsten Fall dadurch, dass in einem wohlhabenden Milieu eine gute Gesundheitsversorgung eine Diagnose des Gendefekts und entsprechende Früherkennungsuntersuchungen ermöglicht.