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Enhancement

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Neben ästhetisch-kosmetischen Behandlungen steht der Bereich des Enhancement. Enhancement ist die Verbesserung bzw. Erweiterung der Fähigkeiten des menschlichen Körpers. Enhancement kann selbstverständlich wiederum ästhetische Aspekte haben, der Schwerpunkt liegt aber in der Sport- und Arbeitsmedizin bzw. im militärischen Bereich. Auch hier ist der medizinische Charakter in einer kurativen bzw. restaurativen Anwendung begründet, reicht aber weit darüber hinaus. Kurativ bzw. restaurativ wäre die Vermeidung und Behandlung von Sportverletzungen oder chronischen Trainingsfolgen wie Gelenkverschleiß. Eine Erweiterung ist bereits die Begleitung des Leistungssports, der an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit und damit auch an die Grenzen eines gesunden Körpereinsatzes geht. Die nächste Stufe liegt in der gezielten Leistungssteigerung, für die ab einem gewissen Punkt der sportliche Erfolg höher gewichtet wird als die Gesundheit des Sportlers oder der Sportlerin.58 Eine Nachfrage nach Leistungssteigerung, um im Wettbewerb bestehen zu können, findet sich ebenso in der Arbeitswelt, im Bildungsbereich und im Militär.

Aus soziologischer Sicht sind hier zwei Aspekte besonders wichtig: Erstens gibt es keine klare Grenze zwischen Gesundheitserhaltung, Fitnesssteigerung und Enhancement bis hin zu moralisch und oder rechtlich sanktioniertem Doping. Grenzziehungen müssen daher gesellschaftlich ausgehandelt oder verschleiert werden. Zweitens ist keine nachweisbare Wirksamkeit der jeweiligen Verfahren erforderlich, manchmal ist sie auch gar nicht möglich. Es kann genügen, wenn man z. B. durch die Einnahme einer Tablette das Gefühl hat, sich besser konzentrieren zu können. Das einzelne Subjekt hat keine Möglichkeit, einen etwaigen pharmazeutischen Effekt vom Placeboeffekt zu unterscheiden. Viele medizinische Handlungen greifen in den Bereich der Techno-Esoterik und wirken (vermutlich oder belegt) alleine oder überwiegend durch ihre technisch-wissenschaftlich-operative Anmutung und das damit kommunizierte Vertrauen in ihre Wirkmächtigkeit. Nicht zuletzt könnte man dem Enhancement auch die Versuche zuordnen, das Altern des Organismus zu verlangsamen oder aufzuhalten. Dieses Thema ist besonders interessant, da mit dem Alter die Zahl der Krankheiten bzw. Beeinträchtigungen und Behinderungen zunimmt und viele Begleiterscheinungen des Altersprozesses Erkrankungen ähneln. Die Frage, ob das Altern per se Krankheitscharakter hat, ist ein klassischer Streitpunkt, in den oft das schwammige philosophische Konzept der Natürlichkeit miteinbezogen wird. Die Begründung lautet dann, dass Altern natürlich und damit keine Krankheit sei. Allerdings ist die Markierung eines Sachverhaltes als natürlich willkürlich, bereits innerhalb der Medizin. So werden Krankheiten als natürliche Todesursachen von gewaltsamen Einwirkungen wie Unfall oder Totschlag abgegrenzt; die Abgrenzung des reinen Alterns wäre dann eher an seiner Universalität zu verankern – ausnahmslos jeder komplexere biologische Organismus ist ihm unterworfen. Jedenfalls ist auch die Beschäftigung mit den biologischen Grundlagen des Alterns und die Bearbeitung seiner Begleiterscheinungen ein Feld der Biomedizin.59

Interessant ist auch die Einordnung von Geschlechtsumwandlungen oder Geschlechtsangleichungen. Geschlechtsangleichung meint dabei die Anpassung der sichtbaren Genitalien an das chromosomale Geschlecht, meist noch beim Kleinkind. Das chromosomale Geschlecht gilt dabei als das ›tatsächliche‹ Geschlecht und die Angleichung soll die kulturell vorgegebene binäre Eindeutigkeit (Mann oder Frau und nichts dazwischen) sicherstellen. An Bedeutung gewonnen hat die Praxis der Geschlechtsumwandlung, die den Körper an eine gegenläufige Geschlechtsidentität als Persönlichkeitsmerkmal anpassen soll. Jemand fühlt sich z. B. als Frau, hat aber den Körper eines Mannes und lässt diesen durch hormonelle und chirurgische Eingriffe an einen weiblichen Körper annähern.60 Je nach soziokultureller bzw. moralischer Bewertung kann die Wahrnehmung einer Diskrepanz von Geschlechtsidentität und biologischem Körper auch dem Feld der körperdysmorphen Störungen zugeordnet werden; andererseits könnte eine solche Zuordnung dann als Pathologisierung bzw. Psychiatrisierung sexueller Abweichung missbilligt werden.

Quasi das Gegenteil von Enhancement ist das gezielte Schädigen des menschlichen Körpers im Zuge von Hinrichtungen, Folter oder Körperstrafen (z. B. die Amputation von Gliedmaßen). Vermutlich fanden und finden solche Praktiken unter Mitwirkung (oder zumindest Konsultation) von Ärztinnen und Psychologen statt, zur Sicherstellung und Steigerung ihrer Effektivität oder zur Kontrolle ihrer Auswirkungen.

Ein weiterer Sonderbereich sind Veränderungen des Körpers aus religiösen oder anderen kulturellen Gründen wie z. B. die Beschneidung von Genitalien im Auftrag einer Gottheit oder – seltener – anderweitige Beschneidungen, Tätowierungen o. ä. im Rahmen von Initiationsriten.61 Dieser Bereich soll hier nicht weiter vertieft werden, zumal solche Eingriffe meist von nichtmedizinischem Personal durchgeführt werden62. Inwieweit Ärztinnen und Ärzte sich an Beschneidungen beteiligen dürfen, wird immer wieder diskutiert, vor dem Hintergrund eines schwer entwirrbaren Geflechts aus medizinischen, politischen, apologetischen und religionskritischen Argumenten.63 Ein Lösungsweg wäre die Konstruktion einer medizinischen Indikation zur Maskierung des religiös-sexualmoralisch-kulturell-politischen Hintergrunds. So kann man hygienische Gründe anführen und versuchen, dadurch Un- oder Andersgläubige zu überzeugen oder zumindest zu beruhigen. Auf jeden Fall kommt die Medizin spätestens dann ins Spiel, wenn derartige Eingriffe zu Komplikationen führen, die ärztlich behandelt werden müssen.

Möchte man diese Bereiche in den Geltungsbereich der Biomedizin mit einbeziehen, kann man Humanmedizin definieren als eine Profession, die sich mit den Funktionen des menschlichen Organismus befasst und Eingriffe in diesen vornimmt, in der Regel mit dem Ziel einer Beseitigung oder Verhinderung von Funktionsstörungen bzw. einer Anpassung an soziokulturelle Erfordernisse. Die Medizin zur organisierten Krankenbehandlung, Prävention und Salutogenese deckt davon nur einen Teilbereich ab, wenn auch den bedeutendsten. Der biomedizinische Fokus lässt sich dann wiederum erweitern durch Berücksichtigung der sozialen Umwelt des medizinischen Handelns, wodurch man zur Sozialmedizin und den Gesundheitswissenschaften gelangt.

1 Zur Einführung z. B. Bauer in Morel 1995: 8–13.

2 Mathe ordnet sie dort z. B. ein (Mathe 2005: 30); für Akteurtheorien besteht die Gesellschaft aus Menschen, für die Systemtheorie sind Menschen ihre Umwelt.

3 Nach Luhmann gibt es aufgrund der umfassenden Kommunikationsmöglichkeiten durch die Massenmedien im Wesentlichen nur noch eine Gesellschaft, die er als »das umfassende Sozialsystem« (Luhmann 1997: 145) bestimmt. Im Alltagsgebrauch wird Gesellschaft oft auf einzelne Staaten bezogen: Die deutsche, schweizerische oder österreichische Gesellschaft.

4 Manchmal auch als Strukturwissenschaften eingeordnet – in der Regel Mathematik, Logik (als Teil der Philosophie), Informatik und allgemeine Systemtheorie.

5 Eckart 2013: 147, 222–223.

6 Im alternativmedizinischen Umfeld wiederum abwertend gemeint.

7 Vgl. Parsons 1952: 432.

8 Vgl. Eckart 2013: 217 ff.; Hehlmann et al. 2018: 19 ff.

9 Saake/Vogd 2008 und Vogd 2011.

10 Luhmann 1990/2009: 176–188; vgl. Vogd 2011: 71–76.

11 Die Systemtheorie spricht von Kontingenz: Etwas muss nicht zwangsläufig so sein, wie es ist, es hätte auch anders kommen können. Damit wird keine Beliebigkeit behauptet, die Alternativen können bei entsprechenden Umweltbedingungen ähnlich sein. Ein Beispiel aus der Biologie ist die Entwicklung des Auges, die mehrmals im Tierreich unabhängig voneinander erfolgte. Gegenkonzepte sind Schicksal und Bestimmung oder strikte kausale Determinationen (aus A folgt zwangsläufig B).

12 Z. B. bei Mathe 2005: 30 ff.

13 Außer Acht gelassen werden hier Pflanzen, die als biologische Organismen ebenfalls krank werden und medizinisch behandelt werden können.

14 Hier sei betont, dass es hierzu in den vielen Theologien unterschiedliche Positionen gibt. Eine hervorgehobene Stellung des Menschen entspricht z. B. dem konservativen christlichen oder muslimischen Mainstream, der Status der Tiere wurde aber seit der Antike immer wieder diskutiert.

15 Vgl. Sommer 2008: 29–32.

16 Sorgfältig ausgearbeitet z. B. bei Singer 1994 (1979).

17 Vgl. Eckart 2013: 162–163; Baxby 1996. Entscheidend ist hier nicht der Menschenversuch, der bis heute üblich ist, sondern die mangelnde Aufklärung und Freiwilligkeit der Probanden. Ob Jenner den Jungen oder seine Eltern gefragt hatte, ist nicht bekannt; außerdem wurden – und werden – Erfolge eher berichtet als Fehlschläge.

18 Für einen Überblick die Homepage des National Center for Biotechnology Information: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=human+microbiome+project.

19 Diagnosebezogene Fallgruppe, Kap. 4.8.

20 Vgl. Parsons 1952: 431.

21 Im Einzelfall lassen sich evidente Behandlungen diesen Prinzipien zuweisen; die Schädlichkeit liegt in ihrer pauschalen Anwendung.

22 »It may also be noted, that scientific advance beyond the level to which the Greeks brought it is, in the medical field, a recent phenomenon, as a broad cultural stream not much more than a century old.« (Parsons 1951: 432).

23 Präambel der Verfassung der WHO, wie sie von der konstituierenden Sitzung der WHO im Sommer 1946 beschlossen wurde und am 07.04.1948 in Kraft trat. Abrufbar unter: https://www.who.int/about/who-we-are/constitution (übersetzt: Gesundheit ist der Status eines vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen).

24 Vgl. Hurrelmann 2013: 117–119; Hehlmann et al. 2018: 53–60; Eibach in Klein et al. 2011: 125.

25 Ausführlich bei Berghaus 2011: 52–53, 98–103.

26 Pelikan 2009: 31–33.

27 Hehlmann et al. 2018.

28 Eine Ausnahme ist Vogds »Soziologie der organisierten Krankenbehandlung« (2011).

29 Die zentrale Operation in der Systemtheorie, die Luhmann von George Spencer Brown übernommen hat, vgl. Luhmann 1991: 23 oder Luhmann 1996: 24 ff.

30 Abweichendes Verhalten – Kriminalität oder anderweitige Normabweichungen.

31 Wann wird eine Abweichung vom Normalen zur Behinderung? Eine umfassende soziologische Einführung bietet Kastl 2017.

32 Vgl. Siegrist 2005: 25–26; Mathe 2005: 100.

33 Die entsprechende Konflikttabelle kann man als Übung mit eigenen Beispielen selbst erstellen.

34 Vgl. Kögel 2016: 82–86.

35 Ganz im Sinne von Max Webers klassischer Definition der Soziologie als »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1921: 19).

36 Vgl. Hurrelmann 2013: 114. Hurrelmann zitiert eine ältere Definition, wonach das biomedizinische Modell davon ausgehen würde, dass sich »jede Krankheit« ohne medizinische Intervention stets verschlimmert. Das ist wohl eine Unterstellung, um die Angreifbarkeit des Modells zu erleichtern.

37 Ausführlich z. B. Schwarzer 2000; vgl. Siegrist 2005: 83–84 und Hurrelmann 2013: 102 ff.

38 Alle Menschen oder Untergruppen – Frauen, Männer, Kinder, Erwachsene in Industrieländern, Dorfbewohner im Hochgebirge, Pflegekräfte usw.

39 Antonovsky 1979.

40 »[E]ase/dis-ease [sic] continuum rather than the health-disease dichotomy« (ebd.: 56).

41 »The sense of coherence is a global orientation that expresses the extent to which one has a pervasive, enduring though dynamic feeling of confidence that one’s internal and external environments are predictable and that there is a high probability that things will work out as well as can reasonably expected« (ebd.: 123).

42 Vgl. Schwarzer 1993: 46–48.

43 Sense of Coherence Questionnaire, Antonovsky 1987; vor allem 16–19 und Anhang, Deutsche Variante von Singer/Brähler 2007.

44 Antonovsky 1979: 182 ff.

45 Hurrelmann/Richter 2013: 122.

46 Ebd.: 126.

47 Eine zentrale Erkenntnis von David Hume 1777/2006: 82 ff. (vgl. diverse Einführungen in die Wissenschaftstheorie, z. B. Carrier 2006; für die Soziologie u. a. Kelle 2008).

48 Luhmann 1968: 60 ff.

49 Antonovsky selbst äußert sich nicht in diese Richtung.

50 Vgl. Klein/Berth/Balck 2011: 189 ff. oder 259 ff.

51 Peer Groups; vgl. Baumgart 2008: 81–87 oder Zimmermann 2006: 162–164.

52 Vgl. Hurrelmann 2013: 131–133 und Hurrelmann 2002: 35–39.

53 Vogd 2011: 15.

54 Ebd.: 9 f.

55 Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin.

56 Thieme zeigt, dass deutsche Olympiateilnehmer von 1956–2016 eine höhere Mortalität haben als die Vergleichsbevölkerung, Thieme 2020: 280–296.

57 Laut Bundesrechnungshof: Prüfungsmitteilung »Leistungen für Kieferorthopädie«.

58 Ausführlich dazu Bette/Schimank 2006 – ihre sportsoziologische Studie ist nach nunmehr15 Jahren immer noch aktuell.

59 Eine moderne Steigerung von Enhancement ist der Transhumanismus. Es ist das erklärte Ziel seiner Protagonisten (u. a. Ray Kurzweil), die Beschränkungen des biologischen Organismus zu überwinden und am Ende unsterblich zu werden, z. B. durch Hochladen des Bewusstseins in ein Computernetzwerk. Hier treffen sich Medizin, Science-Fiction, Religion, Geschäftemacherei und Allmachtsphantasien.

60 Diese Praxis stabilisiert wiederum die Vorstellung einer strikten Zweigeschlechtlichkeit: Es gibt ein wahres Geschlecht, das sich im falschen Körper befindet.

61 Nicht zu vergessen die Kastration von Knaben, um ihre Stimme zu bewahren.

62 Die Praxis der kastrierten Sänger hatte übrigens einen religiösen Ursprung, nämlich das Verbot, Frauen im Gottesdienst singen zu lassen, abgeleitet aus 1 Kor 14,34.

63 Z. B. ein Pro & Contra im Deutschen Ärzteblatt 2012; 109: 31 f.

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